Was kann noch helfen, wenn der Wille zur Gemeinschaft keinerlei Priorität mehr hat? Wenn die Wege zu Verbindung und Nähe erodiert sind und die Kultur des Kapitalismus ihre eigenen Kinder frisst? Gefragt sind emanzipierte Seelen, die dem Flexibilitätsregime Ungehorsam entgegensetzen. Gefordert ist eine souveräne Politik, die dem neuen Kapitalismus in die Speichen greift. Und dringend gebraucht sind Verantwortung und Verbindlichkeit als moderne Gesellschaftswerte. Nur so kann der Mensch als das soziale Wesen funktionieren, das er von Anbeginn war.
Wie wird unsere derzeitige Epoche einmal genannt werden? Das »Informationszeitalter«, von dem heute die Rede ist? Im Nachhinein wird man sicher erkennen, dass dieser Begriff durch und durch falsch ist. In Wahrheit zerbrechen gerade lineare Informationsapparate, werden die Gesellschaften von Buzzwords und Fake News in die Irre geführt. Anstatt verlässliche Realitäten zu formulieren, zerreißen verschwörerische Mythen Gewissheiten, Sicherheiten und moderne Praktiken verführen zu einem Einzelkämpfertum, das von wahrer Informiertheit oder gar Wissen weit entfernt ist.
Und noch etwas vermasselt der schmerzlich hohle Begriff des Informationszeitalters. Wie die Steinzeit oder die Eiszeit sagt die digitale Epoche wenig über unsere seelische Verfassung als Gesellschaft aus. Das Anthropozän, in dem der Mensch einen großen Einfluss auf die Biosphäre ausübt, unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von den vorherigen zwanzig Jahrhunderten. Der Blick in den kollektiven Seelenzustand fehlt. Ein Bewusstsein für das darunter liegende Grundrauschen überfliegen die üblichen Tagesgeschäfte notgeiler denn je. Atemlose Vorausdenke gibt es heute dafür on demand: Fortschrittsfieber, Gewinneifer, Heldenverehrung.
Welcher substanziell spürbare soziale Wandel kennzeichnet derweil unsere Zeit im Vergleich zu allen vorangegangen? Ich lege mich fest: Dies ist das Zeitalter der Einsamkeit. Denn wenn wir uns einmal die Mühe machen, das so grundlegende wie unsichtbare Sentiment zeitgemäß zu begreifen, offenbart sich die Einsamkeit als radikalster, folgenschwerster und am meisten unterschätzter Gigatrend unserer Zeit. Grund, vergnügt in die Zukunft blicken, gibt uns das nicht. Geraten Vereinzelung und Isolation nämlich weiter zu gesellschaftlichen Richtwerten, werden sie den Menschen als soziales Wesen zugrunde richten und seine Reise aus dem blanken Naturzustand in einen sozialen Kulturzustand zunichtemachen: Der Mensch ohne seinen nächsten ist keiner.
Schon als der englische Philosoph Thomas Hobbes Anfang des 17. Jahrhunderts behauptete, dass der philosophische Naturzustand ohne regelnde und zähmende Autoritäten uns in einen Krieg »von jedem Mann gegen jeden Mann« verwickelt hätte, konnte er falscher nicht liegen. Von Anfang an war der Mensch soziales Wesen, gefangen im Verhältnis zueinander, aufgefangen in der Abhängigkeit voneinander. Keine zwei Nächte hätten die Urmenschen Ostafrikas allein überlebt. Seither sind wir stärker als jede andere Art vom Kontakt mit anderen geprägt.
Das Zeitalter, das wir heute betreten, wird erstmals von völlig anderen Prämissen markiert. Nie wurden wir so vehement dazu aufgefordert, das Trennende als Optimum zu verinnerlichen, unsere Biographien derart abgespalten, isoliert und auf uns selbst bezogen zu entwerfen. Flüchtigkeit, Zerstreuung, Vereinzelung, Gefühlsvermeidung, Intimitätsscheu, Beziehungssabotage und Bindungsunfähigkeit sind die größten Treiber der modernen Zeit. Doch sie zerschießen und sprengen, worauf wir uns als Bevölkerungen, Teilgruppen und Familien jahrtausendelang verständigt haben.
Soziologie und Medizin weisen es nach: Einsamkeit breitet sich aus wie eine Epidemie, unter jüngeren wie unter älteren Menschen. Noch einmal: Betroffen sind über 14 Millionen Deutsche, über 40 Millionen Europäer. Gut und gern 20 Millionen allein in Japan, weit über 30 Millionen in den USA. Wie das Radionetzwerk NPR berichtet, geben in den Vereinigten Staaten sogar drei von fünf Amerikanern an, einsam zu sein. Und die Zahl der Betroffenen nimmt schnell und stetig zu. Mit tradierten Lesarten hat die neue Einsamkeit in den meisten Fällen allerdings wenig zu tun. Sie trifft uns anders, verworrener, deswegen jedoch nicht milder. Das Corona-Jahr 2020 wird die Zahlen drastisch in die Höhe treiben und der neuen Einsamkeit noch einmal ganz andere Dimensionen verleihen. Studien, die noch ausstehen, werden Ergebnisse bringen, mit denen wir erst später nachvollziehen können, was gerade geschieht.
