Alles außer Nähe: Die Gentrifizierung des Gefühls

Hoppers Welten mögen helfen, das urbane Seelenleben der Menschen in den großen Städten zu ergründen. Er zeichnete dafür eine Moderne, in der der Ausbruch der Industrialisierung zum ausschließenden Extrem wurde, die Stadt zum Hort der sozialen Ungleichheit. Das aber genügt nicht, um die moderne Vereinzelung von heute wirklich zu durchschauen. Es sind dafür noch andere, weitaus tiefer gehende Betrachtungen nötig.

Olivia Laing, eine britische Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, zog vor einigen Jahren infolge einer Trennung nach New York. Das Gefühl einer persönlichen Einsamkeit brachte sie da schon mit, doch als sie in den nächsten Monaten durch die Metropole spazierte und sich dem Puls des Big Apple aussetzte, verspürte sie noch eine andere Art der Einsamkeit. Zum Glück war sie sensibel, interessiert und klug genug, um die beiden Arten der Einsamkeit scharf voneinander zu trennen.

Laing lag eines Tages in ihrem Apartment auf der Couch, surfte im Netz und entschloss sich dazu, gezielte Studien zur Einsamkeit durchzuführen. Denn sie merkte, dass sie gerade die perfekte Feldforscherin war und ihr gleich zwei geeignete Studienobjekte zur Verfügung standen: New York City, die ikonische Großstadt schlechthin, und – sie selbst.

Zunächst beschäftigte auch sie sich mit den Arbeiten und Biographien verschiedener Künstler, die in New York gelebt und Einsamkeit auf ihre Weise zum Thema gemacht hatten. Darunter Andy Warhol, soziale Außenseiter wie die Feministin Valerie Solanas, Randkünstler wie Henry Darger oder der Fotograf David Wojnarowicz, der sich für seine Porträts auf leeren Betten in Wolldecken hüllte, sich bis zum Gesicht in der Erde eingrub oder sich für ein verstörendes Bildnis der Verstummung mit einem dicken Faden den Mund zunähte. Wojnarowicz, der in den achtziger Jahren in der Kunstszene des New Yorker East Village bekannt wurde, betitelte das Foto: Silence = Death.

Natürlich nahm Olivia Laing bei ihren ersten Vertiefungen auch Edward Hopper ins Visier, vor allem jene seiner Bilder, die ihr einen gewissen Seelenzustand New Yorks vorhielten. In ihrer Einsamkeitsstudie, die unter dem The Lonely City erschien, bezeichnet sie Hoppers Bilder als »Spiegel einer Wahrsagerin«. Man schaut hinein und sieht eine Zukunft ohne Versprechen, sieht gewissermaßen Transiträume: Es zählt darin nicht nur das Abgebildete, sondern auch das, was man nicht sieht. Laing erkannte nicht nur etwas Tröstliches, sondern auch ein wichtiges Werkzeug, um jene Seelenverfassung zu ergründen, um die es ihr ging. Hopper und auch die anderen Künstler zeigten nicht nur, wie Einsamkeit aussieht, sondern auch, wie sie sich anfühlt.

Laing befand, dass Hopper uns in dieser Hinsicht die Hand reicht, auch über die Zeiten hinweg. Das »Bedürfnis der Einsamen nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, danach, gehört, berührt und gesehen zu werden«, wie Laing es nennt, ist jedoch schwer zu besprechen. Es geht um »Glaswände in der sozialen Interaktion«, die malerisch vielleicht am besten zum Ausdruck kommen. Eben dann, wenn Bilder mehr sagen als alle Worte. Und besonders Hoppers Gemälde fangen diesen »Konflikt zwischen Unabhängigkeit und Begehren« ein. »Diese Flucht aus der Intimität, um echten emotionalen Anforderungen zu entkommen«, wie Laing präzisierte.

Sie betrachtete aber nicht nur die Bilder und Fotografien vieler Künstler, die in New York zum Glück oft genug als Originale zu sehen waren. Laing horchte immer wieder in sich selbst hinein. Und erkannte bald tiefer liegende, verborgene Aspekte der Einsamkeit. Sie bemerkte dazu: »Merkwürdig an dieser Einsamkeit ist nicht, dass wir ihr durch Arbeit und Zerstreuung zu entkommen versuchen, merkwürdig ist auch nicht, dass sie uns minderwertig fühlen lässt, sondern dass die Einsamkeit uns auch etwas sehr Wichtiges im Leben geben kann.«

Eines Tages erblickte sie einige Schwarz-Weiß-Fotos von New York, die das Gefühl beeinflussten, das sie in sich trug und inzwischen wie durch eine Lupe betrachtete. Ein Gefühl, das offenbar vor allem durch die Stadt selbst und die urbane Umgebung genährt wurde. Und Laing erkannte nun eine Dualität, die der Einsamkeit innewohnte: einerseits die Sehnsucht nach Nähe und Kontakt, andererseits aber auch eine Art Schutzreflex. Denn das Unberechenbare der Moderne, sichtbar und verdichtet vor allem in den Städten, kann verständlicherweise auch zu einer Angst vor Verletzlichkeit führen. Die zunehmend beschleunigte, widersprüchliche und unverständliche Welt nämlich ist durchaus imstande einzuschüchtern. Sie kann stressen, fordern, trügen und verwirren. Bis man sich ihr – bewusst oder unbewusst – gewissermaßen ausgeliefert fühlt. Bis man den Wunsch nach Offenheit und Nähe irgendwann nicht mehr zulässt, den Drang nach Sozialisation gar unterdrückt.

