In dem Heinrich auf einer Fähre in die Westfjorde übersetzt und einer mysteriösen Frau begegnet.

Heinrich stellte besorgt fest, dass sich die Straße dramatisch verschlechterte. Sie war nur noch einspurig geteert, doch an den Rändern war genug Platz, um entgegenkommenden Autos, den Pick-ups der Bauern oder Lastwagen auszuweichen. Mutterschafe grasten mit ihren Lämmern den Straßenrand ab oder lagen auf dem sonnengewärmten Asphalt und zottelten nur mit Widerwillen davon, wenn Heinrich angebraust kam. Von Zeit zu Zeit stellte er den Jeep am Straßenrand ab und schoss Fotos. Eine Herde Pferde galoppierte über die staubige Tundra. Lauer Wind strich über goldbraune Wiesen, und Heinrich beschloss zu picknicken. Gern hätte er die herrliche Aussicht mit jemandem geteilt.

Ihm fiel ein, dass er das Auto hätte volltanken sollen, und fragte sich besorgt, wie weit es bis zur nächsten Tankstelle sein würde. Doch schon bald tauchte eine an einer einsamen Straßenkreuzung auf. Heinrich stellte den Mietwagen neben die Zapfsäule, füllte den Tank und ließ dabei seinen Blick über die Ebene wandern. Auf einem Feld drehte ein Traktor seine Runden und mähte Gras. Der Parkplatz war staubig und leer. War überhaupt geöffnet?

Hallo?, rief Heinrich in den schattigen Raum. Er hörte, wie im Nebenraum etwas zu Boden fiel und zersprang, worauf jemand fluchte und sich ausgiebig räusperte. Bald erschien ein aufgeblähter Mann mit hochrotem Kopf im Türrahmen. Er trottete hinter die Theke und hielt sich beduselt daran fest, schnappte nach Luft und hustete rasselnd, sodass sein ganzer Körper bebte.

Heinrich biss sich auf die Lippen, wartete bange, bis sich der Mann erholt hatte, dann stellte er die Flasche Wasser und die Schachtel Kekse, die er aus dem Regal gefischt hatte, auf die Theke, drehte sich um und zeigte aus dem Fenster.

And Benzin, please.

Draußen blieb er eine Weile auf dem Parkplatz stehen, trank aus der Flasche und verdrückte ein paar Kekse, schaute dem Traktor zu, wie er Runden drehte. Es war erstaunlich warm, wie er fand, und er zog sein Hemd aus, warf sich im T-Shirt hinters Steuer und wirbelte ganz schön Staub auf, als er die Tankstelle hinter sich ließ.

Heinrich erreichte den Hafenort Stykkishólmur gegen Mittag. Hier würde er sein Auto auf die Fähre verladen und in die Westfjorde übersetzen. Doch erst aß er eine Fleischsuppe in einem Restaurant, saß allein am Tisch und wurde von den Einheimischen gemustert. Isländer sind neugierig, dachte Heinrich. Ein neues Gesicht fällt sofort auf.

Am Nachmittag bestieg er mit einigen der

Es war zwar sonnig, doch der scharfe Wind peitschte die Passagiere bald unter Deck. Man drängte sich im kleinen Aufenthaltsraum auf den Holzbänken den weiß gestrichenen Metallwänden entlang, die Heizung unter den Bänken glühte auf höchster Stufe. Es gab wenige Touristen auf dem Boot, mehrheitlich Einheimische aus den Westfjorden oder von der Insel, vermutete Heinrich, wo die Fähre einen Zwischenhalt einlegen würde. Aus einem Radio dudelte isländische Popmusik, unterbrochen von ausführlichen Diskussionen der Radiosprecher.

Neben Heinrich setzte sich eine junge Frau. Heinrich richtete sich unmerklich auf, machte einen geraden Rücken, nickte ihr freundlich, aber knapp zu. Sie erwiderte sein Nicken nicht, schaute ihn nur kurz an, neutral irgendwie, ohne Abneigung. Dann zog sie ein Taschenbuch aus einem kleinen Rucksack, schlug es irgendwo in der Mitte auf und begann zu lesen. Heinrich musterte sie verstohlen. Sie war hübsch, hatte dunkles, kurzes Haar.