Wahrscheinlich ist, dass nicht einmal Ebola jemals so viele Menschenleben gekostet hat wie die jüngste Pandemie; ihre weiteren möglichen Folgen nicht eingerechnet. Und doch ist Corona nur ein Nebenstrom, keineswegs das Hauptfahrwasser, in dem die neue Einsamkeit grassiert. Umso bewusster sollten wir uns der Konsequenzen sein, auf kurze wie auf lange Sicht. Soziale Isolation ist eine ebenso starke Ursache für einen frühen Tod wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Einsamkeit ist laut Untersuchungen doppelt so tödlich wie Fettleibigkeit. Aber auch andere Krankheiten treten häufiger und früher auf, wenn unsere Verbindungen zu anderen Menschen unterbrochen sind. Demenz, Bluthochdruck, Alkoholismus, Depressionen, Paranoia, Angstzustände. Und auch das ist längst erwiesen: Selbstmordraten steigen, die Zahl der »allgemein Bedrückten« wächst. Und das inmitten verheißungsvoller und sich rapide wandelnder Zeiten.
Ja, Fabrikschornsteine hören auf zu rauchen, Menschen wagen intelligente Mobilität, sie nutzen Netflix, YouTube, TikTok statt des alten Lichtspielhauses und haben das Leben mit dem Smartphone zum Normalzustand erhoben. Doch diese Verschiebungen allein erklären nicht die Geschwindigkeit unseres sozialen Zusammenbruchs. Die strukturellen Veränderungen wurden von Anfang an von einer lebensverleugnenden Ideologie begleitet, die unsere soziale Isolation erzwingt – indem sie diese belohnt. Die Religion unserer Zeit ist geprägt von einem überbordenden ökonomisierten Individualismus, getrieben von einer kapitalistisch getriebenen Konkurrenz und gerechtfertigt durch eine Mythologie scheinbar autonomer, in Wahrheit jedoch sich selbst verletzender Figuren.
Die »Generation Selfmade« bringt zum Ausdruck, wie egoman das alles vonstatten geht. Der Selfmade-Entrepreneur ist das Maß der Dinge, der Selfmade-Millionär der gottgleiche Heroe, der Selfmade-Influencer die aktuellste Version des angestrebten Erfolgsmenschen. Kaum ein Gespräch mit Jugendlichen ist heute noch möglich, ohne dass es um die immensen Followerzahlen der breiten Gesellschaft noch immer unbekannten Internetstars geht, gepaart mit Ratschlägen oder Überlegungen, wie die nächsten Zehntausend Follower eingesammelt werden könnten. Schon glänzen die Kinderaugen im Sog der digitalen Gefolgschaft. Im Zuge dessen ist das Kindsein in seinen Grundzügen pervertiert worden. Schon für die sozialsten Geschöpfe, die ohne Liebe nicht gedeihen können, ist die Idee von Gesellschaft durch das Dogma des Individualismus ersetzt worden.
In der reichen arabischen Welt, wo solche Modernismen oft noch schneller und geschmeidiger adaptiert werden als in westlichen Nationen, kursieren längst – zugegebenermaßen nicht ganz klischeefreie – Witze, die das Entwicklungsstadium auf den Punkt bringen. In Ländern wie Katar oder den Arabischen Emiraten ist ein guter Sohn der Sohn, der Sekunden nach der Geburt die ersten Sätze spricht: »Wo ist mein Smartphone? Wo ist mein Land Cruiser? Wo ist meine Kreditkarte?«
Es sind einer globalen jungen Generation ins Gemüt programmierte Leitlinien, die keineswegs nur für jene gelten, die mit goldenem Löffel ins Leben gleiten. Übertragen stehen diese Sätze ungeniert für einen universellen Denkmodus, wie die Gegenwart auf dem Planeten erfolgreich anzugehen ist.
Was zählt, ist das Gewinnen. Übrig bleiben: Kollateralschäden.
Britische Kinder streben nicht mehr danach, Lokführer oder Krankenschwestern zu werden – mehr als ein Fünftel sagt unverhohlen, »nur reich sein« zu wollen. Wohlstand und Ruhm sind nach solchen Umfragen die obersten und wichtigsten Ambitionen, die 40 Prozent der Befragten hegen. Die Konsequenzen eines solchen Gesinnungseifers lassen sich allüberall beobachten. Wir beenden Beziehungen früher, zählen immer weniger enge Freunde, kennen unsere Nachbarn nicht mehr. Und wen überrascht das – wenn wir systematisch dazu aufgefordert werden, wie streunende Hunde um einen Mülleimer zu kämpfen? Die Sprache spiegelt den Status eines solchen atomisierten Solidargefühls wider. Am anderen Ende des Spektrums steht darum ebenfalls selten die Gruppe – immerhin noch als versagende Gemeinschaft –, sondern das entwertete, ausgestoßene Individuum. Die schlimmste Beleidigung im Koordinatensystem der Erfolgsdiktatur wird darum meist im Singular ausgesprochen.
Wenn der Mensch zum Verlierer wird, zum Loser.