Vulgo: Der moderne Mensch ist von der modernen Welt überfordert. Und dann macht er zu.

Laing war überrascht, zu welchen Überlegungen das Thema sie führte. Überrascht darüber, wie einige Phänomene auf einmal immer offensichtlicher und erklärlicher vor ihr lagen. Sie erkannte Verhaltensweisen deutlicher, konnte Gefühlslagen besser einordnen und verstehen, ihre eigenen und die anderer. Und vielleicht öffnete sich hier auch ein Weg, die Emotionskultur moderner Gesellschaften insgesamt besser zu begreifen. Darunter vor allem die vage Substanz der sozialen Einsamkeit.

Die Soziologie der Emotionen war schließlich erst Ende siebziger Jahre zur Wissenschaft erhoben worden, vorher hatten sich lediglich Psychologie und Anthropologie mit dem schwierigen Gebiet der Gefühle beschäftigt. Und dabei war die Einsamkeit niemals eine der Emotionen, die irgendwo an erster Stelle stand. In New York aber konnte Olivia Laing es spüren: Unter den Millionen Menschen, unter all dem Gewusel zwischen den endlosen Straßen und Wolkenkratzern waberte eine Loneliness, die sich regelrecht greifen ließ. Die Einsamkeit war wie ein Subtext der brodelnden Metropole. Und er stand überall geschrieben, wenn man die geheime Schrift nur zu erblicken verstand.

Laing schlenderte immer wieder durch die Straßen und Viertel, wurde zu einer Stadtwanderin. Irgendwann erschien ihr die Einsamkeit wie »ein besiedelter Ort, eine Stadt für sich«. Und sie erkannte immer deutlicher, wie viele unserer Handlungen und Entscheidungen letztlich auf Einsamkeit zurückzuführen sind.

Sie las Virginia Woolfs Tagebücher, in denen die innere Einsamkeit so beschrieben ist: als ein »Gefühl des Lärms der Welt, wenn Sie durch Einsamkeit und Stille aus der bewohnbaren Welt gerissen werden«. Während Laing weiter Material sammelte, stieß sie auf ein altes Lied, das Dennis Wilson von den Beach Boys einmal geschrieben hatte: »Loneliness is a very special place«, heißt es da. Und der Song bestätigte ihren Eindruck: dass Einsamkeit keinesfalls nur etwas ist, das wir vermeiden sollten. Dass darin eben nicht nur Depression und die Erfahrung des Gesellschaftsentzugs liegen, sondern auch »eine Erfahrung, die (…) wir schätzen sollten und brauchen«.

Laing vertiefte sich in psychiatrische und psychotherapeutische Fachbücher, kombinierte das Wissen mit den Interpretationen diverser Kunstwerke und Künstlerbiographien und veröffentlichte 2016 einen Essay, der den Titel trägt: The Lonely City: Adventures in the Art of Being Alone. Es wurde daraus ein so beindruckendes wie inspirierendes Dokument über die Einsamkeit im städtischen Leben des 21. Jahrhunderts. Laing, die bereits diverse Literaturpreise und Auszeichnungen für ihre Prosa und andere Veröffentlichungen bekommen hatte, schlug damit ein neues Kapitel auf. Nicht nur, was den Schreibstil betrifft, sondern auch das Thema Einsamkeit. Ein Kritiker schrieb über den Text: »Laings letztes Werk ist eine wundervolle und besorgniserregende Untersuchung des zeitgemäßen Zustands der Isolation. The Lonley City ist weniger eine Pathologie der Einsamkeit als vielmehr eine Anatomie des Verlangens. Der Text bringt die Kosten und Konsequenzen einer vernetzten 24/7-Welt auf den Punkt.«

Ein Satz, der sitzt. Er entlarvt die innere Ausgezehrtheit als Preis, den wir für eine Welt auf Speed zahlen müssen.

 

Nachdem ich Laings Text gelesen hatte, wurde mir vieles klarer. Die schwer zu greifende und noch schwerer zu beschreibende Einsamkeitserfahrung in den Städten war plötzlich deutlicher spürbar.

Ich liebe es, auf dem Land zu sein. Wann immer ich Zeit finde, gehe ich fischen oder paddele mit dem Kajak über einen Fluss. In Brandenburg, im Osten Deutschlands, im Bergischen Land, den Alpen, Skandinavien. Ich sehe die Bäume, höre das Wasser. Stehe manchmal stundenlang in Fließgewässern, schwinge die Rute, lausche den Fliegen. Doch dann zieht es mich wieder in die Stadt.

Nach Laings Lektüre fiel mir viel deutlicher auf, was unterschwellig geschieht, wenn ich durch die Vororte hineinfahre, wenn ich sehe, wie die Häuser immer dichter stehen, immer höher in den Himmel wachsen. Die Autos vermengen sich, die Schilder, die Botschaften, die Ampeln, die Lokale, die Geschäfte, die Werbeplakate; und schließlich auch: die Menschen. Ja, alles wird enger, schneller, komprimierter. Und dann bist du auf einmal wieder drin. Mitten im Nervenzentrum unseres heutigen Geschehens. Die Geschwindigkeit ist gewaltig, die Taktzahl hoch, die schiere Menge an Dingen, Eindrücken und Reizen enorm. Und dann kann ich spüren, wie sich etwas immer enger auch um mich herumwickelt. Als würde sich meine Seele instinktiv in ein inneres Schneckenhäuschen zurückziehen wollen. Vor Schreck, vor Überflutung.

