In dem Heinrich inkognito in Reykjavík eintrifft und die Grabstätte seiner Mutter sucht.
Die Landung, den gemächlichen Flughafen und die endlose Fahrt in die Stadt erlebte Heinrich Lieber wie aus weiter Ferne, als befände er sich in Trance. Der Bus schwebte lautlos über erstarrte Lava, entlang dem schwach glitzernden Meer und über seltsame, wie von innen leuchtende Moosteppiche. Heinrich fiel es schwer, als Realität zu akzeptieren, was er mit eigenen Augen sah. Als guckte er einen Film. Vielleicht war er einfach nur müde. Das matte Licht liebkoste seine Augenlider, der Bus wiegte ihn, das Brummen des Motors trug ihn fort. Als er ausstieg, verfing sich feiner Regenstaub in seinen Wimpern. Heinrich strich sich übers Gesicht, und seine Hände waren nass.
Im Hotelzimmer angekommen, wusch er sich flüchtig, fühlte sich müde und lebendig zugleich. Das Wasser roch nach faulen Eiern. Schwefel. Vulkanisch. Das war zu erwarten, er hatte davon gelesen, aber die unmittelbare Präsenz der Vulkane überraschte ihn trotzdem. Unten im Restaurant aß er zu Abend, Lammfleisch, Kartoffeln und ein Leichtbier (dabei hatte er einfach nur Bier bestellt), ganz gut alles, doch er war in Gedanken nicht bei der Sache und konnte deshalb das Essen nicht gebührend genießen.
Wieso hatte seine Mutter zwischen Lava und Moos leben wollen? Hatte sie völlig den Verstand verloren, damals nach dem Krieg? War durchgedreht, abgehauen, untergetaucht? Und was hatte er hier verloren? Hatte er das Durchdrehen von seiner Mutter geerbt, trug er es in seinen Genen? Und wenn auch er hier in Island den Verstand verlöre und nie wieder nach Graubünden zurückkehrte? Wer würde ihn holen kommen? Wer würde ihn überhaupt vermissen?
Plötzlich fasste ihn jemand an der Hand. Heinrich erschrak heftig und zuckte dabei so sehr zusammen, dass das ganze Bett wackelte, stieß die Hand weg. War er eingeschlafen? Hatte er nur geträumt? Er schaute sich im Zimmer um, doch er war allein. Natürlich war er allein. Natürlich hatte er geträumt.
Sein Mund war verklebt und schmeckte faulig, wie das Wasser aus dem Hahn. Draußen war es hell, die Sonne warf ihre Strahlen bis an die hintere Zimmerwand und blendete ihn. Er schaute auf seine Armbanduhr und erstarrte. Elf Uhr fünfundvierzig. Er muss also die ganze Nacht und den
Im Hotel war es totenstill, die Rezeption war unbesetzt. Draußen schlug ihm kalte, feuchte Luft entgegen. Außer dem Wind, der um die Häuserecken säuselte, hörte man nichts. Kein Auto, keine Touristen, keine Straßenarbeiter, keine Menschenseele, nichts. Heinrich blieb wie angenagelt stehen und schaute wieder auf seine Armbanduhr. Null Uhr null acht. Er schlug sich die flache Hand an die Stirn, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Er hätte es wissen müssen. Der isländische Sommer, so hatte er gelesen, kennt keine Finsternis. Auch wenn die Sonne ihn jetzt blendete, war es tiefste Nacht.
Heinrich Lieber schlich sich zurück zum Hotel, doch die Tür war verriegelt, er musste den Nachtportier, der wohl im Büro eingeschlafen war, mit konstantem Klopfen wecken. Schließlich kam er angeschlurft, öffnete die Tür, blinzelte ihn stirnrunzelnd an und gewährte ihm Einlass.