Wie stramm wir derweil allerorten eingeschworen werden, zeigen viele Beispiele. Eine der tragischen Folgen der Einsamkeit ist, dass sich die Menschen trostsuchend an ihre Fernseher wenden. Zwei Fünftel der älteren Menschen berichten, dass der flimmernde Gott ihre Hauptgesellschaft ist. Diese Selbstmedikation verschlimmert einerseits nur die Einsamkeit, weil menschliche Gesellschaft hier höchstens als Trugbild erscheint. Andererseits aber werden auch hier die Weichen sogleich wieder auf Erfolgskurs gestellt – nicht anders als auf allen anderen Medienkanälen, die heute zur Verfügung stehen. Und dabei ist es völlig egal, ob Alt oder Jung, Grün oder Gelb: Die generelle Strömungsrichtung ist immer dieselbe. Sie führt nach Babylon und Schlaraffenland, sieht Eva im Glück vor und Adam im neuesten SUV sitzen. Das Gegenteil ziemt sich nicht. Es ist verboten. Es stinkt.
Untersuchungen von Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Mailand zeigen, dass das Fernsehen exemplarisch den Marschbefehl vorgibt und das generelle Streben nach Wettbewerb beharrlich vorantreibt. Dabei verstärkt es eine Verhältnismäßigkeit besonders: die bedingungslose Kausalität von Einkommen und Glück, wobei die Definitionen beider Kategorien gleich mitgeliefert werden. Es ist die Uniformierung des menschlichen Zustands – von Fernsehen und neuen Medien beispielhaft exerziert. Einziges Ziel des medialen Cheerleadings: sicherstellen, dass ein Punkt der Ankunft, der anhaltenden Zufriedenheit nie erreicht wird. Das funktioniert formidabel. Forscher fanden heraus, dass diejenigen, die viel fernsehen, mit einem bestimmten Einkommensniveau weniger zufrieden sind als diejenigen, die nur wenig fernsehen. Fernsehen wie neue Medien beschleunigen das hedonistische Laufband unerlässlich. Sie zwingen uns, noch härter zu streben, noch schneller zu agieren, um einen Pegel der Zufriedenheit aufrechtzuerhalten.
Das Spiel ist nicht neu. Neu jedoch ist die Vehemenz, mit der die Menschen heute ganz bewusst in die Vereinzelung getrieben werden, um der Wurst blindlings hinterherwetzen zu können. Und es existieren Strategen, die diesen Generalkurs inzwischen immer zielgenauer designen und abstecken. Hinzu kommen ungeahnte Instrumentarien, die uns wie Autopiloten durch die Zeiten dirigieren. Eigenmächtiges Einschreiten so unerwünscht und unterbunden wie bei den beiden Abstürzen der Boeing 737 MAX.
Kurzum: Es gibt Profiteure der Einsamkeit. Konzernchefs von Tech-Firmen, die Gemeinschaft und Solidarität durch scheinbares Community-Building zerschlagen. Einsamkeit ist darum nicht nur ein Nebenprodukt des neuen flexiblen Kapitalismus. Einsamkeit ist das Ziel einiger, die Gesellschaften zersplittern lassen wollen für privatisierte Eigenzwecke. Dem Öffentlichen aber kann das nicht zugutekommen. Das Öffentliche wird seinen Tribut zahlen müssen.
Was gewinnen wir aus diesem Krieg der Einzelkämpfer und Solisten? Wettbewerb treibt das Wachstum an – aber dieses Wachstum kann uns nicht mehr reicher machen. Das oberste Prozent der Weltbevölkerung besitzt 48 Prozent des globalen Wohlstands. Allein: Selbst sie sind offenbar nicht (mehr) glücklich. Eine Umfrage des Boston College unter Menschen mit einem durchschnittlichen Nettovermögen von 78 Millionen US-Dollar ergab, dass auch sie über Angst klagen, unzufrieden und von Einsamkeit befallen sind. Viele von ihnen gaben an, sich auch finanziell unsicher zu fühlen. Um sicheren Boden zu erreichen, so die Aussagen, würden sie durchschnittlich etwa 25 Prozent mehr Geld benötigen. Ein Befragter sagte sogar aus, er würde erst dort ankommen, wenn er eine Milliarde Dollar auf der Bank habe.
Die Ziele aber sind definiert, die Kurse programmiert. Alles andere ist für die Katz. Zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel von 2020 auf 2021 – inmitten der zweiten Corona-Welle und während bis zum 23. Dezember 1718372 Millionen Menschen in Zusammenhang mit Covid-19 gestorben waren – hoben die Börsen ab zu historischen Höhenflügen. Das sagt alles. Dies und nichts anderes ist das Maß der Dinge. Das Maß des Strebens, das Maß des Lebens. Win-win.
Dafür haben wir die natürliche Welt auseinandergerissen, haben wir unsere Lebensbedingungen verschlechtert, unsere Freiheiten und Aussichten auf Zufriedenheit einem zwanghaften, atomisierenden, freudlosen Hedonismus übergeben, indem wir, nachdem wir alles andere verzehrt haben, anfingen, uns selbst zu jagen. Es erinnert an Michel Houellebecqs Roman Ausweitung der Kampfzone aus dem Jahr 1994, der von haltlos liberalen Wirtschaftssystemen erzählt, in denen die meisten schuften, viele in Arbeitslosigkeit und Armut ersaufen und nur wenige großen Reichtum erreichen. Houellebecq ahnte anscheinend, wohin uns das treiben würde. Seine Helden, Professoren, Informatiker, oft gut betucht und belesen – sie sitzen am Ende in der Ecke. Traurige Gestalten. Frustriert, deprimiert, tablettensüchtig und sämtlicher Illusionen beraubt. Allein, und ja: verdammt einsam.