Die Überfahrt dauerte lange, und so kam Heinrich Lieber bald ins Grübeln. Ob jemand von diesen Menschen seine Mutter oder wenigstens ihren Mann gekannt haben könnte? Er könnte es einfach in den Raum hinein fragen, könnte versuchen, mit jemandem ins Gespräch zu

Bald wurde ihm vom Wellengang flau im Magen, und er stellte fest, dass er sich am wohlsten fühlte, wenn er die Augen schloss. Der überheizte Passagierraum und das Brummen der Motoren ließen Heinrich wegdrifteten, der Sound aus dem Radio vermischte sich mit wirren Träumen, bis er schließlich vollkommen abgetaucht war.

***

Ich überstand meinen ersten Winter in Island heil und zuversichtlich, auch wenn er sich schier endlos hingezogen hatte. Plötzlich wurde es Sommer, und ich hatte bald ein ganzes Jahr in Island verbracht. Ich hatte wieder Fleisch an den Knochen, war kräftig, mein Haar schimmerte in der Frühsommersonne. Ich verbrachte nun mehr Zeit mit Dagur, meist draußen auf den Feldern, da Þorkell keine Lust auf Fußmärsche hatte. Wir flickten Zäune, hoben Entsumpfungsgräben aus oder stachen Torf. Manchmal führten wir

Eines Abends saßen wir nebeneinander im Gras. Die Arbeit war getan, es war ein Moment erschöpf‌ter Zufriedenheit. Ich hatte die Beine schräg angewinkelt, den Rock hübsch darübergelegt und versuchte so auszusehen wie ein Model in einer Zeitschrift. Es war lachhaft, aber so verhielt ich mich in seiner Gegenwart.

Dagur lag dicht neben mir, einen Grashalm zwischen den Lippen. Er tat so, als nehme er keine Notiz von mir, als sei er tief in Gedanken versunken. Ich blickte hinaus aufs Meer und beobachtete Fischerboote, Dagur die Wolken. Ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, verstohlen erst, dann unverhohlen, drehte meinen Kopf zu ihm und musterte ihn, ohne Scheu. Obwohl wir viel Zeit miteinander verbrachten, war er mir noch immer ein Mysterium, ein verschlossener, junger Isländer, der wenig vom Leben bekam und sich damit völlig zufriedengab. Mit einem Bauernlümmel wie ihm hätte ich gewiss nichts zu tun haben wollen, wenn ich noch in einer Stadt in Deutschland gelebt hätte. Doch da wir nun mal auf derselben Farm lebten, war mir die Entscheidung abgenommen worden; ich musste mich für ihn interessieren. Ich war in sein Leben getreten, und ich hatte alle Zeit der Welt, ihn kennenzulernen. Und mir gefiel, was ich sah. Dagur war bescheiden und hinnehmend. Er urteilte über niemanden und wollte im Gegenzug in Ruhe gelassen werden.

Vielleicht bin ich deinetwegen nach Island gekommen, sagte ich neckend.

Davon bin ich überzeugt, sagte er.

Er richtete sich auf und strich mir vorsichtig mit der Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Der Wind blies sie jedoch sogleich wieder zurück. Wir blickten uns an. Ich glaubte, er meinte wirklich, was er sagte.

Eine ganze Weile blieben wir einfach so auf der Wiese liegen. Dagur verschränkte die Arme hinter dem Kopf, ließ den Grashalm aus dem Mundwinkel fallen und schloss zufrieden die Augen. Ich betrachtete ihn von Kopf bis Fuß. Seine kräftige Brust spannte das Hemd, er hatte lange Beine, seine Hose wölbte sich ein klein wenig, da, wo sich sein Glied verbarg. Plötzlich verspürte ich die Lust, ihn überall zu berühren, aber dazu war ich viel zu anständig. Glaubte ich. Mein Herz klopf‌te so stark, dass ich befürchten musste, er würde es bemerken. Er schien es tatsächlich zu bemerken, denn er öffnete kurz die Augen, schaute mich überrascht an, als ich meine Hand auf seine Brust legte, doch er schloss die Augen gleich wieder, tat so, als würde es ihn nicht kümmern, als wäre die Berührung ganz alltäglich. Ich fuhr ihm sanft mit der flachen Hand über die Brust, über die Arme, über seinen Bauch und ganz flüchtig, als wäre es nur Zufall gewesen, über sein Glied. Ich wanderte den Oberschenkel entlang bis zu den Knien, bemerkte, wie sich seine Hose im Schritt spannte. Dagur begann geräuschvoll zu atmen, hielt die Augen aber noch immer geschlossen. Ich beugte mich zu ihm nieder, bis ich ihn mit meinen Brüsten berührte, ich küsste seine Wangen, seine Nasenspitze und seinen Mund. Er erwiderte den Kuss, etwas unbeholfen zwar, doch gefühlvoll. Dann setzte