Abendspaziergang, murmelte Heinrich verlegen. Walking, fresh air …
Der Nachtportier nickte müde und verschwand wieder im Büro hinter der Rezeption. Im Zimmer zog sich Heinrich bis auf die Unterhosen aus und kroch ins Bett. Lange
Gegen Ende des Sommers, wenn das Wetter schlechter wurde und es wenig zu tun gab, lag ich abends nicht ganz so erschöpft im Bett und starrte auf die Holzbretter über mir. Manchmal zog ich mich dann wieder an und schlich mich aus dem Haus, unternahm Abendspaziergänge durch taufeuchte Wiesen, entlang glucksender Bäche, erklomm Heiden und ließ meine Blicke über die Fjordlandschaft schweifen, stellte mir vor, wie ich als Seemöwe über die Kante des Bergplateaus hinaus aufs offene Meer segelte, der sinkenden Sonne hinterher. Ich liebte diese schier unendlichen Abende, wenn sich die Sonne nur eine Handbreit hinter dem Horizont versteckt hielt. Es waren Stunden, in denen die Vogelwelt zum Leben erwachte. All das Gepfeife, Gezwitscher und Geträller! Das Leben fühlte sich in dieser Symphonie der Natur überwältigend an. Ich labte mich daran wie ein Wüstengänger am Brunnen einer Oase. In diesen Stunden gab es den Tod und das Verderben meiner Vergangenheit nicht mehr. Endlich war es mir gelungen, den Ruß und den Geruch des Sterbens aus den Haaren zu waschen. Endlich war ich angekommen. Ich breitete meine Flügel aus und beschloss zu fliegen.
Erst blieb Heinrich eine ganze Weile untätig sitzen, rechnete damit, dass der Busfahrer sich sogleich wieder hinters Steuer setzen würde, wartete und wartete. Dann wagte er einen Blick auf den Fahrplan draußen beim Unterstand. Demgemäß würde der Bus erst in einer halben Stunde zurückfahren. Also setzte sich Heinrich wieder auf seinen Platz und blieb artig sitzen, bis der Busfahrer, den letzten Bissen seines Hamburgers kauend, die Fahrt fortsetzte und über Umwege zurück ins Stadtzentrum fuhr. Und so traf Heinrich erst am Nachmittag auf dem Friedhof ein, wo er nun unentschlossen vor dem Gittertor stand.
Es war windstill, doch die vorbeifahrenden Autos und Lastwagen hauchten ihm rußige Luft in den Nacken. Der Friedhof lag an einer Verkehrsachse, die mitten durch die Stadt führte, wohin auch immer. Heinrich war den sterblichen Überresten seiner Mutter so nahe, doch er fühlte
Heinrich blieb abrupt stehen. Er hatte vergessen, Blumen zu kaufen. Er war den ganzen weiten Weg nach Island gekommen – und stand jetzt ohne Blumen da. Er unterdrückte einen Fluch und spielte kurz mit dem Gedanken, eine Blume von einem anderen Grab zu stibitzen, doch er verwarf das Vorhaben sogleich.
Dann gibt es eben keine Blumen, murmelte er dunkel. Er hatte den ganzen Vormittag im Stadtbus vertrödelt und war nicht unbedingt in der Stimmung, irgendwo in dieser unübersichtlichen Stadt noch Blumen aufzutreiben. Es
Magnússon. Seltsam. Hatte sie den Nachnamen ihres Mannes angenommen, auch wenn sie nicht Magnús’ Sohn gewesen sein konnte. Hatte es mit dem Einbürgerungsverfahren zu tun? Fest stand, dass sie mit 75 Jahren gestorben war, sie hatte es nicht gerade bis ins hohe Alter geschafft. Auf ihrem Grab lagen Blumen, was Heinrich enorm erleichterte. Jemand vermisste sie also. Sie hatte Familie, Hinterbliebene, sie bedurfte keiner Blumen von einem Sohn, den sie vollends vergessen hatte. Ihre drei Töchter würden sich bestimmt fürsorglich um ihr Grab kümmern.
Heinrich zog den Kopf ein und schaute sich verstohlen um. Die Töchter! Plötzlich fühlte er sich beobachtet, befürchtete schon, dass ihn eine seiner Halbschwestern ertappen und ansprechen würde. Daran hatte er gar nicht gedacht! Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Friedhof fluchtartig, überquerte die Straße, lief sie einige hundert Meter entlang, bis er vor der Tür einer Kneipe stand, die Ibiza hieß. Er zögerte nur kurz, stieß dann die Tür auf und setzte sich an ein Tischchen in der hintersten
Kaum hatte er den Teller leergegessen, drehte sich einer der Herren zu ihm um und sprach ihn an, zuerst auf Isländisch, dann, als Heinrich nur mit den Schultern zuckte, auf Englisch.