Das ist verständlich. Und es kommt tatsächlich so einem Schutzreflex gleich. Denn die Stadt ist weitaus mehr als nur ein örtlich und räumlich definierbares Gebilde. Alles spricht aus ihr, alles kommt uns dort entgegen: Die Großstadt ist die urbane Verklausulierung des Zeitgeschehens. Und womit haben wir es zu tun? Da ist der Wettbewerb, der herrscht, die Informationsflut, die regiert, die Menge an schlechten Nachrichten, die uns entgegenhallt. Da ist die Zeit, die uns geraubt wird, der Überfluss, der betäubt. So schallt es mir aus der großen Stadt entgegen, manchmal, wenn ich genau hinhöre.

Kein Wunder, dass sich so mancher in dieser Echobox die Ohren zuhält. Wenn es zu viel wird, zu laut. Wenn die Isolation zum Schutzschild gerät. Andere Ursachen und Formen der Einsamkeit können schlimm genug sein. Trennung, Jobverlust, Armut, Alter, Krankheit, Angst und Scham. Wenn die Einsamkeit der Stadt jedoch obendrauf drückt, wird es dunkel.

Ist dies womöglich auch der Grund, warum laut Umfragen die statistische Anzahl wirklich enger Freunde in den Städten seit 1985 von drei auf eins geschrumpft ist? Warum hingegen die Anzahl jener, die sagen, dass sie niemanden haben, mit dem sie über ernsthafte Dinge reden könne, seither um das Dreifache gestiegen ist? Liegt hierin womöglich auch der Grund, warum heute 55 Prozent der Londoner angeben, sie würden sich »mindestens gelegentlich« einsam fühlen? Und hat die städtische Einigelung vielleicht auch dazu geführt, dass ein 28-jähriger Mann aus den englischen Midlands in einer Umfrage sagt, dass er sich in den ersten sechs Monaten in der Stadt sogar »bloody lonely« fühlte und dass heute jedwede Nettigkeit spätestens auf der M25, der Autobahn, die London wie ein Ring umgibt, aus dem Fenster geschmissen wird? Liegt es am Ende also an den urbanen Massenansammlungen selbst, dass Jakow Trachtenberg, russischer Ingenieur und Erfinder der Trachtenberg-Schnellrechenmethode, schon in den fünfziger Jahren sagte: »Die Luft der Großstädte ist von hemmungsloser Ich-Sucht erfüllt.«?

Einer Ich-Sucht, die sich durchaus auch als Ich-Flucht bezeichnen ließe?

Ich muss mich nicht lange umschauen, um die Betrachtungen im heutigen Alltag bestätigt zu finden. Erst vor kurzem sprach ich mit dem Sohn eines Bekannten, er studiert Internationale Beziehungen, spricht mehrere Sprachen, hat mehrere Stipendien bekommen, sogar für Universitäten wie Oxford oder der Sciences Po in Paris. Er hat seit einigen Jahren eine Freundin, auch sie studiert international, ist auf dem Weg zu aussichtsreichen Abschlüssen. Die beiden sind nicht einmal Mitte 20, lesen viel, wissen viel, stehen weit vorn in den heute verfügbaren Ausbildungsschleifen. Und beide sagten entschieden den Satz, auch auf die Zukunft bezogen: »Auf keinen Fall werden wir Kinder in die Welt setzen, nicht in diese.«

In Hamburg saß ich neulich in einem Café und kam nicht umhin, einem Gespräch am Nachbartisch zu lauschen. Dort saß eine Frau um die 50, sie hatte rot gefärbte Haare, trug eine türkis melierte Brille und recht lange Fingernägel. Sie unterhielt sich mit einer Freundin und sagte irgendwann den Satz, er klang fast wie das Resümee eines allgemeinen Lageberichts: »Wenn ich mich so umschaue und sehe, was passiert – ich habe Angst, alt zu werden.«

Angst. Null-Kind-Perspektiven. An diesem Tag im Sommer 2020 schienen weder die jungen Studierenden noch die Dame am Nachbartisch den Zustand erreicht zu haben, »dichtzumachen«. Aber war hier nicht schon auf ganz vorzügliche Weise das Feld bereitet, um sozusagen in die nächste Phase hinüberzugleiten? In jene Phase, die der Psychiater Robert Weiss meint, wenn er von einer »perversen Befriedigung der Einsamkeit« spricht? Ein Stadium, auf das auch Olivia Laing anspielt, wenn sie eine gewisse, sich offenbar unter Menschen jeden Alters ausdehnende Gefühlslage einerseits als »berauschende Erfahrung« beschreibt, andererseits als »selbstschützende Amnesie«?

Eine Überempfindlichkeit gegenüber den Zeiten?

Nichts mehr wissen wollen. Sich abschotten. Dichtmachen. Irgendwann spüren und sagen: Es ist alles too much. Ja, so könnte man sie folgerichtig wohl ebenfalls beschreiben, die neue Einsamkeit: Als eine Art selbst herbeigeführte Gedächtnisstörung.

Ich überlegte eine Weile. Waren Zukunftsangst und eine bewusste Entscheidung gegen Kinder nicht geradezu prädestinierte Gründe, um irgendwann genau jenen Schalter umzulegen? Um sich abzuwenden, um dichtzumachen?

Olivia Laing allerdings reichte diese naheliegende Seelenpathologie bei weitem nicht aus, um den modernen Abschottungsmechanismus, den sie erkannte, wirklich zu erklären. Also bohrte sie noch tiefer, verstieg sich weiter in ihre Lektüren und Betrachtungen. Und landete auf ihren Erkundungsreisen auch bei Andy Warhol, der mich ebenfalls schon immer faszinierte. Jetzt entdeckte ich ihn unter einen anderem Aspekt noch einmal neu.

