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Den ganzen Tag über war es schwül und stickig gewesen, jetzt, mit Anbruch der Nacht, hatte es zu regnen angefangen.
Sarah stand am Fenster ihres Schlafzimmers und schaute über den Garten hinweg zum Haus von Kenneth und Cybill. Keines der Fenster war erleuchtet. Schwer fielen die Regentropfen gegen die Scheibe.
Vor wenigen Minuten erst waren sie und Lou von ihrem Weg zu der Anwaltskanzlei zurückgekehrt. Der Strafverteidiger hatte sie ein wenig beruhigt. Wenn die Polizei die Spuren bereits gegen sie hätte auswerten können, hätten sie sich längst bei ihr gemeldet. So schnell ginge das alles nicht. Im Moment sollte Sarah sich ruhig verhalten. Sie habe nichts Falsches getan, sie brauche sich nicht allzuviele Sorgen zu machen.
Ihr Blick war nach wie vor auf die Rückseite des Halberstam’schen Hauses gerichtet.
Nicht allzuviele Sorgen … Jemand versuchte, sie in etwas hineinzuziehen. Das Messer war nicht von selbst in ihr Bett gelangt. Und ich war es nicht, der es dort hingetan hat.
Cybill hatte sie dazu gedrängt, sich mit Ken zu treffen. Kenneth nicht gezögert, seine Frau zu betrügen. Sie muss ihn gehasst haben .
In der Ferne war das dumpfe Grollen des herannahenden Gewitters zu hören. Wind war aufgekommen und bewegte den Baum, der schräg zwischen ihrem und dem gegenüberliegenden Haus stand.
Sarah stutzte. Als wäre ein Lichtwechsel über die schwarzen Scheiben des Halberstam-Hauses hinweggestrichen. Sie spürte, wie ein feuchter Film ihre Handflächen überzog, und beugte sich etwas nach vorn.
Hinter der Scheibe. Im ersten Stock. War das nicht ein Umriss?
Ohne darüber nachzudenken, entriegelte sie das Fenster und  zog es auf. Kühl fuhr der Wind in ihre Haare und wirbelte sie auf. Das feine Rieseln des Regens war zu hören, das Rauschen der Blätter.
Es war schwer zu sagen. Steht Cybill dort hinter der Scheibe und sieht zu mir herüber oder nicht?
Sie zuckte zusammen. Ihr Handy hatte gepiepst. Sarahs Hand fuhr in den Spalt zwischen ihrem Oberschenkel und der Armlehne, wo sie ihr Telefon meist aufbewahrte. Drehte den Bildschirm zu sich.
„Wir müssen reden. Kommst du rüber?“
Eine Nachricht von Cybill. Die Nummer hatte sich Sarah ja gleich an ihrem ersten Abend von ihr geben lassen.
Sie fühlte, dass ihr Mund trocken geworden war.
„Cybill will, dass ich zu ihr rüberkomme.“ Sie beugte sich ein wenig nach hinten und sprach Lou an, der hinter ihr auf dem Bett lag, wollte zugleich aber das Fenster bei Halberstams nicht aus den Augen lassen.
„Hmm“, kam ein halbherziges Grunzen von hinten.
Sie sah erneut auf das Display.
‚Cybill … schreibt‘ , war in der Anzeige zu lesen. Dann poppte eine neue Nachricht auf. „Die Tür unten ist offen.“  
„Am besten du gehst, Lou“, platzte es aus Sarah heraus. Sie schloss das Fenster und sah Lou in der Fensterscheibe gespiegelt hinter sich. Anders als bei Cybill drüben brannte bei ihnen Licht.
Lou antwortete nicht.