Where do you come from?
Switzerland, gab Heinrich höflich zur Antwort, nickte abschließend und putzte die Reste von seinem Teller. Zu seinem Betrüben erregte seine Antwort Aufsehen. Die Männer besprachen sich und baten ihn dann an ihren Tisch, höflich zuerst, doch nachdrücklich, als Heinrich zögerte.
Come! Sit!
Heinrich gehorchte, man zog einen Stuhl an den Tisch heran, setzte den Touristen darauf und tischte ihm umgehend Schnaps auf.
Skál!, sagten sie herausfordernd und hoben ihre Gläser. Derjenige, der ihn angesprochen hatte, sagte:
Prost! Salud! Kippis! Santé!
Viva la Grischa!, entfuhr es Heinrich, und damit hatte er die Stammtischler im Sack. Man lernt doch jeden Tag etwas Neues! Heinrich trank, ohne das scharfe Zeug zurück auf den Tisch zu spucken, was anerkennendes Nicken auslöste. Es wurde nachgefüllt.
The soul is out there!, wiederholte er und starrte Heinrich intensiv an. Der nickte und spürte Hitze in sich aufsteigen. Ob man denn in Switzerland fische, wollte man nun wissen, worauf Heinrich nach dem englischen Wort für See suchte.
Only lake, only river. No ocean, erklärte er entschuldigend.
Man nickte interessiert. Ob er denn ein Lake-Fischer sei, wollte man scherzhaft wissen, was Heinrich trocken verneinte und anschließend nach dem englischen Wort für Bauingenieur suchen ließ. Er fand es nicht, was nicht weiter schlimm war, denn es wurde sowieso nachgeschenkt. Es waren stille, erhabene Momente, wenn das klare Lebenswasser in die Gläser plätscherte. Man fragte ihn, was er hier in Island treibe, und Heinrich verriet, enthemmt durch den starken Schnaps und die überbordende Gastfreundschaft der Isländer, dass er seine Mutter besuche.
Erstauntes Gejohle am Stammtisch. Wer sie denn sei und wo sie wohne, wurde augenzwinkernd gefragt. Vielleicht kenne man sich! Island sei schließlich klein.
It is a very small island, you know? We all know each other.
Sie habe Anna Magnússon geheißen, sagte Heinrich. Magnússon, also eingewandert, und sie sei dort drüben – Heinrich kannte das englische Wort für Friedhof nicht,
Das genügte, um die sentimentale Seite der pensionierten Seemänner zu wecken. Sie legten ihre harte Rinde ab und standen wie gehobelte Baumstämme da, sprachen ihr tiefstes Beileid aus und verstummten bedrückt, erinnerten sich vielleicht an ihre eigenen Mütter. Dann wollten sie wissen, warum seine Mutter überhaupt nach Island gekommen sei. Heinrich erzählte ihnen, dass sie zu den Frauen gehört habe, die man 1949 in Deutschland angeheuert, nach Island verschiffte und auf Bauernhöfen auf der ganzen Insel verteilt habe. Jetzt lachten die Männer, denn sie erinnerten sich nur zu gut an den Aufruhr, als das Schiff in Reykjavík angelegt hatte. Einer behauptete sogar, damals am Kai gestanden zu haben, ja, vielleicht habe er sie sogar gesehen, Heinrichs Mutter! Die Männer versuchten, sich an das Großereignis zu erinnern und einigten sich nach langem Palaver darauf, dass das Schiff die Esja gewesen sein müsse mit Kapitän Ásgeir Sigurðsson höchstpersönlich. Jemand war überzeugt, dass es zwei Schiffe gewesen seien, oder zumindest zwei Ladungen, vielleicht auch mit Trawler, also mehrere Überfahrten, doch es gelang ihm nicht, die anderen von seiner Theorie zu überzeugen. Der ihn an den Tisch geholt hatte, schien ein guter Geschichtenerzähler zu sein und erinnerte sich, wie er und seine Freunde ein paar dieser Frauen verfolgt hätten – darunter Beggi Berserker, dieser Halunke, den es glücklicherweise nicht mehr gebe. Der sei richtig wütend gewesen, da er während des Krieges einen Hass auf die Nazis entwickelt habe. Während er erzählte, wechselte er plötzlich ins Isländische, da er sich
The Hotel Borg is a very fancy Hotel. Money, money, you understand?