Viele Soziologen und Beobachter des Zeitgeschehens sehen es nicht anders und gehen heute sogar noch viel weiter. Und auch ich mit meinen 30 Jahren kann es deutlich spüren, wenn ich mich umschaue und meine Antennen anschalte. Was ich sehe, entspringt keiner Romanhandlung. Ich sehe uns Menschen, die für die Sucht nach Sieg und Gewinnen gerade am Wesen dessen kratzen, was uns ausmacht: nicht der rücksichtslose Wettkampf, sondern unsere Verbundenheit untereinander.
Wenn wir diesen Kreislauf jedoch durchbrechen und wieder zusammenkommen wollen, müssen wir uns dem System stellen, in das wir gezwungen wurden und werden. Und wir müssen wissen: Hobbes’ vorsozialer Zustand war ein Mythos. Wir aber manövrieren uns gerade sehr real in einen postsozialen Zustand hinein, den unsere Vorfahren für unmöglich, für töricht und keineswegs lebensfördernd gehalten hätten. Stattdessen wird nunmehr ein Zustand wahr, in dem das Leben böse und einsam ist, brutal und lang. Auch dies war lange ein Mythos, basierend auf einem Verständnis der menschlichen Evolution, die auf das Buch der Genesis beschränkt war. Dieser Mythos wird jetzt durch die Religion unserer Zeit auf reichlich durchtriebene Weise Wirklichkeit: ein Fest des extremen Individualismus und des universellen Wettbewerbs.
Die daraus resultierende Einsamkeit? Sie ist unmenschlich. Sie ist tödlich.
Die »modernen« Krankheiten müssten eigentlich Anklage genug sein gegen ein System, das sie fördert. Angstzustände, Stress, Depressionen, Burnout, soziale Phobien, Essstörungen, Selbstverletzung und Einsamkeit. Sie treffen Menschen auf der ganzen Welt. Allein die jüngsten Zahlen zur psychischen Gesundheit von Kindern in England spiegeln diese globale Krise wider. Die Zahlen sind katastrophal und lassen schon rein statistisch auf eine Plage schließen.
Sicher gibt es viele Gründe für diese Not, aber es scheint mir, dass die eine tiefe Ursache überall dieselbe ist: Die ultrasozialen Säugetiere der Gattung Mensch, deren Gehirne verdrahtet sind, um auf andere Menschen zu reagieren, werden gerade auf nie zuvor gesehene Art und Weise auseinandergezerrt. Der wirtschaftliche und technologische Wandel spielt dabei eine große Rolle, maßgeblich aber ist die treibende Ideologie hinter allem. Obwohl unser Wohlbefinden untrennbar mit dem Leben anderer verbunden ist, wird uns gepredigt, dass wir vorrangig durch wettbewerbsorientiertes Eigeninteresse und extremen Individualismus gedeihen werden, durch das Gegenteil von Gemeinschaft, das Gegenteil von Kooperation. Es geschieht überall und zu jeder Zeit. Auch dort, wo wir es schon längst nicht mehr wahrnehmen. Getrieben werden wir in die Abkehr von Ineffizienz. Dabei macht das Menschen und Leben gerade aus: der Mut zur Ineffizienz.
In Großbritannien weisen Männer, die ihr halbes Leben in geschlossenen Räumen zugebracht haben, die junge Generation immer rigoroser dazu an, auf eigenen Beinen zu stehen. Schülern und Studenten trichtern sie gedankenlos eine Win-win-Doktrin ein, die nicht mehr weiß, wie es ist, sich an den Schultern anderer ausruhen zu dürfen, sich selbst als Räuberleiter anzubieten oder gar so etwas wie eine Löschkette der vielen Glieder zu bilden. In Englands Schulen und Colleges, an den Tresen der Bars und sogar im Parlament haben solche Denkmuster ausgedient. Das Bildungssystem wird stattdessen von Jahr zu Jahr brutaler, der eigene elitäre Weg immer erstrebenswerter. Limitiert auf den eigenen Horizont, den eigenen Spaß, den eigenen Lebensstil.
Wie sehen die Folgen einer derart singulären Justierung aus? Wie hat sich die seit Beginn des neuen Millenniums immer lauter zu hörende Losung Me, myself, and I inzwischen in unseren Leben niedergeschlagen? Beschäftigung und Arbeit sind vielerorts ein Kampf bis zum Ruhestand geworden, nicht selten bis zum Tod. Die modernen Aufseher der Armen schreiben die Schuld den wirtschaftlichen Umständen zu, bemühen gern den Begriff der Austerität. Derweil füllt Konsumismus die sozialen Lücken, laufen im Fernsehen die Gewinnshows und bringen die Discounter-Ketten die Supersonderangebote unters Volk.
