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Zwei Jahre vorher
Sarahs Kopf lag auf seiner Schulter, während er mit einer Hand das Steuerrad festhielt und den Ellbogen des anderen Arms in die Fensteröffnung der Autotür geschoben hatte. Vor der Windschutzscheibe zogen die Felder von Massachusetts an ihnen vorbei.
Sie kamen von einem Wochenende bei Freunden. Grillen, schwatzen … Drei Kinder hatten ihre Freunde inzwischen, das Haus, das sie sich auf dem Land gekauft haben, hat widergehallt von den aufgeregten Kinderstimmen, ihrem Lachen … ihrer Zukunft.
Dass Lou in New York gewesen ist, ist inzwischen schon wieder zwei Wochen her. Aber er kann nicht aufhören, daran zu denken. Wann immer er nicht aufpasst, fühlt er den sanften Druck der Lippen des Mädchens auf seinen. Er muss seine Gedanken von dort fortbringen! Er weiß, dass es nicht verborgen bleiben wird, wenn er daran denkt.
Gemächlich zieht er an einem LKW auf der mittleren Fahrspur des Highways vorbei.
Was in New York passiert ist, ist nicht aus heiterem Himmel gekommen. Er hatte auch vorher schon Zweifel gehabt, ob sie wirklich heiraten sollten.
Sarah nicht, dessen ist er sich ziemlich sicher. Sie rechnet fest damit, dass ihre Hochzeit stattfindet. Er hat ja auch nie etwas anderes gesagt. Aber er hat Zweifel gehabt. Warum? Das weiß er selbst nicht so genau. Was er genau weiß, ist, dass er seit dem, was er in New York erlebt hat, sie nicht mehr heiraten kann. Nicht mehr heiraten will. Weil der Kick, den er empfunden hat, als er dort im Souterrain diesem anderem Wesen nahegekommen ist, etwas war, was er mit Sarah schon lange nicht mehr – vielleicht niemals – erlebt hat.
Inzwischen sind fast vierzehn Tage seitdem vergangen und er hat Sarah noch immer nichts davon gesagt. Mit jedem Tag, den er verstreichen lässt, tut er ihr mehr Unrecht. Er sieht es ihr doch an, dass sie voll und ganz mit ihm rechnet.
„Lou?“
Er schaut zur Seite.
„Ist irgendwas?“ Sarah lächelt und in seinen Augen hat sie vielleicht noch niemals so verletzlich gewirkt.
„Nein. Alles gut.“
„Aber ich sehe doch, dass dich etwas beschäftigt. Du fährst ja schon ganz langsam.“
Er blickt auf den Tacho. Fünfundvierzig Meilen pro Stunde. Er hat einfach keine Lust, schneller zu fahren. Er muss seine Gedanken ordnen. Er muss überlegen, wie er es ihr sagen soll. Und zwar heute noch, wenn sie nach Hause kommen.
„Hat dir am Wochenende irgendwas nicht gefallen?“
Er atmet aus. „Nein, alles gut, sag ich doch.“
„Du hast schon die ganze Zeit so nachdenklich dreingeschaut. Auf dem Spaziergang ist es den anderen auch aufgefallen. Als wir zum See gegangen sind? Ein bisschen zu wandern hat uns doch gutgetan, meinst du nicht?“
Wir müssen reden, Sarah. Aber nicht jetzt. In Ruhe. Über alles.
Sarah schweigt. Sie wartet noch immer auf seine Antwort. Aber er will auf keinen Fall jetzt schon reden. Sie müssen nach Hause fahren, dann wird er sie bitten, sich im Wohnzimmer auf die Couch zu setzen. Er wird sich und ihr einen Tee aufbrühen, sich zu ihr hocken und versuchen, es zu erklären. Dass er schon lange darüber nachdenkt. Dass sie eine Pause … genau! Er wird es ihr schonend beibringen. Er wird sagen, dass sie eine Pause machen sollten. Einfach nur erstmal eine Pause. Der Ablösungsprozess wird dann schon ganz von alleine voranschreiten.