Heinrich lachte. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Es wurde ein geselliger Nachmittag. Man unterhielt sich mit Heinrich über das anhaltende Bierverbot, den Heringboom und das plötzliche Verschwinden der Heringe, über Vulkane und die Eiger-Nordwand, so gut es eben ging.
This mountain is called Esja, sagte einer, legte ihm den Arm um die Schultern, drehte ihn um und zeigte aus dem Fenster. You can walk up there. On the highest point is a book. You can write your name!
Heinrich fragte ihn, ob er seinen Namen in dem Buch vorfinden würde, und bekam baff zur Antwort:
Are you crazy?
Als Heinrich gegen sieben Uhr die Runde verließ, satt und beschwingt, konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Am liebsten hätte er seine Flügel weit ausgebreitet und sich in die Lüfte geschwungen, denn der Boden wackelte und war ihm fremd. Er wankte nach draußen, wo sich die Strahlen der tiefen Sonne auf sein Gesicht legten. Der Himmel hatte sich aufgetan, schimmerte blau und mild. Heinrich hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen und lächelte genussvoll. Er schaute hinunter auf die Bucht, die im späten Sonnenlicht golden glitzerte. Die farbigen Blechhäuser leuchteten nordisch. Mit einem Mal konnte er nachempfinden, was seine Mutter gefühlt haben
Heinrich stolperte mit erhobener Hand über die Straße, ohne wirklich auf die hupenden Autos zu achten, denn in gerader Linie auf die andere Seite zu gelangen, erforderte seine ganze Konzentration. Er schaffte es und latschte auf dem Rasenstreifen neben der Straße zurück zum Friedhof. Dort pinkelte er an die Mauer, ohne auf die erneut hupenden Autos zu achten, doch er machte eine abwehrende Handbewegung – als verscheuchte er lästige Fliegen – und spritzte sich dabei über den rechten Schuh. Heinrich fluchte, schüttelte ab und kämpfte mit dem Reißverschluss. Er verlor den Kampf, das Fenster blieb offen. Dann fummelte er an der Klinke des Eingangstors zum Friedhof und verhedderte sich. Plötzlich schwang das Tor nach außen auf und nahm ihn mit, als wollte es ihn rauswerfen. Heinrich gelang es, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, aber er zerriss sich dabei das Hemd und fiel auf den Hintern. Auf dem Boden sitzend schaute er sich fluchend den Schaden an. Wie bloß sollte er das Katrin erklären? Er rappelte sich auf, hob beleidigt das Kinn und stolzierte mit steifen Beinen über den Friedhof, schritt wie ein Kommandant die Grabreihen ab, geriet dabei in Schieflage und stolperte über eins der Gräber, fing sich an einem Baum ab und machte kurz Pause. Nach langer Suche fand er das Grab seiner Mutter, entzifferte ihren Namen, verlor dabei das Gleichgewicht und krallte sich im letzten Moment am Kreuz fest, um nicht vornüber zu fallen. Das Kreuz neigte sich ächzend
Schön hast du es hier, Anna Magnússon. Doch, ich muss schon sagen, der Himmel ist so blau wie ich, und die Leute hier, großzügige Menschen, gute Menschenkinder. Trink- und wetterfest. Sapperlot!
Heinrich nickte, wie um sich selbst eine Bestätigung zu geben. Er strich sich fahrig mit der Hand übers Gesicht, verrückte dabei seine Brille und spuckte neben sich auf den Boden.
Da bin ich also, sagte er. Da bin ich, auch wenn du das vielleicht nicht gewollt hast, aber da bin ich nun mal. Blumen habe ich dir keine mitgebracht. Keine Blumen. Nicht einmal Stauden, nichts. Blumen hast du ja schon genug, wie ich sehe.
Heinrich hob entschuldigend die Schultern.