***

Heinrich schreckte aus einem konfusen Traum auf, den Kopf an die Schulter seiner Sitznachbarin gelehnt. Er schaute sich verstört um, räusperte sich, beugte sich etwas vor und schaute seine Nachbarin verdutzt an. Sie verkniff sich ein Lächeln, schien belustigt darüber, dass er an ihrer Schulter eingeschlafen war, was sie nicht weiter gestört zu haben schien. Heinrich bemerkte, dass ihn noch andere Passagiere wohlwollend angrinsten, sie hatten ihm wahrscheinlich dabei zugeschaut, wie sein Kopf immer schwerer geworden, in Schräglage geraten und schließlich auf der Schulter seiner Sitznachbarin zu liegen gekommen war. Das war ihm so peinlich, dass er wortlos nach draußen stolperte, um Luft zu schnappen. Er hielt sich an der Reling fest und unterdrückte einen Schwindelanfall, machte die Augen wieder zu und füllte die Lungen mit frischer Meeresluft. Das tat gut.

Sein Traum war wirr und brutal gewesen. Er hatte vor irgendwelchen Kriminellen fliehen müssen, die ihm ans Lebendige gewollt hatten. Katrin war auch dabei gewesen, und er musste einen der Verfolger erwürgen, bevor der dasselbe mit ihm gemacht hätte, und danach hatte jemand Geburtstag, doch Heinrich wusste beim besten Willen nicht mehr, wer, obwohl er ein hübsch verpacktes Geschenk in den Händen hielt. Wem geben? Man schaute

Die Gewalttätigkeit des Traumes wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, die Trauer, die ihn beim Anblick seiner toten Frau durchfahren hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen. Die schmerzende Lust nach ihr. So könnte es sich also anfühlen, wenn er sie verlieren würde. Heinrich Lieber nahm sich vor, es nie so weit kommen zu lassen. Er hoff‌te, dass er vor ihr sterben würde, und fragte sich, ob das nicht ein selbstsüchtiger und feiger Gedanke war.

Er begab sich zum Bug der Fähre und schaute auf die Küste der Westfjorde, die unmerklich näher rückte, die wolkenverhangenen, zerfurchten Berge, wie Schuttwälle, die es zu durchbrechen galt, und er schwor seiner Frau feierlich die Treue, bedrückt darüber, sie nicht neben sich zu haben, um diesen Moment mit ihr zu teilen. Wie einsam musste sich seine Mutter gefühlt haben, als sie ganz allein nach Island ausgewandert war! Heinrich blieb an der Reling stehen, bis er der Kälte nicht mehr länger standhalten konnte und zu schlottern begann.

Im Passagierraum schaute Heinrich sich verlegen um, doch der einzige freie Platz auf den Bänken war neben der Frau mit den kurzen Haaren, also setzte er sich wieder neben sie.

Heinrich wunderte sich, wieso er sofort als Tourist erkannt wurde. Lag es an seiner Kleidung? An seinem Auf‌treten? Hatte jemand, wie damals in der Schule, heimlich einen Zettel auf seinen Rücken geklebt, auf dem Ich bin ein Tourist! Tritt mich in den Hintern! draufstand? Möglicherweise hatte er im Schlaf gesprochen, was ihn nicht nur lächerlich gemacht, sondern auch als Ausländer entlarvt hätte.

Very cold, bestätigte er schließlich und ließ mit etwas Anstrengung ein Lächeln über sein Gesicht huschen. Ihre Blicke kreuzten sich kurz, und Heinrich verbarg das Gesicht sogleich hinter seiner Hand, um die Brille zurechtzurücken. Die Frau hatte sein Lächeln bemerkt und erwiderte es freundlich. Es gelang ihr besser als ihm.

Where do you come from?, fragte sie.

Sie hielt ihr Buch im Schoß, einen Finger zwischen den Seiten, bereit, sofort weiterzulesen, doch es war eindeutig: Sie wollte sich mit ihm unterhalten. Heinrich holte innerlich Luft.

I am from Switzerland.

Really! Sie schien erfreut. Vielleicht wäre nun Heinrich an der Reihe gewesen, aber er war sich fast sicher, dass sie aus Island stammte, seine Gegenfrage wäre also überflüssig gewesen, und so nickte er nur und echote:

Yes, really.

Die Frau lächelte und schien sich eine weitere Frage auszudenken. Zu Heinrichs Unmut fand sie eine:

Where in Switzerland?