Warhol wie auch sein Lebenswerk prägen vor allem zwei Motive: eine tiefe Sehnsucht nach Nähe einerseits, gleichzeitig aber auch ein Zurückschrecken vor zu viel Intimität. Immer wieder versuchte Warhol, diesen tief empfundenen Zwiespalt auch in seiner Kunst auszudrücken. Er selbst sagte über dieses grundsätzliche Dilemma einmal: »Um zu sehen und nicht gesehen zu werden, möchte ich eine Maschine sein.«

Der Mensch als Maschine? Dies war ein überaus interessanter Gedanke, fand Laing. Der Mensch als Roboter. Eine Kreatur, die mitten im Geschehen weilt, die registriert und Aufgaben erfüllt. Die imstande ist zu beobachten, zu sehen und zu erkennen – jedoch nie Gefahr läuft, selbst als Mensch erkannt zu werden.

Was meinte Warhol genau? Eine moderne Schimäre, die konnte, aber nicht musste? Die durfte, aber niemals belangt werden würde? Eine Automatenkreatur, die zu fast allem imstande war, sich jedoch von jeglicher Verpflichtung, Mensch zu sein, gar nicht mehr erst bedrängen ließ?

Der Mensch ohne seine menschlichen Pflichten? Der Mensch ohne seine fürchterlichen Verletzlichkeiten?

Laing verstand Warhol auf einmal sehr gut. Sie begriff, was er sagen wollte, als sie sich die Millionen Menschen in New York vorstellte. Als sie diese Menschen jeden Tag sah, wie sie durch die große Stadt schritten, strömten, flossen, hupten, surrten, wie sie zielgenau marschierten, schnell und in beinahe ornamentalen Gefügen. Ganz dicht aneinander liefen, aßen, arbeiteten und lebten sie, frästen sich wie die Ameisen durchs moderne Treiben – aber blieben doch stets von ihrer Anonymität umhüllt.

Blieben als menschliche Seelen unerkannt, ungesehen.

Die Menschen liefen durch die große Stadt und durch dieses moderne Leben wie funktionierende Maschinen. Befreit von der Pflicht zur Verbundenheit – entfremdet sogar schon von dem Wunsch nach Nähe. Laing stieß auf einen Aufsatz der US-amerikanischen Soziologin Sherry Turkle, die am Massachusetts Institute of Technology forscht. Ein Satz darin fiel ihr besonders auf. Turkle hatte in einer ihrer Abhandlungen notiert, dass ein Zusammenhang bestünde zwischen Einsamkeit und Intimitätsverlust, zwischen Konzentration und Isolation, zwischen der ständigen äußeren Verbindung der Menschen und ihrer daraus resultierenden inneren Unverbundenheit. Laing formulierte daraufhin ihre eigene Version dieser, sagen wir: Entzwischenmenschlichung. Und ich möchte diese einmal so beschreiben: Wir sind heute alle kleine bunte Andy-Warhol-Bilder. Durch die hyperliberale Moderne freigesprochen von den Pflichten zu Bund und Eintracht, programmiert auf maximale individuelle Entfaltung. Und je mehr uns dabei – als beinahe logische Konsequenz – eine Sehnsucht nach Kontakt überkommt, desto eingeschüchterter stehen wir gleichzeitig vor den Risiken dieser Intimität.

Mit anderen Worten: Wir wollen alles. Wir wollen sehen und nicht gesehen werden – und dabei doch gesehen werden. Weil wir eben keine Maschinen sind, sondern Menschen. Wesen mit dem Wunsch nach Nähe, nach innerer Kontaktaufnahme. In dieser nicht ganz übersichtlichen Gemengelage aber geifern wir nach der größtmöglichen Rendite, sind längst getrieben auch von einer emotionalen Profit-Denke. Ja, am liebsten würden wir auch sie noch für uns verbuchen können: die Liebe ohne Verluste, die Freundschaft ohne Einbußen, die Verbundenheit ohne Crashrisiko. Die Nähe ohne Nähe.

Aber natürlich geht das nicht. Auch Warhol konnte sich diesen Luxus nicht leisten. Konnte im gesellschaftlichen Miteinander nicht Voyeur sein – und gleichzeitig von Herzen willkommener Gast. Warhol machte auf Maschine. Vielleicht erschien ihm das Verletzungsrisiko zu hoch. Und vielleicht wusste er schon zu seinen Zeiten nicht mehr, wie er damit umgehen sollte.

Mit dem Verletzungsrisiko, Mensch zu sein.

 

Nicht umsonst hat Warhol den Menschen zum Plakat gemacht, zum grellen Abbild seiner eigenen Angst vor Innerlichkeit. Und seit den aus heutiger Sicht so unglaublich verstaubten achtziger Jahren hat sich dieses Grundgefühl offenbar gehalten, auch wenn es inzwischen anders zutage tritt, diversifizierter, verzweigter, komplexer. Doch was ist seit Warhol mit dem unterdrückten Drang nach offenem Austausch geschehen? Dem Wunsch nach einem gemeinsamen Vokabular? Ja, was ist aus der klandestinen Sehnsucht nach Nähe geworden – wenn Einsamkeit eben auch das Bedürfnis beinhaltet, sich auszudrücken, gehört zu werden, Gedanken, Erfahrungen und Gefühle zu teilen? Einfach gefragt: Wie begegnen wir heute dem Risiko, Brücken zu bauen, aufeinander zuzugehen – und uns uns selbst auszusetzen? Eine Grundvoraussetzung immerhin für jedes gelungene Miteinander; zwischen wenigen Menschen, zwischen vielen Menschen, zwischen allen Menschen. Laing dachte den Gedanken weiter, blickte sich im Hier und Heute des 21. Jahrhunderts um. Und erschrak ein wenig.