„Du könntest dich ein bisschen bei ihr umsehen! Im Bad hinter dem Spiegel zum Beispiel? Ich hab den Detectives nichts von dem Joint erzählt, den Ken mir oben auf der Terrasse angeboten hat. Dass der mit etwas beträufelt war. Und dass du im Krankenhaus vergiftet worden bist, haben sie mir auch nicht glauben wollen.“
„Meinst du nicht, dass die Polizei dort drüben schon alles abgesucht hat?“
Jetzt drehte Sarah den Stuhl doch herum und schaute zu Lou. „Nach so einem Betäubungs- oder Rauschmittel haben sie vielleicht gar nicht gesucht! Wir aber wissen, wonach wir suchen müssen. Womöglich ist es einfach in Kens Nachttischschublade. Du sagst, du musst mal kurz ins Bad – und schaust dich rasch um.“
„Und was beweist das dann?“
„Willst du, das Cybill mit uns macht, was sie will, Lou? Wir müssen endlich den Spieß umdrehen – die Initiative übernehmen. Ihr einen Schritt voraus sein.“
Sie konzentrierte sich wieder auf ihr Display, als Lou schwieg. Sarahs Fingerspitzen flogen über den Bildschirm, während sie die Nachricht eintippte. „Du hast recht. Wir müssen reden. Bis gleich.“ Schon wollte sie mit einer Berührung des Bildschirms die Nachricht an Cybill verschicken, als sie innehielt.
Je weniger Verbindungen es zwischen ihr und Cybill gab, desto besser. Hastig löschte sie die Nachricht wieder, die sie gerade getippt hatte, und sah vom Display hoch. Hob die rechte Hand, so dass Cybill sie von der anderen Gartenseite aus sehen musste und spreizte einen Daumen ab. „Okay.“
Starrte gebannt zurück auf die Handyanzeige.
„☺“, kam als Antwort.
Gut. Sarahs Atem hatte sich beschleunigt. Sie steht hinter der Scheibe, genau wie ich gedacht habe, und schaut hier rüber. Sie sah zu Lou. „Ich weiß, es ist verrückt.“ Ihr Blick flog zur Uhr. Kurz vor neun. „Aber es ist eine einmalige Gelegenheit. Wir dürfen nicht zulassen, dass Cybill unser Leben ruiniert, Lou.“
Er sah sie an, und sie hatte den Eindruck, mitverfolgen zu können, wie er unter ihrem Blick alterte.
„Warum will sie mit dir reden?“, sagte er langsam.
Sarah überlegte. Ja, warum. „Keine Ahnung. Frag sie. Das werden wir dann ja sehen.“ Sie atmete aus. „Sag ihr, dass es mir nicht gut geht, dass sie mit dir reden soll. Vielleicht klärt sich dann auch endlich alles auf. Hast du Angst, dass sie dich in ihrem eigenen Haus angreift? Das ist Unsinn, das macht sie nicht.“
Sie sah, wie er sich mühsam von der Matratze erhob, auf die Bettkante setzte und die Ellbogen auf die Oberschenkel stütze. Sein Kopf hing herunter, sein Gesicht konnte sie nicht sehen.
„Du musst rüber in ihr Haus, Lou.“ Ihre Stimme war fast nur noch ein Flüstern. „Sieh dich um, versuch, dieses Betäubungsmittel zu finden.“ Das hatte sie doch gerade schon versucht zu erklären, vielleicht hatte er sie nur nicht verstanden. „Wenn das Mittel dort ist, rufe ich Cunningham an und erzähle ihm von den Drogen. Dass sie danach in dem Halberstam-Haus suchen sollen. Vielleicht können sie Spuren davon noch in Kens Leiche nachweisen.“
Von Lou kam keine Antwort.
„Jetzt, Lou, begreifst du denn nicht?“ Sie schluckte. „Herrje, ich würde es ja selbst in die Hand nehmen, aber ich bin nicht schnell genug. Eh ich mir die Nachttischschublade angeschaut habe, hat sie mich doch fünfmal dabei erwischt. Du musst es machen, Lou. Du musst jetzt für uns da sein!“