Do you know Switzerland?

I come from the Alps. You know Heidi and Peter?

Die Frau runzelte die Stirn, Heinrich fuhr fort:

My village is called, ähm, Felsberg. Very next to Chur. Heinrich überlegte sich, wie man Felsberg auf Englisch übersetzten würde. Rocky mountain, sagte er und machte, ganz wie seine Sitznachbarin, ein verdutztes Gesicht.

You come from the Rocky Mountains?, fragte sie verwirrt.

No, no, the Alps, aus Felsberg. It means rocky mountain.

Er lachte verlegen und fragte sich, ob Felsberger nach Amerika ausgewandert waren und dem Gebirge den Namen gegeben hatten. Wieder wurde geschwiegen. Diesmal wagte Heinrich den Anlauf. Er war es ihr schuldig.

And you are from Iceland?

Sie nickte und glättete sich die Haare am Hinterkopf.

I live in Reykjavík. Smoky bay.

Aha, sagte Heinrich erfreut. Reykjavík means smoky bay!

Sie lachten beide unterdrückt.

I was in Reykjavík, fuhr er fort, und dachte nach. Yesterday. Very nice city.

Er wollte ihr zu verstehen geben, dass er die Stadt kennengelernt hatte und mochte. Den Friedhof, die Kneipe nebenan, die Innenstadt, sein Hotel. Doch er wollte sie nicht

Not that nice, sagte die Frau schließlich.

What?, fragte Heinrich.

Reykjavík is not that nice, wiederholte die Frau. Switzerland is much prettier.

Heinrich hätte, auch wenn er ihr insgeheim recht gab, gern widersprochen, doch auch dazu fehlte ihm der Wortschatz. Deshalb schüttelte er nur den Kopf und sagte nichts. Auch die Frau schwieg. Bald öffnete sie ihr Buch und las weiter, und Heinrich presste enttäuscht die Lippen zusammen.

Auf der kleinen Insel, wo die Fähre einen Zwischenstopp einlegte, war Gelegenheit, sich die Füße zu vertreten. Hier wohnten das ganze Jahr über ein oder zwei Dutzend Menschen und doppelt so viele Schafe. Die schmucken Holzhäuser boten das perfekte Motiv, sodass Heinrich prompt den Film vollknipste.

Das Tuten der Fähre kündigte die Weiterfahrt an, und Heinrich hoff‌te, dass sich die Frau wieder neben ihn setzen würde. Ein deutsches Touristenpaar kam ihr zuvor, und so blieb Heinrich stumm, bis sie am Zielhafen eingetroffen waren. Er wollte nicht, dass seine neuen Sitznachbarn merkten, dass er jedes ihrer Worte verstand.

Die Passagiere sahen den Hafenarbeitern dabei zu, wie sie die Fähre vertäuten. Heinrich gelang es, Blickkontakt mit der hübschen Frau aufzunehmen.

Have a good trip!, sagte er freundlich.

Heinrich setzte sich in seinen Mietwagen, der zwei Autolängen hinter ihr stand. Kaum hatte er festen Asphalt unter den Rädern, sah er, wie die Frau links der Küste entlang weiterfuhr, während er nach rechts abbog. Adieu, schöne Frau! Er bereute es, sie nicht auf das Nickerchen an ihrer Schulter angesprochen zu haben. Vielleicht hätte es der Konversation eine entspannte Wende gegeben.

Hätte. Könnte. Würde. Die wichtigsten Wörter in Heinrich Liebers Lebensvokabular. Er lachte verächtlich. Wenn ihn seine Mutter nicht im Stich gelassen, sondern nach Island mitgenommen hätte? Dann wäre er jetzt Isländer, würde in Reykjavík die Statik der Wohnblöcke berechnen. Doch dann hätte er Katrin nie kennengelernt. Stefan, Cris und Judith gäbe es nicht. Wenn er die verdammten Pläne an dem Sommertag vor zehn Jahren rechtzeitig auf die Post gebracht hätte? Dann wären die zwei Portugiesen noch am Leben, könnten im Winter nach Hause fahren, ihre Familien besuchen und über die kleinkarierten Schweizer wettern.

Wie schön man hier ins Grübeln kommt, dachte Heinrich und grübelte weiter. Er genoss die verschleierten Berghänge, die lautlos an ihm vorbeizogen. Er beschloss, die Nacht durchzufahren, zumindest so lange, bis ihm die Augen zufielen.