Der tapfere Warhol, dachte sie. Er polarisierte zwar, führte eine Existenz abseits der sozialen Normen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Aber immerhin, er kämpfte gegen das Gefühl an, außerhalb der Gemeinschaft zu stehen, wie Laing schreibt. Er versuchte mit seinen Mitteln, eine Sprache zu finden, einen Schritt auf andere zu zu machen. Und er wusste dabei sehr wohl um die Schwierigkeit, Nähe zuzulassen, Bindungen zu suchen und Konsens zu erschaffen.

Laing, forschend, sah sich weiter um und kam zu einem wenig vergnüglichen Schluss. Sie dachte an die Expositionsmanie der heutigen Zeit, an die moderne Online-Kultur, die besonders in den Metropolen herrscht. Und sie erkannte in diesem modernen Gebaren eine hemmungslose Tendenz zur Nivellierung: Warhols Angst vor Nähe und Intimität ist heute zu einem regelrechten Zurückschrecken vor jedweder Andersartigkeit angeschwollen. In den Kapselwelten des Internets, in den geschmäcklerisch wie ideologisch verriegelten Kabinen der sozialen Medien sind inzwischen glattgeschliffene Welten entstanden, personalisierte Einöden, an denen jeder störende Funken abblitzt und in die kein Fremdkörper mehr Einlass findet. Ein unterschiedliches Denken wird dort ausgemustert, das andere Aussehen negiert, die abweichende Meinung attackiert. Null Platz existiert dort in der Regel für hungrige Körper und suchende Seelen. Es gibt keinen Raum für störende Geister. Die Prostituierten, die ausländischen Einwanderer, die Unreinen, sie finden keinen Spalt mehr, durch den sie schauen, geschweige denn durch den sie hineinschlüpfen können. Ihnen bleibt im besten Fall die Wahl, die alle anderen für sich reservieren: unter sich zu bleiben.

Die vorherrschende Verfahrensweise ist dabei nichts anderes als ein gründliches Sandstrahlen: die Gentrifizierung der Emotionen, das Wegschleifen sämtlicher Berührungsängste.

Die einstige Warhol’sche Kurzschlusshandlung, sich mit der Maschine gleichzustellen, geht heute noch weiter. Laing diagnostiziert dem modernen Individuum derweil »einen Hunger nach elektronischen Kalorien, eine Sehnsucht nach einer künstlichen Spiegelwelt«. Der geklonte Narziss steht heute vor seinem selbst designten Teich, glücklich, selbstbestätigt, rein und zufrieden. Kein Raum existiert mehr für die Stimmen anderer, kein Fleckchen mehr für die Reflexion des Fremden, des Anderen. Die Neugier hat sich dabei schon lange verflüchtigt, ein furchtbar altes Wort, an dessen Stelle inzwischen eine weitaus effizientere Strategie getreten ist: die Absorption der Gefühle, die Suspendierung der eigenen Einsamkeit.

Olivia Laing fragt, und damit fragt sie – symbolisch und vielleicht auch gar nicht so symbolisch – einen jeden von uns: Wonach sehnen wir uns, wenn wir Bilder hochladen? Was geschieht, wenn diese Bilder zu den Referenzwelten werden? Und was gedeiht, wenn wir dieses Verfahren zu einer genuinen Kulturtechnik erheben? Laing meint dabei doch recht deutlich zu erkennen, wie sich im Großen und Ganzen eine totalitäre Expositionskultur etabliert hat und immer weiter etabliert. Totalitär, weil diese Schaufensterdenke letzten Endes nicht nur das Selbstwertgefühl erschüttert, sondern uns darüber hinaus das Bewusstsein für dessen Entstehung und Beschaffenheit generell raubt. Ausgeknockt, regelrecht pulverisiert wird damit die Bereitschaft, sich der Angst vor Austausch und Intimität überhaupt erst einmal zu stellen. Eine der weiteren Grundvoraussetzungen für Nähe und Gemeinschaft. Für ein gesellschaftliches Miteinander.

 

Wie kann man sich diese Gentrifizierung der Gefühle weiter vorstellen? Vor allem im urbanen Kontext? Nun, sie kommt einer inneren Flächenbereinigung gleich, einem Superhausputz, nach dem kein Krümel mehr auf dem Fußboden liegt, vor dem sich der Hausherr noch ekeln könnte. Der ultimative Traum eines jeden Diktators.

In den Städten ist dies vielerorts passiert. Hohe Immobilienpreise haben in vielen der Vorzeigemetropolen zu einer adretten Homogenisierung und Vereinheitlichung der städtischen Räume geführt. Kursweisend geschehen ist dies schon früh im New Yorker Meatpacking District, später in Harlem, in Brooklyn. Das Modell fand Gefallen. Heute hat die Gentrifizierung Städte in aller Welt gründlich umgekrempelt. Modernisiert. Herausgeputzt. Nivelliert. Verhübscht und ausgemüllt. Motto: Alles weg, was nicht passt. Alles raus, was stinkt. Alles entsorgen, was kein Prestige bringt und kein Geld.