Mit mir hast du wohl nicht gerechnet, was? Hast gedacht, der hat nicht den Mumm, ein Angsthase, ein Weichei ohne Eier, aber da bin ich, und ich glaube, ich bin besoffen, aber das ist man hier wohl einfach in Island, wo es nicht dunkel wird, verdammt noch mal, woher soll ich denn wissen, dass es Länder gibt, wo’s nicht dunkel wird? Woher soll ich das wissen, bin ja kein Reiseleiter! Nicht mal ein Blitzableiter. Kein Weltenbummler, bestimmt nicht. Ich bin ein Stubenhocker, sagt Katrin. Und jetzt sag du mir, Mutter – Mutter, haha, oder soll ich Mama sagen? Mamiii!
Heinrich lachte glucksend und lehnte sich mit dem
Darf ich? Ups, jetzt habe ich mich auf deine schönen Blümlein gesetzt, das tut mir aber gar nicht leid, sind ja auch nicht von mir.
Heinrich rülpste und kicherte.
Aber ich bin mir sicher, dass du schon morgen wieder neue Blümlein bekommst, husch, husch, die Heinzelmännchen oder Heinzelweibchen, deine Kinderlein kommet, nicht wahr? Aber nicht von mir. Von mir kriegst du keine Blümlein, ich kenne dich ja nicht einmal, und du kennst mich ja auch nicht, fragst dich wahrscheinlich, was das für ein besoffener Tourist ist, der da auf deinem Grab sitzt und plaudert und Liedchen singt. Was willst du hören, ich bin in Stimmung, ihr Kin-derlein kom-met, und ich weiß schon nicht mehr weiter, aber was mach ich mich hier eigentlich zum Affen. Am Ende lochen mich die Bullen noch wegen Grabschändung ein, wenns denn auf dieser verfluchten Insel überhaupt Bullen gibt. Ich hab auf jeden Fall noch keine gesehen. Gibts hier überhaupt Gesetzeshüter? Haben die Beamten hier auch so arg zusammengekniffene Arschbacken? Sie sollen nur kommen, die Polizei, die Feuerwehr, Interpol, ist mir egal, die werden was erleben, denn ich habe den schwarzen Gürtel im Arschzusammenkneifen! Darin bin ich Weltmeister, oh ja, frag mal meine Frau, die weiß das, damit kann man Nüsse knacken! Da kannst du einen Fünfräppler dazwischen schieben, und der kommt so groß wie ein Fünfliber raus!
Heinrich lachte schallend.
Gell, der mit dem Fünfliber ist gut, nicht wahr? Aber
Heinrich hielt traurig inne, schnappte nach Luft und dachte nach. Sein Blick verlor sich zwischen den Gräbern. Plötzlich hob er den Kopf, als hätte ihn jemand angesprochen.
Radau?, fragte er. Mach ich denn Radau? Ich sag ja nur, was Sache ist. Ich plaudere hier so lange, wie ich will! Bin schließlich weit gereist.
Wieder hielt er inne, als lauschte er. Sein Brustkorb hob und senkte sich.
Neineineineinein!, sagte er und schüttelte energisch den Kopf. Du hast mich nicht verletzt. Ich habe keine seelischen Schäden. Reg dich ab, Mutter, ich bin doch bloß besoffen, das ist alles! Mir gehts prächtig! Gings nie besser. Ich habe eine Familie, ein Haus, ein Auto, wohne in einem der reichsten Länder der Welt, und ich habe zwei Mütter. Die meisten Menschen auf dieser Erde haben nur eine. Und ich habe zwei davon. Möchte jemand eine Mutter? Hallo! Eine genügt mir völlig!
Heinrich lachte laut und gespielt, bis er sich schließlich selbst unterbrach.
Was ich hier will? Ja, sieht man das denn nicht? Ich will meinen Erbanteil! Ha! Nein, Quatsch. Ich habe genug von dem Klunker. Auch auf eine Entschuldigung verzichte ich gern, wegen einer läppischen Entschuldigung bin ich ganz bestimmt nicht hierhergekommen. Nein, gnädige Frau. Ich will nur eins. Ich will mehr Brennivín! Sofort! Sonst verdurste ich! Ich habe Durst! Aufhören soll ich? Ich hab doch
Heinrichs Augenlider wurden schwer.
