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„Du hattest einen Filmriss, eine Art Blackout – das hast du mir doch selbst erzählt! Oben auf dem Dach. Weil irgendwas in dem Joint war, richtig? Vielleicht weißt du einfach selbst nicht mehr, was genau passiert ist, Sarah!“
Sarah saß mit Lou in einem winzigen dreieckigen Park in Downtown. Sie waren auf dem Weg zu einem Anwalt, den Lous Chefin Judy ihnen als einen zuverlässigen Mann empfohlen hatte. Für einen Moment war Sarah flau geworden und sie hatten in dem kleinen Park kurz Rast gemacht.
Taxis, Lastwagen, Sirenen. Ein nie abreißender Strom von Passanten. Manhattan. Der Verkehr wirbelte um sie herum. Es hatte etwas Bedrohliches. Lou hatte auf der Parkbank Platz genommen, so dass er neben ihr saß, legte einen Arm auf die Rücklehne des Rollstuhls, und sah sie an.
„Hör zu, Sarah, keine Geheimnisse mehr. Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist mir egal. Ob du Ken dort oben … etwas angetan hast oder nicht, wir lassen all das hinter uns.“
Sie fühlte seinen trockenen Griff um ihre Finger.
‚Ob du Ken dort oben … etwas angetan hast oder nicht, wir lassen all das hinter uns.‘
Ihr Kopf hob sich ein wenig und sie blinzelte, denn die Sonne fiel durch die Straßenschlucht genau auf ihr Gesicht. „Hältst du es für möglich, dass ich es war, Lou? Glaubst du, ich könnte so etwas tun?“ Da war es wieder. Dieses Gefühl von Schwindel, als würde sich der Boden, auf dem ihr Stuhl stand, ganz leicht bewegen.
„Was? Nein! Natürlich nicht. Ich sage doch nur: All das lassen wir hinter uns. Wir fangen ganz von vorn an. Jetzt. Hier. Heute! Endlich.“ Seine Augen glänzten. „Es war ein Fehler. Was geschehen ist, war falsch, Sarah. Du bist mit Kenneth zusammen gewesen, weil ich mit Cybill zusammen gewesen bin. Und ich bin es mit ihr gewesen, weil sie es darauf angelegt hat. Es war ein Fehler, wir haben etwas falsch gemacht, aber wir dürfen jetzt nicht aufgeben.“
Seine Hände hatten ihr immer gefallen. Sie waren kräftig und in ihren Augen irgendwie vertrauenerweckend. Sie hörte ihm zu, während sie auf seine Hand sah. Sie wollte, dass er weitersprach.
„Wir haben endlich alles erreicht, was wir wollten, Sarah“, sagte er. „Ich habe eine gute Arbeit, wie wohnen in einem schönen Haus, du bist gesund, ich bin gesund, wir wollen Kinder haben. Wir werden sie bekommen. Wir werden das Leben, von dem wir träumen, Wirklichkeit werden lassen. Es ist zum Greifen nah. Wir dürfen jetzt nicht den Mut verlieren. Wenn wir das, was jetzt vor uns liegt, ausschlagen – ich weiß, dass ich dann niemals glücklich werden werde. Und du, fürchte ich, auch nicht.“
„Cybill muss es gewesen sein“, stieß sie abrupt hervor, „deshalb hat sie die Verabredung mit mir getroffen. Ich brauche dich als Unterstützung, Lou. Cunningham gibt nicht auf. Wer weiß, vielleicht will er lieber mich als Cybill überführen. Er lässt mich nicht vom Haken. Ich schaffe das nicht. Ich brauche … “, sie schluckte, „ich brauche die Sicherheit, dass du an mich glaubst, Lou.“
Die Tränen rannen ihr übers Gesicht und sie sah, wie ein Passant ihnen einen Blick zuwarf, als müsste er überlegen, ob er sich einmischen sollte. Sie wandte den Kopf ab und wischte mit beiden Händen über ihre Wangen. Sie fühlte sich wie ein Kind, das völlig den Boden unter den Füßen verlor.
„Sarah, hör zu“, sein Zeigefinger berührte ihr Kinn und er drehte ihr Gesicht seinem zu. „Ich kenne dich, ich bin dein Mann. Für mich ist es ausgeschlossen, dass du mit Halberstams Tod etwas zu tun hast. Es sei denn, du zweifelst selbst an dir. Hörst du?“
Was?
Sie presste beide Hände auf ihre Augen. ‚Es sei denn, du zweifelst selbst an dir.‘ Das tue ich nicht. In dieser Nacht – es ist ein Schlieren – es sind Splitter. Aber das Messer – NEIN, das … das gaukelt mir mein Geist vor,
ich habe diese Klinge nicht in seinen Hals getrieben!