Geschehen ist das in Berlin-Prenzlauer Berg, in Kreuzberg, Friedrichshain, Neukölln-Nord. In München das Glockenbachviertel, Haidhausen, Schwabing, Giesing. Vergleichbare Beispiele lassen sich in sämtlichen deutschen Großstädten finden, inzwischen in Ost wie West.

Diese Umstrukturierungsmaßnahmen können sinnvolle Ziele verfolgen. Alte Fassaden werden frisch verputzt, bröckelnde Hinterhöfe neu konzipiert. Es wird restauriert, saniert. Oft genug wird dabei umgestaltet, begrünt, begradigt. Oder es wird erhalten, wenn die Reize des schönen Alten ins Bild passen, das Neue gar aufzuhübschen vermögen. Wohnungen werden im selben Zuge modernisiert, Geschäfte ausgeschält, neu designt und neu vergeben. Die Viertel in den Städten bekommen ein neues Gesicht, dies nicht selten unter viel Gezeter, denn die Menschen haben nun einmal verschiedene Vorstellungen. Und eine solche Renovierung muss nicht immer schaden. Im Laufe der Zeit muss ein solcher Umstrukturierungsprozess vielleicht sogar irgendwann vonstattengehen. Das Facelifting urbaner Wohnflächen, inklusive Räumungsklagen, Demos und Protesten.

Es ist der Lauf der Dinge, mancherorts eine städtebauliche Notwendigkeit. Dass dabei geschmäcklerische Rangeleien an der Tagesordnung sind, dass die Preise steigen, Menschen gehen und Menschen kommen, auch dies ist bis zu einem gewissen Grad normal, gehört zum Wandel der Zeiten. Doch niemand muss sich groß umschauen, muss tiefschürfend überlegen, um zu erkennen, was im Laufe all dieser Rekonstruktionsanstrengungen noch geschehen ist. Man kann es nachlesen, es steht im Lexikon, in der Wikipedia, definiert unter dem Begriff der Gentrifizierung. Das Wort steht für den »Umstrukturierungsprozess in einer Stadt, bei dem die bisherige Bewohnerschaft eines Stadtteils durch Bewohner mit einem höheren Sozialstatus verdrängt wird«.

Inzwischen ist es ein altes Spiel. Pläne werden geschmiedet, Feststellungsverfahren in die Wege geleitet. Alte Anwohner beschweren sich, neue reservieren schon mal. Die Investoren haben längst die Bühne betreten, die Lokalzeitungen berichten, bringen Empörung, Argumente aus den verschiedenen Lagern, derweil das Zepter des Marktes Takt und Ton angibt und die Glättung vollstreckt.

Geschehen von Berlin bis Boltenhagen, von Nantucket bis Neu-Delhi. So vehement und flächendeckend hat sich die Gentrifizierung Bahn gebrochen, dass sich Organisationen allein mit dieser Thematik befassen und Romane darüber geschrieben werden.

Wir alle kennen inzwischen die realen Beispiele, kennen ihre globalen Spitzen, denn die Beautyfizierungen reichen sich inzwischen die Hand, als ginge um es um einen Staffellauf des großen Aufräumens. Venedig, Dubrovnik, Pisa oder Florenz dienen inzwischen als beispielhafte Prachtexemplare, die zeigen, was geschehen kann und was gleich mit ganzen Städten auch wirklich geschieht. Die bisherigen Einwohner können sich die Preise und Mieten nicht mehr leisten, sie müssen verkaufen, aufgeben, ziehen weg. Viele Städte werden totaltouristisiert, bis vom Overtourism die Rede ist. Auf Sylt ist dies vollzogen worden, am Chiemsee oder in Orten wie St. Moritz schon lange, in Städten wie Stuttgart, Dresden, Leipzig findet es in noch übersichtlichem, in Chinas Städten in megalomanem Stil statt. Noch vor 30 Jahren war etwa Shenzhen ein Fischerdorf am südchinesischen Meer, heute wird es als chinesisches Silicon Valley gehandelt. Über 500 Hightech-Firmen sind heute hier ansässig, über 1000 Unternehmen haben sich angesiedelt. Die Einwohnerzahl, nebenbei bemerkt, liegt inzwischen bei über zwölf Millionen.

Die urbane Aufpolierung wird heute, wenn auch in deutlich geringerem Maßstab, ebenfalls in Hunderten Kleinstädten vorangetrieben, sogar in unzähligen Dörfern und Gemeinden. Derweil Tourismusämter und Kataloge noch immer gänzlich ungeniert mit dem längst weggentrifizierten Charme werben. Dann lädt das »ehemalige Fischerdorf« zu Erlebnistouren, locken »alte Hafenmeilen« zu Sightseeing-Trips. Einstige Anwohnerstrukturen und Kulturmerkmale werden dabei zur Folklore degradiert, werden umgedeutet und als schmucke Etiketten alter Tage restgeschlachtet.

Das Hamburger Schanzenviertel ist ein anderes vielbesprochenes Beispiel. Lange wurde es klassifiziert als alternatives Wohnviertel, geprägt von Multikulturalismus, bewohnt und belebt von Studenten, Ausländern, Drogendealern, ganz normalen Bürgern. Bereits seit den siebzigern Jahren waren immer mehr Familien weggezogen, weil Grünflächen und Spielplätze verschwanden, der Verkehr zunahm. Studenten entdeckten das Viertel, weil es nahe der Universität lag und günstige Mieten bot. So wandelte sich die Schanze von der Familienwohngegend zu einem kleinen alternativen Tiegel.