Du bist betrunken, sagte er. Danke, darauf wäre ich nicht gekommen. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Heinrich blickte ins Leere, spuckte noch einmal neben sich auf den Boden, schloss die Augen und murmelte: Nägel mit Köpfen. Er neigte sich langsam zur Seite, legte seinen Kopf aufs Nachbargrab. Nägel mit Köpfen. Mädchen mit Zöpfen.
Bald zogen Wolken auf, und es begann zu regnen, doch den betrunkenen Friedhofsbesucher störte das nicht. Im Gegenteil. Der Regen kühlte sein entflammtes Gemüt.
Die Tage waren deutlich kürzer geworden. Gelegentlich fegten Winde durch die Fjorde, peitschten den Regen an die Fenster, als würden die Täler und Dörfer mit Hochdruck gereinigt. Eines Abends nahm mich Þorkell bei der Hand und führte mich durch die Stube in sein Zimmer. Ich hatte mich mit Stella um den Abwasch gekümmert, ihre
Ich sprach inzwischen ein wenig Isländisch und verstand, was er sagte, doch es verschlug mir die Sprache. Ich wünschte, ich hätte ihn nicht verstanden. Meine Befürchtungen, dass er auch darum eine deutsche Frau angeheuert hatte, um spätes Glück zu finden, jemanden, mit dem er das Bett teilen konnte, bestätigten sich. Es schnürte mir den Hals zu, als baumelte ich schon am Strick. Ich verspürte den Impuls wegzulaufen, egal wohin. Am liebsten wäre ich runter an den Hafen gerannt, hätte noch in derselben Stunde ein Schiff besteigen wollen, das mich auf einen anderen Kontinent bringen würde. Ich war schließlich geübt darin wegzulaufen, hätte es auch ohne Weiteres getan – wenn meine Muskeln gehorcht hätten. Doch ich stand da wie festgenagelt, begann zu zittern, und für diese Schwäche wünschte ich mich auf den Meeresgrund. Wenn Þorkell nach meiner Hand gegriffen und mich aufs Bett gezogen hätte, wäre ich ihm gefolgt. Ich hätte mich hingelegt und meine Beine für ihn gespreizt, hätte an die Decke gestarrt und dabei ganz unten auf dem Meeresgrund gelegen. Seltsam, wie man manchmal keine Gewalt über seinen eigenen Körper hat, neben sich steht und tatenlos zuschaut. Körper und Seele sind zwei verschiedene Dinge, abgelöst voneinander. Ich begriff, dass die Stärke darin lag, Geist und
Ich werde gut für dich sorgen, sagte er und lächelte schief. Er hatte einen hochroten Kopf, atmete geräuschvoll ein und aus. Ich widersetzte mich nicht und trat ans Bett heran. Wir standen uns nahe gegenüber. Jetzt fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich größer war als er. Nicht viel, einige wenige Zentimeter nur. Doch ich war größer. Ich blickte auf ihn herab. Er schaute zu mir hoch, legte eine Hand auf mein Gesäß, die andere auf meine Brust und begann zu kneten. Ich spürte seinen Pfeifentabakatem auf meinem Gesicht und hielt die Luft an. Er wollte mich aufs Bett stoßen, sanft nur, doch jetzt endlich erwachte mein Widerstand und ich blieb stocksteif stehen. Er grinste mich verwirrt an, winkte mich mit einem närrischen Kopfnicken Richtung Bett, griff erneut nach meinem Oberarm, doch ich starrte ihn nur von oben herab an. Er würde mich mit Gewalt aufs Bett zerren müssen. So einfach wollte ich es ihm nun doch nicht machen.
Da erschien Dagur im Türrahmen. Er musste den Braten gerochen haben, als er zum Haus hereingekommen war und seine Schwester allein hatte den Abwasch machen sehen. Vielleicht hatte sie ihn auch darauf hingewiesen, ich weiß es bis heute nicht. Er war zwar ein Bauernlümmel, hatte nicht mehr von der Welt gesehen als das, was zwischen Reykjavík
Þorkell!