Sein Blick ist auf den Verkehr vor ihm gerichtet, seine Gedanken wandern wieder zurück zu dem Abend in New York. Wegen einer Bewerbung war er in die Stadt gekommen, aber nach seinem Termin hatte es angefangen zu regnen wie aus Eimern. Er hatte nach einem Unterstand Ausschau gehalten und die vernagelten Fenster eines Townhouses in Greenwich Village bemerkt. Ein Stadthaus wie viele andere – offensichtlich im Moment unbewohnt. Erst hat er in der Eingangsnische des Hauses vor dem Regen Zuflucht gesucht, doch dann ist ihm aufgefallen, dass das Sperrholz, mit dem die Fenster im Souterrain verrammelt waren, bereits gelockert worden war und einfach hochgeklappt werden konnte. Während der Regen immer stärker wurde und er wusste, dass er die ganze Zugfahrt zurück nach Boston in nassen Sachen verbringen würde, wenn er sich jetzt nicht vor den Tropfen in Sicherheit brachte.
Mit einem entschlossenen Ruck hat er das Holz zur Seite geschoben und ist in das Souterrain eingestiegen, froh ein trockenes Plätzchen gefunden zu haben.
Es ist ein helles Kinderlachen gewesen, das zuerst an sein Ohr gedrungen ist. Er hat aus dem Fenster geschaut, das nach hinten rausging. Ein schwerer Duft von Sommergras und Pfützen hatte den Garten erfüllt, der sich zwischen den Häusern erstreckte.
„Tierlaute, genau!“, war die Kinderstimme zu hören. „Wie letztes Mal. Jeder ist ein Tier und wenn man das Tier ruft, muss es mit einem Laut antworten.“
Am anderen Ende des Gartens ist eine Gruppe von Kindern durch die herabfallenden Tropfen kreischend auseinandergestoben. Unter ihnen kleinere Kinder, nicht älter als acht oder neun, aber auch ein paar ältere. Unwillkürlich hat sich sein Blick auf ein blondes Mädchen in einem leichten Sommerkleid gerichtet, das fast schon wirkte wie eine junge Frau. Ihre Wangen waren von der Aufregung gerötet und ihre Augen glänzten in dem Widerschein der Lichter, die aus den umstehenden Häusern fielen. Sie lief direkt auf ihn zu, das Kleid klebte an ihrer Haut.
Geistesgegenwärtig hat er sich hinter der Fensternische geduckt, ihre eiligen Schritte über das Gras huschen gehört. Dann nur noch ihr leises Keuchen – ganz nah jetzt.
Vorsichtig hat er durch das Souterrainfenster gelugt. Sie stand keine zwei Meter von ihm entfernt und hatte das Gesicht abgewandt.
„Hier.“ Er hatte es fast nur gehaucht, konnte aber sehen, wie sie sich bewegte. Offensichtlich hatte sie ihn gehört, wusste jedoch nicht, aus welcher Richtung seine Stimme gekommen war. Schritt für Schritt kamen ihre nackten Beine, die sich unmittelbar auf der Höhe seiner Augen befanden, näher.
Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, sie durch den dampfenden Regengarten hindurch schon riechen zu können. Plötzlich drehte sie sich ruckartig um - und zuckte heftig zusammen. Die Hände auf den Mund gepresst - die Augen riesig.
Ohne darüber nachzudenken, stemmte er sich bis zur Hüfte durch das offenstehende Fenster und griff sanft nach ihrem Arm. Fühlte, wie sie auf sein vorsichtiges Ziehen mit einer geschmeidigen Bewegung reagierte.
„Wer bist du?“ Sie kniete vor seinem Fenster und ihr Gesicht war jetzt ganz dicht vor seinem.
Der Daumen seiner rechten Hand glitt über ihre leicht geöffneten Lippen.
„Komm ins Trockene. Du kannst dich hier unten verstecken“, raunte er, „da finden sie dich ganz bestimmt nicht.“
Sie sah ihn an und schien zu überlegen.
Seine Hand folgte dem Bogen ihres Halses, fast ohne ihn zu berühren. Umrundete ihre Schulter und wanderte den Arm hinab, bis seine Finger spürten, dass ihre Finger sich darum schlossen. Kurz darauf zog sie den Kopf ein und zwängte sich durch die Öffnung zu ihm nach unten. Für einen Moment schwebten ihre Körper übereinander und ihre Gegenwart raubte ihm fast die Sinne. Dann entfernte sie sich wieder von ihm und sie lagen nebeneinander, den Blick nach draußen gerichtet.