Mit der New Economy um die 2000er Jahre ging es los mit jenem Prozess der Aufwertung. Erste kleine Firmen ließen sich in ehemaligen Fabrikgebäuden nieder, aus Cafés wurden Coffeeshops, der wichtigtuerische Begriff der Start-ups machte die Runde. Alsbald wurden die ersten Altbauten saniert, die Mieten teurer, das Klientel trug auf einmal Wollmützen, Laptops unterm Arm und Rap-Musik auf den Ohren.

Heute, noch einmal eine gute Dekade später, wirbt Hamburg aus vollem Halse mit seinem Schanzenviertel. Im Portal der Tourismusbehörde steht zu lesen: »Eine Menge neuer Läden hat eröffnet, die das Viertel in punkto Shopping attraktiver machen. Geschmackstrend der Schanzenläden: Jung und hip!« In den umliegenden Straßen des Künstlerviertels würden sich heute einzigartige, inhabergeführte Läden für Mode, Musik, Design, Accessoires und Dekoration versammeln. Und die Stadt Hamburg trompetet weiter: »Wer’s statt stressig lieber entspannt und mit Flair mag, wer Besonderes dem Durchschnitt vorzieht, der ist hier genau richtig.«

Mit roten Bäckchen der Begeisterung betitelt die Stadt ihre durchgestylte Schanze noch immer als »Künstlerviertel«, verpasst dem »Durchschnitt« en passant eine Ohrfeige und vergisst über all dem schönen Schein, was nebenbei auch noch geschehen ist – und im Zuge der Gentrifizierung fast immer geschieht. Inzwischen ließe sich sogar von der Gentrifizierung des Begriffs selbst sprechen, präziser von dessen Pervertierung, denn freiheraus werben inzwischen Baufirmen und Immobilienfinanzierer mit den sozialen Folgen des urbanen Sanierungsphänomens. So steht beispielsweise auf der Internetseite von haus.de, präsentiert von der Landesbausparkasse LBS, völlig ungeschminkt zu lesen:

»Auf der anderen Seite stehen die Verlierer: die arme Gesellschaft, die Verdrängten. Die Gentrifizierung beläuft sich auf deren Kosten. Das Wohnen in Städten wird immer teurer, dabei haben viele von ihnen einen Job und ihre Familie im Zentrum. Doch wer sich die Mietpreise nicht mehr leisten kann, muss woanders hin. Keine Chance! Die Geschädigten müssen ihre gewohnte Umgebung hinter sich lassen, sich von Vertrautem und dem Empfinden von Sicherheit verabschieden. Nicht selten kommt es zu Konflikten durch den Wechsel der Bewohnerschaft. Oftmals leiden die Schwächeren an schweren psychologischen Folgeerscheinungen. Im schlimmsten Fall kann der Zyklus in die Obdachlosigkeit führen.«

Was die Stadt Hamburg noch immer als Künstlerviertel beschreibt, als diversifizierten Treffpunkt für Jung und Hip, ist in Wahrheit zu einer homogenen Fläche geworden. Auf ihrer Bühne wandeln jetzt Uniformierte, die es sich leisten können, hier zu leben, und die es sich nicht mehr leisten wollen, das Andere zu ertragen.

 

Dass die Folgen des Gentrifizierungsgeschehens nicht wenige Menschen versprengt und wenn auch nicht immer gleich in die Obdachlosigkeit, sie doch zumindest in einen Zustand der Isolation und Vereinsamung treibt, dies ist unschwer zu erahnen. Doch was ist noch geschehen? Und was geschieht weiterhin – jenseits der sichtbaren Rahmen? Hinter den Fassaden der Wohngebiete, den Maskeraden der Städte?

Olivia Laing durchmaß bei ihren Erkundungen auch diese Sphären und erkannte am Ende eine offenkundige Parallele zwischen urbanen und gesellschaftlichen Entwicklungen, erkannte einen generellen Kurs im Denken und Handeln unserer Zeit. Die Gentrifizierung der Städte, resümierte sie, entspricht heute einer Gentrifizierung auch der Emotionen. Anders gesagt: Der Sanierung der äußeren folgte eine Sanierung der inneren Welten. Das eine wie das andere befeuert durch einen rigoros gepolten Markt, in dem die Macht des Schönen über die Angst vor dem Unschönen, dem Fremden, dem Anderen, dem Unreinen weitflächig gesiegt hat.

So spricht heute aus den Spiegelwelten des Internets eine »tiefe Angst vor Dissens« zu ihr, eine »Angst vor Schmutzigen und Ansteckenden, eine Zurückhaltung, unterschiedliche Lebensformen nebeneinander existieren zu lassen«.

 

Ich muss an die Hamburg-Werbung denken, an die Bilder Hoppers, an Warhols unerfüllte Sehnsucht nach Nähe, an Stelle derer er sich in dem gefahrlosen Empfindungshohlraum einer Maschine verkriechen wollte. Wie Laing sehe ich heute »die sterile Netzkultur« um uns herum, einen Ort der leichten, reibungslosen Emotionen, wo kaum gearbeitet und kaum reflektiert wird, wo die Bilder und Botschaften die Onliner anästhesieren, als hätten sie Beruhigungstabletten geschluckt. Substanzen gegen die eigene Angst.