Weit sind wir mit alldem davon entfernt, die Krankheit der Isolation zu heilen. Vielmehr intensivieren solche Mechanismen des Marktgeschehens den sozialen Vergleich – bis zu dem Punkt, an dem wir anfangen, uns selbst zu jagen. Zu einer offenkundigen Bewertung, wo wir in diesem Rattenrennen stehen, haben wir uns letztlich selbst entschlossen: durch die Ausstellung unserer Performances in den sozialen Medien. Social Media bringt uns zusammen und treibt uns auseinander, während wir unsere soziale Stellung freimütig selbst quantifizieren und erregt dabei zuschauen, wie wir Freunde sammeln, Follower anhäufen und Content multiplizieren.
Nein, Gemeinschaft, Nähe und Intimität gehen anders. Ich bin keine Mathematikerin, keine Physikerin, keine soziologische Theoretikerin. Aber ich verwette mein letztes Hemd, dass 70, nein, eher 80 bis 90 Prozent unseres weltlichen Strebens heute der Quantität huldigt und nicht auf Qualität abzielt. Wir, Gewinngeile und Siegesverrückte. Wir, nach schnellem Vorteil lechzend, nach makellosem Schein und mackenfreier Lackierung unseres Lebens. Selbstausbeutung in Lichtgeschwindigkeit. Im Wahnsinn toxischer Grenzverschiebung, entsagter Selbstliebe, einer Selbstverletzung, die uns Schlaf, Sex und Liebe raubt, sie ihrer Intimitäten entleert, stattdessen zu Konsumwerten aufpoliert. Der moderne Mensch entmenschlicht sich. Ein jeder von uns kann Symptome aus dem eigenen Leib herauslesen. Meine Symptome waren der Anlass, dieses Buch zu schreiben.
Die Äpfel, Birnen, Bananen, Orangen, Tomaten, Pilze, Zitronen und Zucchini in den Supermärkten sagen alles. Sie tragen keinen Makel, keinen Wurmstich, keine Beule; andernfalls verlören sie die Existenzberechtigung im Einkaufsregal. Wir wollen sie so. Perfekt in Form und Farbe, pervertiert in die Verfremdung und Künstlichkeit. Sonst kaufen wir sie nicht. Sonst ekeln wir uns vor ihnen. Mancher spricht so über andere Menschen.
Wie Rhiannon Lucy Cosslett brillant dokumentiert hat, wirkt das Prinzip der reinen und von allen Ecken und Kanten befreiten Konsumerwartung weit hinein in unser eigenes Leben. Vor allem Mädchen und junge Frauen verwenden und veröffentlichen längst routinemäßig Fotos, um sich glatter und schlanker zu machen. Die »Schönheits«-Einstellungen der Smartphones erledigen dies heute mit einem Fingerwisch, ohne dass wir noch fragen, hinterfragen, unterstellen. Es geschieht jetzt einfach. Die Post-Hobbes-Dystopie ist somit – nach all den Jahren – endlich wahr geworden. Der Krieg aller gegen alle. Und sogar gegen uns selbst.
Ist es ein Wunder, dass in den einsamen Innenwelten, in denen Berührungen durch Retuschen ersetzt werden, junge Frauen in seelischer Not ertrinken? Die schon erwähnte, kürzlich in England durchgeführte Umfrage ergab übrigens des Genaueren, dass sich jede vierte Frau zwischen 16 und 24 Jahren schon einmal selbst verletzt hat und jede achte an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. 26 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe sind von Angstzuständen, Depressionen, Phobien oder Zwangsstörungen betroffen.
Wie kann das alles sein? Wie konnte es so weit kommen? Und, noch wichtiger: Wie können wir es stoppen? Einfach wird der Weg aus dem Dilemma nicht und eine Richtlinienantwort dem Problem höchstens Hohn sprechen. Es erfordert Größeres. Es erfordert die Neubewertung einer Weltanschauung. Denn von allen Phantasien, die Menschen ersinnen und verbreiten können, ist die Vorstellung, dass wir es allein schaffen können, ein jeder für sich, die absurdeste und vielleicht gefährlichste, die es gibt. In Wahrheit wird es immer genau andersherum funktionieren.
Entweder wir stehen zusammen, oder wir fallen auseinander.
Am Anfang meiner Abenteuerreise durch die Einsamkeit war ich überzeugt, ein neuer Kollektivismus könnte helfen. Ich verlor mich in den klassischen oberflächlichen Anti-Einsamkeitsdogmen, dachte, es würde reichen, die Vereinzelten bloß zusammenzuschnüren. So würden Gesellschaft und Gemeinschaft doch wieder entstehen. Schnell fiel auf: So sozialistisch bin ich nicht. Ganz im Gegenteil begegnete mir immer wieder inszeniertes, künstliches Beisammensein, das ich gar als ungesund und destruktiv deklarieren wollte. Rechtsextreme, Pegidisten, nationale Bürgerwehren, die – über die erfundene Angst vor den migrantischen Feinden im Inneren, dem Mythos der von eigener Staatshand befohlenen Umvolkung und dem ernsten Willen, sich dem gemeinsam entgegenzustellen – urplötzlich in folkloristischem Heimatschutz verbunden stehen. Mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer diskutierte ich nicht nur einmal über die Sogkraft Donald Trumps: Nein, sein Erfolgsrezept war eben nicht Hass, Auseinander und Gegeneinander; seine widersinnigen Weltthesen einten gefühlte Verlierer der Moderne zu einem einzigen sozialen Aufstand gegen die Drehzahl der Welt. Was konnte verführerischer sein, als mit Brüdern und Schwestern gemeinsam den Aufstand gegen geheime Weltensteuerer zu proben?