„Löwin – wo ist die Löwin?“, war eine Knabenstimme zu hören und kurz darauf kam ein kleiner Junge über den Rasen gelaufen.
Das Mädchen legte ihre Wange an seine Schulter. „Das bin ich.“ Ihre Lippen wanderten zu seinem Ohr und er hörte, wie sie ganz leise hineinfauchte. „Rrrrgh.“
Er drehte den Kopf, aber sie zog sich nicht vor ihm zurück. Als sein Mund ihre Lippen berührte, wusste er, dass er sich von diesem Augenblick der Zartheit nie wieder erholen würde.
„Lou!“
Zurück im Auto – zurück auf dem Highway.
Was?“ Es kommt hart und unwirsch heraus. Was will sie denn! Gerade hat er doch eine gute Idee gehabt, wie er das heute Abend machen kann.
„Der Laster dort vor dir! Er schert aus!“
Jetzt sieht auch er es. Der Sattelschlepper rechts vor ihm zieht auf die Mittelspur. So gemächlich, dass Lou auf ihn auffährt, wenn er nicht abrupt abbremst. Instinktiv setzt er den Blinker und zieht auf die Spur ganz links außen –
im gleichen Augenblick umhüllt sie ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Es scheint die ganze Wagenkabine auszufüllen. Sich bis in das Mark seiner Knochen zu schrauben.
Lous Kopf fliegt herum. Er sieht ihn direkt links neben sich. Riesengroß. Der gewaltige Kühlergrill eines Highway-Monsters, hoch fast wie ein Haus. Das Hupen des riesigen Fahrzeugs dröhnt weiter. Er hat dem Laster, der von links hinten kommt, genau den Weg abgeschnitten. Mit einem Ruck reißt Lou das Steuer zurück nach rechts, um dem tonnenschweren Truck auszuweichen. Inzwischen aber hat er beschleunigt – und befindet sich auf der Höhe des LKWs, der ausgeschert ist. Ein gewaltiger Aufprall erschüttert den Wagen – Lous altersschwacher Ford scheint von etwas zurückgeschleudert zu werden. Das Krachen ist mörderisch. Sein Fuß tritt die Bremse durch, das Hinterteil seines Fahrzeugs bricht aus. Sie schleudern in den Sattelschlepper, der jetzt links auf ihrer Höhe ist – prallen davon ab und rasen in den LKW auf der rechten Seite. Lous Kopf fliegt herum, er sieht, wie die Kante des LKW die Beifahrerseite seines Wagens aufreißt. Sarah wird in ihren Gurten zur Seite gedrückt, als wäre sie eine Marionette. Gleichzeitig rast die Front von Lous Ford in die Leitplanke. Sein Oberkörper wird nach vorn katapultiert und seine Nase knallt mit voller Wucht gegen das Lenkrad. Für einen Augenblick wird ihm schwarz vor Augen, dann ist er wieder klar.
Sie stehen. Es riecht verbrannt. Seine Nase wirkt aufgepumpt und pulsiert. Gedehnte Rufe dringen an sein Ohr.
„Sarah!“ Er lässt seinen Gurt aufspringen, stößt die Fahrertür auf und humpelt um den Wagen. Hinter ihnen stauen sich die Fahrzeuge auf dem Highway. Er hört Schreie, jemand kommt auf ihn zu. Dann ist er um den Ford herum und an der Beifahrertür. Reißt sie auf. Beugt sich über Sarah. Ihre Augen sind offen aber seltsam matt.
„Hörst du mich! Sarah!“ Sie zuckt zusammen, das Leben scheint in ihre Pupillen zurückzukehren.
„Lou.“ Sie flüstert es nur, aber ihr Mund ist dicht an seinem Ohr. „Was war denn?“
Er hat sie bereits abgeschnallt und zieht sie aus dem eingekeilten Sitz. Hat sie aus dem Wagen und beeilt sich, sie von der Fahrbahn zu bekommen, bevor noch jemand in sie hineinrast.
Ihr Kopf liegt an seinem Oberarm, ihr Blick ist zu ihm nach oben gedreht.
Alles ist gut – alles wird gut – es ist nichts passiert, stammelt eine Stimme in seinem Kopf.
Sein Blick aber ist auf ihre Beine geheftet. Sie schleifen über den Asphalt wie die leblosen Glieder einer Puppe.