Er sagte es mit der Bestimmtheit eines Familienoberhauptes, als hätte er über Nacht seinen Onkel abgelöst und wie ich gemerkt, dass er einige Zentimeter größer war als Þorkell. Es war ein regelrechter Putsch – wenn auch ein kleiner. Þorkell war von dem selbstsicheren Auftreten seines Neffen so vor den Kopf gestoßen, dass er in schepperndes Lachen ausbrach und einen Schritt von mir wegtrat. Doch Dagur lachte nicht. Er kam auf mich zu, fasste mich an der Hand, zog mich weg von Þorkell und schob mich aus dem Zimmer. Endlich konnte ich mich wieder bewegen. Ich ging durch die Stube, durch die Küche zum Ausgang – Stella, als hätte sie mich gar nicht bemerkt, erledigte weiterhin den Abwasch und schüttelte dabei abschätzig den Kopf. Ich flüchtete ins Freie, in den Regen, schnappte nach Luft und schaute mich um. Was jetzt?, fragte ich mich und spürte mein Herzklopfen. War mein Aufenthalt auf Brekka damit zu Ende? Doch wohin bloß? Nach einem kurzen Augenblick trat Dagur zu mir in den Regen. Da standen wir nun auf dem Vorplatz. Er schaute mich an und blies Luft zwischen den Lippen hindurch. Auch ich schaute ihn an, und zum ersten Mal wich er meinem Blick nicht aus. Er musterte mich und schüttelte entschuldigend den Kopf.
Ist alles in Ordung?, fragte er auf Isländisch.
Allt í lagi, sagte ich. Alles in Ordnung. Ich versuchte zu lächeln, als würde es mich nicht weiter belasten, dabei zitterte ich am ganzen Körper. Dagur nickte, sagte noch,
Plötzlich brach strahlender Sonnenschein durch den Regen und wärmte Heinrichs nasses Gesicht. Die Wolken hatten ein Fenster zum Himmel geformt, und durch dieses Fenster schwebte ein leuchtend weißer Engel hinab, die mächtigen Flügel weit ausgebreitet, der Blick erhaben, mit der Weisheit Tausender Jahre. Heinrich blinzelte ins Licht und streckte die Hand aus. Wärme fuhr ihm durch Herz und Seele, Frieden machte sich in ihm breit. Der Engel kauerte sich zu ihm und legte schützend die Flügel um ihn.
Mutter, sagte Heinrich und lächelte selig. Mutter.
Der Engel betrachtete ihn neugierig und strich ihm mit der Hand über die Wange. Heinrich bemerkte erstaunt, dass dem Engel Tränen wie Kristalle übers Gesicht kullerten.
Heinrich öffnete die Augen und sah als Erstes seine
Als er sich aufs Klo tastete, bemerkte er Erbrochenes neben dem Bett, und wie er über der Kloschüssel hing und würgte, fragte er sich, wie er den Teppich jemals sauberkriegen würde. Dann spülte er den Mund mit Wasser und schluckte zwei Aspirin. Sein Bauch fauchte bedrohlich, doch er behielt die Tabletten und das Wasser. Ein Schüttelfrost befiel Heinrich, und er schleppte sich zurück ins Bett, kroch zitternd unter die Bettdecke. Das gleißende Licht von draußen schmerzte ihn in den Augen, für einen kurzen Moment sah er den Engel wieder vor sich. Er schloss die Augen, und bevor er in einen wirren Schlaf fiel, schwor er sich hoch und heilig, nie wieder Alkohol zu trinken.
Wenn er gewusst hätte, was zur selben Zeit auf einer Abbruchstelle in der Schweiz vor sich ging, hätte er sich wohl erneut ins Delirium trinken wollen.