„Tust du das? Zweifelst du an dir?“
„Nein … nein … NEIN … nein.“
„Denn wenn du das tust, dann ist es vielleicht besser, wir suchen uns Hilfe. Meinst du nicht?“
Es war Schwarz mit roten Punkten, was sie vor Augen hatte, die Finger noch immer fest auf die Augäpfel gepresst.
„Wenn wir neu anfangen wollen – wir brauchen dafür Klarheit, Sarah. Wir können nicht neu anfangen und zugleich in jedem Augenblick fürchten, es könnte herauskommen, dass du Ken ermordet hast. Stell dir vor, unsere Kinder erfahren plötzlich – “
„Aber das werden sie nicht!“, schrie sie.
„Gut!“ Er sah sich um. Auf der anderen Straßenseite waren wieder zwei Frauen stehen geblieben und schauten zu ihnen. Sarah hob die Hand und winkte ihnen zu. „Alles in Ordnung. Danke!“
„Gut“, hörte sie Lou neben sich noch einmal sagen. „Okay. Gut.“
Und dann hatte sie es vor Augen. Das Messer. In ihrer Hand. Das Blut. Das Gefühl des Blutes zwischen ihren Fingern. Der Geruch nach Eisen.
„Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Lou.“ Sie lehnte sich an ihn und fühlte, wie er den Arm um sie legte. „Je mehr wir darüber reden, je mehr ich darüber nachdenke, desto unsicherer werde ich. Aber dann sage ich mir: Es kann nur Cybill gewesen sein.“
„Naja, gewesen sein können kann es … keine Ahnung. Du kannst es gewesen sein. Dieser Bradley – ich – “
Sie fühlte einen plötzlichen Kicher-Impuls in sich aufsteigen. „Du? Du warst doch im Krankenhaus in der Nacht!“
„Ach so, richtig. Beziehungsweise … genau genommen bin ich in der Nacht aufgestanden und ein bisschen draußen rumgelaufen.“
Sie lag an seiner Brust. Sah in den Verkehr, der an ihnen vorbeifloss. Ja, gut.
„Das haben Cunningham und Mendez auch schon festgestellt. Deshalb“, hörte sie Lou fortfahren, „erzähl ich es dir lieber gleich. Nicht, dass du später davon erfährst und wer weiß was daraus machst.“
„Hm.“ Sie hatte den Eindruck, fast einschlafen zu wollen.
„Also.“ Er schob den Kopf etwas nach vorn, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Neuanfang?“
„Du warst in der Nacht nicht in deinem Krankenhauszimmer?“
„Hab ich doch gerade gesagt.“
Ja … ja. Neuanfang. Krankenhauszimmer.
„Hast du mir zugehört?“
„Ja, natürlich. Du warst in der Nacht unterwegs. Wo denn? Einfach so rumgelaufen?“
Sein Gesicht verzog sich etwas. „Versteh doch mal endlich. Ich war schon wie lange in diesem furchtbaren Krankenhaus? Das ist nicht auszuhalten. Die Ärzte hatten gesagt, ich könne aufstehen. Also dachte ich, ich spaziere draußen ein bisschen herum, komme auf andere Gedanken als Blutdruck, Bakterien und Krankenhausansteckungsgefahr.“
Warst du bei den Häusern Lou? Bei uns – auf dem Dach?
Sie sah ihn an und suchte in seinem Blick. Aber ebenso wie sie gerade noch gedacht hatte, sie würden sich wirklich ansehen, schien es ihr jetzt, als hätte Lou sich aus seinem Blick gestohlen. Als schauten sie nur noch zwei künstliche Augen an.
Warst du es?
Es war das erste Mal, dass der Gedanke ihr kam, und es fühlte sich an, als würde alles, was sie bisher gedacht hatte, von dieser Eingebung fortgespült.
Lou.
„Weil er mit mir geschlafen hat?“
„Was?“ Er schüttelte den Kopf.
„Weil Ken mit mir geschlafen hat, hast du ihn getötet?“
Lous Augen verengten sich, und sie sah, wie er grinste. „Meinst du wirklich?“
Aber bevor sie antworten konnte, war das Klingeln seines Handys zu hören. Er griff in die Tasche seiner Jacke und holte es hervor. Warf einen Blick aufs Display. Nahm den Anruf an. „Judy?“ Er setzte sich ein wenig aufrechter hin.
Sarah schaute ihm dabei zu, wie sein Blick von ihr wegirrte, während er in sein Telefon lauschte.
„Ja, ist gut. In Ordnung.“ Er nahm das Gerät vom Ohr und kappte die Verbindung. Drehte sich wieder ihr zu. Und wirkte mit einem Mal bleich wie ein Laken. Die Falten um seinen Mund glichen tiefen Einschnitten. Seine Stimme war metallisch und hart. „Das war ChemCom.“
„Und?“
„Jetzt, wo Kenneth tot ist, bauen sie die Personalstruktur um. Sie wollen, dass ich mehr Verantwortung übernehme und Chef der Unternehmenskommunikation werde.“