George Wilson stützte seine Ehefrau auf dem Weg in den belebten Speisesaal des Graynard Owl. Zur Teatime war kaum noch ein Tisch frei. Überall saßen ältere Ehepaare, vereinzelt Witwen, ein paar merkwürdige Gestalten in dunklen Anzügen oder Männer, die Zeitungen lasen. Direktor Barnsby unterhielt sich gerade mit einer amerikanischen Familie, deren zwei kleine Kinder um den Tisch herumsprangen.
„Ich wünschte nur, du würdest auf mich hören, Liebes“, erklärte George fürsorglich. „Es wäre wirklich besser, wenn du dich erst mal kurz auf dem Zimmer ausruhst, bis du nicht mehr so schwach auf den Beinen bist.“
„Nein, nein, nein!“ Ruckartig löste sich Maggie aus seiner Umarmung und steuerte wacklig auf den letzten freien Platz im Wintergarten zu. „Wie könnte ich denn in so einem Augenblick Ruhe finden? Mich hat nur die Freude überwältigt, endlich unseren geliebten Eric wieder zu sehen.“
George blickte nervös zu den spielenden Kindern und dem Hoteldirektor „Hast du ihn angesprochen?“
„Nein“, antwortete sie mit weißen Lippen und setzte sich. „Ich war von seinem Anblick viel zu überrascht. Stell dir vor, er ist richtig groß geworden … ”
„Groß geworden?”, fragte George und verbarg rasch die verwünschten Steckbriefe unter dem Kissen seines Sitzes, bevor Barnsby sie noch entdeckte.
„Ja”. Maggie trocknete ihre Freudentränen mit einer Serviette. „Richtig erwachsen. Ich kann es immer noch nicht so recht fassen.“ Dann lächelte sie vielsagend. „Aber ich kenne seine Zimmernummer: 522.“
George nickte und rückte ihr den Korbsessel zurecht. „Bitte warte einen Moment und rühr dich nicht vom Fleck. Ich hole dir nur ein Glas Wasser.“
Er lief am Gebäck und den Sandwichs vorbei. Bisher hatte sie noch nie einen Erwachsenen für ihren Sohn gehalten. Vor den Wasserkaraffen kramte er aus seiner Jackentasche ein kleines Fläschchen hervor. Bei ihren letzten Aufenthalten hatte dieses Mittel wahre Wunder bewirkt, dachte George. Gleich am ersten Tage hatte er es allerdings noch nie gebraucht. Er tröpfelte ihr eine deutlich höhere Dosis ins Glas. Maggie leerte es in einem Zug.
Als George noch Tee holte, verließ gerade die amerikanische Familie den Saal.
„Nach der ganzen Aufregung wird uns beiden eine heiße Tasse Tee sicher gut tun“, meinte er zu seiner Frau. „Ich könnte uns noch ein paar Scones bringen, Liebes, oder ein Gurkensandwich.“
„Gütiger Himmel!“ Sie schüttelte verständnislos, aber freundlich den Kopf. „Wie kannst du in so einem Moment nur ans Essen denken?“
Es war ja nur eine Frage der Zeit gewesen, sagte er sich, bis sie vollkommen den Verstand verlieren würde. Insgeheim macht sich George wegen der Geschichte mit dem Zusatzbett Vorwürfe.
„Sieh nur!“, rief Maggie beglückt und wies mit dem Kopf zur Tür. „Da kommt er.“ Vor Schreck verschüttete George Wilson seinen Tee.
„Jetzt schau ihn dir doch nur mal an!“, sagte sie stolz. „Ich muss sofort zu ihm hin.“ Sie machte Anstalten, sich zu erheben.
„Warte“, bat George und wischte seine nasse Hand an der Hose ab. Der fremde Gast dürfte sicherlich alles andere als verständnisvoll reagieren, wenn ihm eine verwirrte, alte Dame um den Hals fiel.
Der Hoteldirektor würde jedenfalls nicht lange fackeln, daran hatte George keinen Zweifel. Besorgt warf er einen Blick zu Barnsby, der prüfend das Büfett abschritt. „Worauf denn warten?“, fragte sie entrüstet. „Ich habe über 30 Jahre gewartet. Das ist doch lange genug, findest du nicht?“ Sie wollte schon loslaufen, doch George hielt sie zurück. Er musste Zeit gewinnen. „Ich will ihn mir erst ansehen“, erklärte er. In Maggies Blickrichtung stand ein schlanker Mann, Ende 30, im grauen Anzug mit roter Krawatte und einer Zeitung unter dem Arm. Er spielte mit einem goldenen Feuerzeug und durchquerte jetzt den Saal, um sich eine Tasse Tee zu holen. Am verwaisten Tisch der amerikanischen Familie nahm er Platz.
George betrachtete den Fremden mit den braunen, gescheitelten Haaren und der randlosen Brille. Dieser unauffällige Durchschnittstyp sollte Eric sein? Er konnte beim besten Willen keinerlei Ähnlichkeit mit seinem Sohn entdecken. „Tut mir wirklich leid, Liebes”, sagte er wahrheitsgemäß, „aber das kann unmöglich unser Sohn sein.“
Ungläubig sah sie ihn mit großen Augen an. „Und wieso nicht?“
„Eric hatte doch große, abstehende Ohren.“
„Aber natürlich ist er das.“ Sie winkte gelassen ab. „So etwas lässt sich heutzutage mit einer kleinen Operation rasch beheben. Du weißt doch selbst nur zu gut, wie sehr er schon als Kind immer darunter gelitten hat.” Sie nahm einen Schluck Tee, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. “Aber ich muss zugeben“, räumte sie ein, „dass ich ihn auch nicht gleich erkannt habe.“
Maggie Wilson lächelte. Sie lächelte und sah dabei um Jahre jünger aus. Und als sie auf einmal unvermittelt seine Hand packte, kurz drückte und ihn durch und durch warmherzig anstrahlte, war George davon für einen Moment so gerührt, dass ihm fast selbst die Tränen in die Augen stiegen. Er fragte sich, wie er die drohende Katastrophe noch aufhalten konnte. „Aber woher willst du denn wissen, dass es tatsächlich Eric ist?“
Siegesgewiss lächelte sie ihn an. „Weil ich es selbst gelesen habe.“
„Gelesen?“
„Ja“, beharrte sie. „Stell dir vor, als ich mich gerade an der Rezeption wegen des fehlenden Bettes beschweren wollte, sah ich, wie er seinen Meldezettel ausfüllte: Eric Wilson. Er hat immer noch eine sehr schöne und gleichmäßige Schrift.“
„Aber Liebes“, widersprach George vorsichtig. „Wilson ist ein Allerweltsname und Eric Wilson können doch viele Menschen heißen!“
Maggie hob ihren Zeigefinger. „Aber nicht Eric Reginald Emerald George Wilson. Reginald nach meinem und Emerald nach deinem Vater. Weißt du noch? Und George wegen dir, George … “
„Das stand wirklich so da?“, erkundigte er sich ungläubig. George hatte einmal gelesen, dass Wahnvorstellungen sehr konkrete Formen annehmen konnten. Aber das half ihm in diesem Moment auch nicht weiter.
„Du hältst mich sicher für verrückt, stimmt’s?“ Sie lachte aufgeregt. „Doch ich schwöre dir bei allem, was mir heilig ist: Ich habe es schwarz auf weiß gesehen – und es gibt noch eine weitere Übereinstimmung.”
Erwartungsvoll blickte er sie an.
„Sein Geburtsdatum”, sagte sie, „ist ebenfalls absolut identisch. Und jetzt lass uns endlich unseren Jungen in die Arme schließen.“