Die Entsprechungen dieses hyperbequemen Wegduckens sind vielfach und weitflächig auszumachen. Sie lassen sich überall finden. In den Vakua der südkoreanischen Streamer und ihrer Follower, in den Meinungsenklaven der sozialen Medien, in den inzwischen sauber aufgeräumten und kategorisch separierten Vierteln vieler Städte. Und auch hier tritt ein Korrelat des allgemeinen Frohsinns zutage. Bindungen können einem dauerhaften Versprechen heute immer weniger standhalten. Dies gilt nicht nur für Ehen, Partnerschaften, Freundschaften, Beziehungen im Allgemeinen. Die Verpflichtung ist generell zur Last geworden, das Abstreifen von Gewähr und unbehaglichen Verbindlichkeiten zur salonfähigen Alternative. Zum Usus. Es sind die Praktiken der Wegwerfgesellschaft und einer schnelllebigen Welt, die längst in unsere Leben diffundiert sind. Wenn ich die Augen öffne, kann ich es fast vor mir sehen, kann spüren, wie sie sich manifestieren: die Scheuklappenwesen in den Scheuklappenwelten. Fast-Food-Intimität.

Und da ist nur jetzt noch eines, das mich überdies erschrickt. Denn das Schreckgespenst wohnt heute überall, zieht seine Bahnen durch sämtliche Sphären. So geistert es in die letzten Ritzen, bemannt die entlegensten Bastionen, pflanzt sich sogar in jene Seele, die es zu entlarven versucht. Und so erwische ich mich selbst dabei: nur eine Elritze zu sein im allgemeinen Flow.

Nein, nicht einfacher ist es geworden, das Dauerhafte zu wollen, das Störende zu suchen, das Fremde zu begrüßen, das Beängstigende zuzulassen und das Kontradiktorische zu verhandeln. Nein, wahrlich nicht einfacher gestaltet es sich in diesen modernen Zeiten, die Pein der Nähe zu überwinden, um vielleicht nicht ganz so einsam zu enden.

 

Was macht Laing einstweilen? Sie fabuliert, landet in anderen Höhen. Denkt über dieses Selbstanästhetikum nach, »das auftaucht in der Angst, dass wir eines Tages für immer einsam bleiben werden, die letzte Spezies, die diesen vielfältigen floralen Zierplaneten überlebt, der durch einen leeren Raum schwebt«. Welche Verheißungen aber werden sich noch vorher und schon bald erfüllen? In den nächsten Phasen, in den fortgeschrittenen Stadien?

Viele Orte in New York, der Times Square, die Fifth Avenue, werden von »unreinen Typen« nach und nach befreit. Vielleicht auch noch andere, vielleicht noch tausend andere Orte. Denn nur ein homogener, glatter Raum kann die leere Kultur der Konsumkultur gewährleisten. »Aber«, weiß Laing, »die Schließung des Stadtkerns wird Einsamkeit für alle bedeuten.« Während die krummen, sensiblen Existenzen schon lange in ihren Höhlen verschwunden sind.

So praktizierte es auch Henry Dager, dieser exponierte Nischenkünstler, der 40 Jahre lang als Handwerker in einem Krankenhaus arbeitete und sein ganzes Leben lang allein in einem »Hummer« lebte, einem winzigen Kabuff. Seine Kunst jedoch ist keine schizophrene Krankheitsgeschichte. Dagers Malerei öffnet vielmehr Räume, schafft Sphären der wiederholten Begegnung, die damit ihre eigenen überrealen Bereiche zugänglich machen.

Wohin führt dies? Wohin kann diese Spur uns tragen? Laing flog jetzt davon, schwebte längst in einem anderen Himmel, um zu versuchen, noch mehr zu verstehen, darunter vielleicht auch Dinge, die noch niemand kannte, wusste, wollte, begriff und begrüßte.

Sie tat gut daran.

Einsamkeit weckt normalerweise kein Einfühlungsvermögen, keine große Empathie. Doch Laings Studien über Künstler, über verzerrte und sozial exponierte Existenzen bestätigten sie in einer anfangs nur vagen Empfindung, die bald jedoch Form annahm, begreifbar wurde und schließlich weit über alle bisherigen Lösungsformeln zur Einsamkeit hinausging. Laing schaffte es, den Spieß umzudrehen, die Dinge anders zu sehen und in der furchtbar platten Angst ein nie gesehenes Hologramm erscheinen zu lassen. In der Einsamkeit erkannte sie nämlich auch eine »potenzielle Schönheit«, und so beugte sie sich über ihre Tastatur und schrieb bald die Zeilen auf ihren Bildschirm: »Vieles, was uns unter dem Gewicht der Einsamkeit erdrückt wird, rührt von dem Geheimnis der Geheimhaltung her. Es entspringt dem Gefühl, dass Verletzlichkeit verborgen bleiben muss. Weil wir der Unannehmlichkeit entgehen wollen, Narben verstecken zu müssen, als seien sie etwas Ekelhaftes.«

Was aber ist so peinlich daran, Sehnsucht zu verpassen? Nicht zufrieden zu sein, sondern traurig? Worin besteht die Scham vor dem Makel? Und was treibt den Menschen, sich von dieser Außenwelt nach innen zu wenden? »Wir brauchen Einsamkeit, und wir brauchen die Kunst, etwas davon zurückzugeben, das wir vermissen und verloren haben«, schreibt Laing am Ende ihrer Kontemplation. Und schließt auf ihrem Schirm mit den Zeilen: »Einsamkeit ist eine Erfahrung, die unsere innere Welt bereichern und unsere Gemeinschaft stärken kann.«

Wenn wir sie nicht hinter einer Maske verstecken. Wenn wir das Schöne am Menschlichen nicht nur in der makellosen, glatten, sterilen Perfektion suchen. Im Banalen.