Bauingenieur Adrian Brändli, eigentlich ein geselliger, meist gut gelaunter Typ, respektiert vom Handlanger über den Polier bis zum Stararchitekten, stapfte mit düsterer
Brändli war vom Untersuchungsrichter beauftragt worden, eine Expertise zur eingestürzten Lagerhalle zu erstellen. Es war nun nicht das erste Mal, dass Brändli so ein Auftrag zugeteilt worden war, doch dieser Fall bereitete ihm echtes Unbehagen, verdarb ihm gar den Appetit. Nicht nur, weil zwei Saisonarbeiter ums Leben gekommen waren, tüchtige, humorvolle Portugiesen, die niemandem etwas zuleide getan, in bescheidenen Wohncontainern gehaust und ihren Lohn aufs Sparheft gelegt hatten, um in ihrer Heimat das Elternhaus renovieren und erweitern zu können. Nein, es befiel ihn auch deshalb Unbehagen, weil er Heinrich Lieber von früher kannte. Sie waren beide in Landquart aufgewachsen und hatten zusammen die Schulbank gedrückt. Sie waren weder Freunde noch Feinde gewesen; lediglich Schulkameraden, die sich alsbald aus den Augen verloren hatten. Überhaupt schien Heinrich Lieber keine Kontakte aus der Schulzeit behalten zu haben. Damals war er immer wieder Opfer von irgendwelchen idiotischen Scherzen geworden. Heinrich hatte sich nie gewehrt, nie zurückgeschlagen, nur eingesteckt. Sein streberhaftes Verhalten und seine guten Schulnoten hatten ihn bei den Kindern nicht gerade beliebt gemacht. Adrian
Etwa der Lieber? Heinrich Lieber?, hatte Brändli erstaunt gefragt.
Kennst du ihn?, hatte man ihm die Gegenfrage gestellt.
Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Blitzgescheit. Der macht keine Fehler.
Nun schaute sich Brändli die gekrümmte Metallstütze mit den Betonresten des Einzelfundaments an, die an einer Kette an den Zähnen einer Baggerschaufel baumelte. Der Baggermensch saß inzwischen in der Baubaracke, trank Kaffee und las die Tageszeitung.
Es war auf den ersten Blick zu erkennen: Das Eisen hatte das Betonfundament glatt durchbohrt. Die rostigen
Wo war diese Stütze?, fragte Brändli barsch.
Camenisch trat zu ihm und hielt den Zeigefinger auf den Grundrissplan, den Brändli auf einem Betonblock ausgebreitet hatte.
Hier, beim Tor, sagte Camenisch.
Das Fundament ist eindeutig zu klein.
Eindeutig.
Diese Stütze hat doch die ganzen Firstlasten getragen, nicht wahr?
Nun zeigte Camenisch mit dem Finger in den Himmel, dahin, wo der First der Halle einst gewesen war.
Zusammen mit der anderen, ja.
Und wie siehts da aus?
Da sind wir noch nicht ganz so weit.
Bei den Schneelasten genügt es völlig, wenn ein Fundament nachgibt. Dann krachts. Da ist was schiefgelaufen.
Camenisch nickte bestätigend.
Jap.
Das Fundament ist doch viel zu klein, nicht wahr?
Viel zu klein.
Merda, sagte Brändli und stapfte durch den Dreck zurück zum Auto. Dort fischte er weitere Kopien der Originalpläne aus einer Mappe und ging zurück zum mutmaßlichen Corpus Delicti.
Einsfünfzig auf einsfünfzig auf sechzig, sagte er und schaute Camenisch an. Der begriff erst ein paar Atemzüge später, nahm seinen Klappmeter zur Hand und maß das durchbohrte Fundament an der Baggerkette.
Ja, was nun? Fünfundzwanzig oder dreißig?
Eher fünfundzwanzig. Jap, fünfundzwanzig.
Merda, sagte Brändli abermals und legte die Stirn in Falten.
Dann hieß er Camenisch, das zweite Fundament auszugraben und ihn dann rechtzeitig anzurufen.
Va bene?
Niente problema, knirschte Camenisch. Kommst du noch auf einen Kaffee?
Brändli überlegte. Camenisch ergänzte:
Tester hat eine Torte mitgebracht. Er hat Geburtstag.
Schwarzwälder?
Camenisch nickte.
Wieso nicht, brummte Brändli.
Während der nächsten Tage war mit Þorkell nicht gut Suppe essen. Er trank des Öfteren Hochprozentiges, war manchmal schon mitten am Tag betrunken und machte stundenlange Nickerchen. Er klagte über Kopfschmerzen und schob es aufs Wetter oder auf den zu dünnen Kaffee, den ich gebrüht hatte. Er beauftragte Dagur mit den unmöglichsten Arbeiten, die dieser schließlich verweigerte, was zu wüsten Streitereien führte. Stella stimmte gern ein, keifte mit, konnte ihrem Frust, in dieser Einöde leben zu müssen, endlich freien Lauf lassen. Sie schimpfte ihren Bruder einen faulen Lümmel, ihren Onkel einen Säufer,