Doch etwas anderes ist ebenso augenfällig. Auf der anderen Seite beenden moralische Kollektive politischen Widerstreit. In der Auflösung politischer Antagonie steht ein Teil der pluralistischen Gesellschaft kerzengerade, wenn es um Klimaschutz, Feminismus und Seenotrettung geht, erlaubt nicht einmal verschiedene Wege zum selben Ziel, entfremdet die Frage des Wie und den Streit widerstrebender politischer Interessengruppen durch den Befehl zum Ja. Von Journalisten wie Ulf Poschardt oder Alexander Kissler als unmündig und infantil diffamiert, eint die progressiven Kollektive nun zusätzlich das Gegenbild der rechten Blattschreiber und -macher.
Es nützt nichts: Ein Kollektiv, das nicht aus gesunder Offenheit, emanzipiertem Selbstwert, frei von Kompensationsdruck entsteht, ist keines. Es ist nur ein weiteres Abziehbild der ausgeweiteten Kampfzone des modernen Kapitalismus: die Inszenierung der Bindungsfähigkeit in einer Gegenwart der Bindungsunfähigkeit. Nach ökonomischen Gesichtspunkten wertvoll und begehrlich. Ansonsten: Einbahnstraße.
Mehr noch nährt sich meine Überzeugung: Der Druck, kompensatorische Kollektive erfinden zu wollen, sich ihnen in eingebildeter Selbstaufgabe anzuschließen, geht gar einher mit dem Verlust echter Bindungen und Intimitäten. Das Zeitalter der Einsamkeit aber erzeugt solche gefährlichen Nationalismen, Moralismen, politische Polarisierungen, erzeugt die wirkliche gesellschaftliche Sprechunfähigkeit.
Und was Makro gilt, gilt Mikro: War ich nicht selbst das eindrücklichste Beispiel für Kompensation und Inszenierung? Ständig, stetig unter Leuten, verkopft wie übersteigert in Liebesbeziehungen, obsessiv in der Idee, die eigene Bindungsfähigkeit ausstellen zu müssen. Klammheimlich aber wuchs das Leiden an Einsamkeit. Es war ihm durch oberflächliches Spiel eben nicht beizukommen. Und in Pandemiezeiten häuften sich schließlich auch die Beobachtungen aus dem Freundeskreis: Eigentlich längst kaputte Partnerschaften erlebten ein Revival. Bloß nicht allein sein im Lockdown.
Freilich mag man in diesen modernen Zeiten auch fragen, ob Einsamkeit nicht Zeichen eines Zugewinns an Freiheit darstellt. Soziale Bande waren historisch betrachtet schließlich fast immer Pflicht. Erst heute ist Singledasein statt Heirat selbstverständlich möglich, stellen Wohngemeinschaft statt Familienhaushalt, Co-Working-Space statt Kollegenstamm und Airbnb-Community statt Nachbarschaft offene Alternativen dar. Ist Einsamkeit also eher Beiwerk eines allgemeinen Privilegienzugewinns? Letztlich sogar Zeichen menschlicher Befreiung aus sozioökonomischen und anderen Zwängen? Steht das »nicht mehr zusammen sein müssen« demnach für eine Entlastung?
In Südkorea begegnete mir ein Phänomen, das ich zunächst als Beleg dieser Annahme las. »Honjok« ist eine Komposition aus den Worten honja (allein) und jok (Stamm). Als Anhänger dieser Einpersonenstämme wenden sich junge Menschen in Südkorea gegen ein Lebensmodell, das nach wie vor stark von konservativen Familienstrukturen geprägt ist. Vor allem Frauen entziehen sich zunehmend dem sozialen Druck, ihre Karriere für Ehe, Kinder und Küche aufzugeben. Die Geburtenrate in Südkorea zählt inzwischen entsprechend zu der niedrigsten weltweit. Und ein Drittel aller Haushalte in der Hauptstadt Seoul sind Einpersonenhaushalte. Doch Honjok ist bei weitem kein landestypisches Phänomen. Auch in Deutschland und den europäischen Gesellschaften etwa lebt jeder Fünfte allein. Tendenz deutlich steigend.
In Japan, wo die Solokultur »Ohitorisama« heißt, haben sich Gastronomie und Unterhaltungsbranche längst auf die gestiegene Nachfrage an Einzelaktivitäten eingestellt – mit Angeboten, um allein Essen zu gehen, zu reisen oder Karaoke zu singen. Restaurants bewerben das Dinner for one mit Spezialpreisen, Lebensmittel und Haushaltsgeräte sind an die Bedürfnisse von Singles angepasst. Karaokeräume können auch für nur eine Person gemietet werden; Kinos haben Einzelsitze mit Abstandswahrung aufgestellt. Schon lange vor Corona.
