George Wilson hatte keine Ahnung, wie er seine Frau aufhalten konnte. Maggie Wilson erhob sich, griff nach ihrer Handtasche und begann unsicher zu schwanken. „Oh“, rief sie überrascht und ließ sich in den Sitz zurück plumpsen.
„Was hast du, Liebes?“, fragte er besorgt und erleichtert zugleich.
„Ich weiß nicht”, meinte sie unsicher. „Mir ist auf einmal so schwindlig.“ George kannte den Grund: Die erhöhte Dosis der Tropfen schien ihre beruhigende Wirkung zu entfalten.
Maggie fächelte sich mit der Eiskarte etwas Luft zu. „George, du musst mir einen Gefallen tun! Gehe du hinüber. Sei behutsam und stelle keine unnötigen Fragen. Das hat Zeit. Wichtig ist nur, dass du ihn gut festhältst, damit wir Eric nicht ein weiteres Mal verlieren.“
„Gut, einverstanden.“ George erhob sich. Was sollte er jetzt machen? Einigermaßen ratlos schlich er zum Büfett, kam am Hoteldirektor vorbei, nickte ihm kurz zu und lud sich einen beachtlichen Stapel Gurkensandwichs auf den Teller.
Dann trat George Wilson an den Tisch von Eric Wilson. Was sollte er nur sagen? Zögernd blieb er stehen, aber Maggie machte ihm mit der Serviette ermutigende Zeichen. „Ist hier noch frei?“, fragte er schließlich.
Der Mann senkte die Zeitung, blickte kurz zum Nachbartisch mit den Anzugträgern und nickte stumm. Als George sich setzte, nahm der Fremde sein Feuerzeug von der Tischmitte und stellte es weiter links auf. Aus der Nähe stimmte das Aussehen des Mannes noch weniger mit dem ihres Jungen überein. Die Nase wirkte für das Gesicht ein wenig zu klein und der Mund zu breit. Das konnte unmöglich ihr gemeinsamer Sohn sein, dachte George. Aber wenn Name und Geburtsdatum richtig waren? Er wusste nicht, was er glauben sollte. Auf jeden Fall musste er sehr vorsichtig vorgehen. „Verzeihen Sie“, begann er.
Der Fremde senkte die Zeitung ein kleines Stück und sah ihn ungehalten an.
„Meine Frau und ich konnten rein zufällig an der Rezeption aufschnappen, dass Sie Wilson heißen.“
Der Mann folgte Georges Blick zu Maggie und nickte ihr kurz zu. Vor Freude applaudierte sie geräuschlos mit ihren Händen.
Himmel, dachte George entsetzt, das würde alles noch ganz furchtbar enden. „Das ist richtig“, bestätigte der Fremde nicht gerade freundlich.
„Eric Wilson?“
„Das stimmt. Ich bin Eric Wilson. Wozu wollen Sie das wissen?“
„Ja“, sagte George dumpf und seine Blase begann zu zwicken. Wozu? Was sollte er jetzt sagen? Wie sollte er beginnen? Er wusste, dass ihn Maggie nicht aus den Augen ließ, aber als er sich ein wenig nervös umsah und dabei lockernd an seinem Hemdkragen zog, fixierte ihn auch noch Barnsby. „Genau gesagt ist es so“, begann er ein wenig umständlich. „Sie sehen jemanden ähnlich, sogar verblüffend ähnlich, den meine werte Gattin und ich kennen. Sogar gut kennen.“
„Und wer soll das sein?“, brummte Eric Wilson unwillig.
„Nun … “ George fuchtelte mit seinen Händen herum. „Also nicht direkt Sie“, ruderte er zurück. „Ich denke, wir kennen möglicherweise Ihre Eltern … “
„Das glaube ich kaum“, erwiderte Eric Wilson und zupfte kurz an seinem Ohr herum. Merkwürdig, trug er etwa ein kleines Hörgerät? Vielleicht hatte das Wasser Eric damals so weit in die Tiefe gezogen, dass sein Trommelfell in Mitleidenschaft gezogen worden war. Womöglich hatte ihn ein Fischkutter gerettet, der gerade auf dem Weg nach Marokko war … Und wieder begannen all diese verrückten Gedankenspiele – wie seinerzeit nach dem Verschwinden Erics. Jahrelang schien keine mögliche Erklärung abwegig genug zu sein. Immer waren ihnen neue Geschichten eingefallen, die jedes Mal zu einem anderen Ende als dem von der Polizei angenommenen Tod durch Ertrinken geführt hatten. Irgendwann konnte George Wilson den unendlichen Schmerz nicht mehr aushalten und hatte innerlich abgeschaltet. Auch jetzt wollte er nicht wieder in diese qualvolle Zeit zurückfallen. Rasch schüttelte er den Kopf. „Und warum nicht?“
„Weil meine Eltern seit über 30 Jahren tot sind“, erklärte Eric Wilson und ließ dabei seinen Blick durch den Saal schweifen. „Mausetot. Reicht das?“
„Mein Beileid.“ George schluckte. Noch eine Gemeinsamkeit, wenn auch eine verdrehte. „Hören Sie“, sagte Eric Wilson gereizt. „Sie dürfen gerne sitzen bleiben, aber ich möchte mich nicht unterhalten.“
„Bitte”, setzte George nach. „Erlauben Sie mir noch eine letzte Frage … “
„Nur, wenn es wirklich die letzte Frage ist.“
George nickte eifrig. „Darf ich vielleicht erfahren, wie ihre Eltern hießen?“
„George und Maggie Wilson“, sagte er und hob wieder die Zeitung an. „Guten Tag.“ Wie war das möglich? Eric Wilson schnaufte hörbar.
„Dürfen meine Frau und ich Sie vielleicht heute Abend zum Dinner einladen?“
„Sie gehen mir jetzt wirklich auf die Nerven, wissen Sie das?“ zischte Eric Wilson. Er stand auf, schnappte sich sein Feuerzeug und verließ den Saal. George starrte auf den Teller mit seinen Gurkensandwichs. Er hatte noch keines davon angerührt.