»Manche Menschen kommen in unser Leben und gehen auch wieder. Die intimste, beständigste und dauerhafteste Beziehung aber ist die, die wir mit uns selbst führen«, schreiben die US-amerikanische Gesundheitsberaterin Francie Healey und die chinesisch-kanadische Journalistin Crystal Tai in ihrem soeben erschienenen Buch Honjok – Die Kunst, allein zu leben. Den Autorinnen geht es darum, die Single-Existenz als gesellschaftlich gleichwertig anzuerkennen und nicht als »Resterampe« zu diskreditieren. Healey und Tai plädieren dafür, Alleinstehende nicht als »tote Äste« (China) oder »übrig gebliebenen Weihnachtskuchen« (Japan) zu verunglimpfen, sondern die Solokunst gezielt zu kultivieren. Daher appellieren sie auch an all jene, die als Paar oder in Familien wohnen, in sich zu gehen und zu überlegen, wie viel Zeit sie für sich brauchen. Denn die Honjok-Philosophie soll keineswegs eine Riege von Narzissten hervorbringen. Im Gegenteil: »Uns selbst Zeit zu widmen, erlaubt es uns, unsere Verhaltensmuster wahrzunehmen und infrage zu stellen«, schreiben Tai und Healey. Es geht um Eigenverantwortung, nicht um Egomanie. Sich aus dem Zwischenmenschlichen immer wieder herauszulösen, befördere unsere Empathie. Kontemplation verstehen sie als emotionales Krafttanken, um sich bewusst und tiefergehend auf Beziehungen einlassen zu können.
Da passt es nur, dass Honjoks eben auch untereinander verbunden sind. Sie tauschen sich darüber aus, wie es ist, allein zu essen (Honbap), ohne Gesellschaft zu trinken (Honsul), ohne Mitspieler zu spielen (Honnol), sie sprechen über Soloreisen (Honhaeng), den Kinobesuch ohne Freunde (Honyeong) oder das Shopping ohne Begleitung (Honsho).
In ihrem Buch machen die Autorinnen konkrete Vorschläge, wie sich der Honjok-Lebensstil erlernen lässt. Gefragt sind dabei Praktiken, die fernab von To-do-Listen einerseits und Netflix-Eskapismus andererseits liegen: Meditieren und Spazieren, Tagebuch schreiben und Handwerken. Allein ins Café gehen und die Umgebung betrachten. Nichtstun ist da keineswegs nichtsnutzig, sondern schärft die Sinne und lüftet den Geist. Das Introvertierte beflügele Ideen und Innovationen. Bei Besinnlichkeit, Müßiggang oder sogar Langeweile begegnet einem mitunter jedoch die wenig beliebte Schwester des Alleinseins: die Einsamkeit.
»Einsamkeit kommt von einem Fehlen an Verbindung, nicht von der Abwesenheit von Menschen«, erläutern Tai und Healey – und verweisen auf berühmte Individualisten wie Henry David Thoreau, der die Natur als »wohltätige Gesellschaft« empfand. Die eigene Einsamkeit zu spüren und sie eben nicht in digitalen Routinen oder hedonistischem Ausgang wegzukompensieren kann also nicht nur bereichernd und befreiend sein, sondern sogar gesund. »Es erfordert Mut, allein zu sein«, erklären Tai und Healey. »Wir riskieren dadurch, jenseits der Gruppendynamik und unserer etablierten Identität zu entdecken, wer wir sind.« Ein vielversprechendes Wagnis.
Noch deutlicher sagte es schon Friedrich Nietzsche. Für ihn war Einsamkeit der intime Resonanzraum seiner Entlarvungspsychologie. Er entdeckt in der »Einsamkeit an sich selbst« Reaktions- und Deutungsmuster auf Reize aus der sozialen Umwelt, die er verallgemeinert und in denen er Konstitutionsmechanismen des Menschlichen, Allzumenschlichen erkennt. Und diese Mechanismen gehören laut Nietzsche zur Entstehungsgeschichte des Menschen schlechthin. In der Einsamkeit wird gewissermaßen alles größer, was man in sich birgt. Sie wirkt – unbeirrt ertragen – wie ein Brennglas über seelischen Regungen und Energien. Erst durch die Loslösung dieser Gefühle von gesellschaftlichen Normen können sich diese dehnen und strecken, können in Reinform präpariert und seziert werden. Und erst dann werden uns Gedanken, Gefühle und Regungen bewusst, die im gesellschaftlichen Anteil unserer selbst vermummt und stumm waren. Nietzsches entlarvende Einsichten zur Wirklichkeit unserer Bosheit und kompensatorischer religiöser Praktiken, die Bedeutung asketischer Ideale für uns, die Psychologie des Ressentiments, der Moral als Rache- und Machtinstrument – ohne den Willen, die vertiefte Einsamkeit für die Reflexion zu nutzen, kaum denkbar.
Das südkoreanische Honjok und verwandte Phänomene schauen also nicht idealisierend auf den Zustand des Vereinzelten, Zersplitterten, Einsamen. Sie meinen die bewusste Abkehr von ungesunder Einsamkeitskompensation und arbeiten an den Grundvoraussetzungen für wirkliche Verbindung, Bindung und Intimität: dem gesunden, starken, freien Ich. Ein Ich, das in der Lage ist, sich dem Risiko der Gefühlsverletzung, der Enttäuschung, der Ablehnung auszusetzen. Ein Ich, das zugleich viel weniger und doch so viel mehr ist als der Homo oeconomicus der Risikovermeidung: Mensch nämlich, einfach nur Mensch, durch und durch.
Einsam ist nicht derjenige, der sein Alleinsein spirituell nutzt, aus sich schöpft, sich kennenlernt und lernt, sich auszuhalten. Einsam ist, wer unter der Niedertracht kapitalistischer Ideologien, technologischen Totalitarismen, der Beschleunigung der Postmoderne aus den Fugen gerät, sich ohnmächtig unseren menschengemachten Systemen unterwirft. Die globale Klimabewegung aber ist ein Beispiel dafür, dass Ungehorsam und Aufstand möglich sind.
Was bedeuten all diese Befunde nun? Der Narzissmus, die Angst, die Fragilität der kapitalistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? Sie bedeuten, und das ist die Neue Einsamkeit, dass die heutige Einsamkeit zu weiten Teilen nicht in der unverschuldeten Verwaisung des Einzelnen in trostloser, menschenleerer Landschaft liegt, sondern ganz umgekehrt in der verstörten Unfähigkeit zur Intimität. Für Staat und Gesellschaft heißt das: Mit externen Faktoren und oberflächlichen Verkupplungsgedanken lassen sich wahre Anti-Einsamkeit und damit Bindung und Intimität nicht vorschreiben. Und auch nicht herstellen. Mit Projekten wie Nachbarschaftsgenossenschaften oder Mehrgenerationenhäuser lässt sich der Einsamkeit zwar oberflächlich beikommen, doch ist dies höchstens klassische Symptombehandlung. Die wahren Ursachen liegen tiefer. Und somit auch die Hebel, um die Herausforderung wirklich anzunehmen.
Was also hilft im Kampf gegen die Epidemie der Einsamkeit? Die offene Erforschung des Themas und eine genuine Debatte darüber, zudem ein interdisziplinärer Blick, der über alle Politikfelder hinausgeht. Institutionell eingestellte Zuständigkeiten sind gefragt, Verantwortlichkeiten und Haftbarkeiten. Daneben müssen wir den Gesundheitsbegriff einer Komplettreform unterziehen, denn hier hängen wir noch immer an der linearen Fortsetzung unseres industriellen Verständnisses fest, wo es lediglich um die Behandlung physischer Erkrankungen und Verletzungen geht. Es muss ein Mental-Health-Zeitalter beginnen: Gesundheit und Krankheit der menschlichen Seele müssen neu verstanden, Investitionen in den Bereich präventiver Bestrebungen verschoben werden. Wir müssen ferner soziale Orte neu erarbeiten, brauchen Offenheit statt starren Plan, agile Infrastrukturen als Pfad der Gemeinsamkeit statt statisch abgrenzbare Straßen, neue Orte der Öffentlichkeit durch digitale und partizipative Räume, sicher auch eine neue Kultur der Einbindung der Alten.
Es gibt politisches Interesse, sich gegen all das zu stemmen. Stattdessen wollen die Akteure die Vereinzelung weiter fördern, wollen Segregation bestärken, Mobilisierung verhindern und Solidarität zerschlagen. Der Aufstand gegen solche Engstirnigkeiten wird darum nur den Vielen gelingen. Erst wenn Millionen Schüler ihre Schulpflicht bestreiken, anstatt dass jeder einzelne sein Pausenbrot in wiederverwendbares Altpapier wickelt, wird Umweltschutz zur politischen Angelegenheit. In unserer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft braucht es einen neuen Arbeiteraufstand, muss eine neue soziale Frage verhandelt werden. Ich bin jedoch noch immer Christdemokratin genug, um nicht an eine sozialistische Umkehr zu glauben. Sicher ist aber: Arbeitnehmervertretung, Gewerkschaftsaufgabe, Tarifautonomie kann in dieser fragmentierten Vertretungskultur neuer Wirtschaft nicht mehr funktionieren. Es braucht neue Modelle der ökonomischen Partizipation, mindestens die offene Verhandlung von Teilhabe. Die Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft, einer wirtschaftlichen Ordnung, die in ein gesellschaftliches Wertesystem von Verantwortung und Verbindlichkeit eingebettet ist. Eine Politik, die souverän, emanzipiert, aufrichtig und tollkühn genug ist.
Am Ende müssen wir entscheiden: Erziehen wir einander zu wachstumsorientierten Spielfiguren oder zu kooperativen, beziehungsfähigen Menschen, die Intimität wagen? Letzteres wäre mein Wunsch, mit fliegenden Fahnen, unbedingt. Doch dafür braucht es den Mut zur Nichtlinearität, zur Nichtglätte, zur Ineffizienz.
Und noch ein Grund spricht dafür. Mehr als alles andere. Das Bedürfnis nach Nähe ist nämlich nicht nur systemrelevant, es ist Zeichen von Lebendigkeit. Es ist das einzige Mittel gegen Dürre und Tod. Darum verdient das Thema der Neuen Einsamkeit auch mehr als nur gesellschaftliche Sprechfähigkeit. Wir dürfen das Bedürfnis nach Zusammensein nicht leugnen, wir müssen ihm eine Stimme geben, ein Gesicht, eine Lobby. Das wäre geboten. Eine Armee der Fühlenden.