In dem Heinrich eine kleine Morgenwanderung macht und in eine brenzlige Situation gerät.
Dass ich in meinen ersten Jahren von den Dorfbewohnern mehrheitlich ignoriert wurde, störte mich kaum, schließlich ging auch ich den Leuten aus dem Weg, vermied Bekanntschaften und verzichtete auf soziale Kontakte. Zudem gab es einige im Dorf, die mich geradezu hassten, aus dem einfachen Grund, weil ich eine Deutsche war. Meine Schwiegermutter, die nach dem Tod ihres Mannes wieder geheiratet hatte und seither in Akureyri lebte, lehnte mich ab. Sie besuchte uns nie. Der Schulrektor missbilligte mich. Er sei mit der hässlichen Geschichte der Deutschen vertraut, soll er gesagt haben. Die Hälfte der Angestellten im Kaufladen sprach nicht mit mir. So sind die Menschen. Werfen ganze Völker in einen Topf. Leider übertrug sich der Hass dieser Dummköpfe auf ihre eigenen Kinder, und das kriegten meine Mädchen in der Schule zu spüren. Sie wurden nicht selten als Nazis beschimpft oder kassierten auch mal Prügel. Sie hatten es wegen meiner Herkunft nicht leicht. Aber wer hatte es schon leicht damals? Ich wollte mich für meine Kinder starkmachen, mit dem Schulrektor sprechen, doch Dagur riet davon ab, befürchtete, dass es mehr Schaden als Nutzen bringen würde, dass sich vielleicht das Dorf gegen uns richten würde, und ich glaubte es ihm. Natürlich hörte ich auf ihn, schließlich war er hier geboren und aufgewachsen. Also legte ich Wert darauf, dass meine Kinder so isländisch wie nur möglich wurden. Ich sang während einiger Zeit keine deutschen Lieder mehr und erzählte ihnen nichts aus meiner früheren Heimat. Es half tatsächlich, und als meine Älteste in die Pubertät kam, hatten die Leute im Dorf vergessen, dass ihre Mutter eine Deutsche war. Auch mir gelang es nach und nach, mich anzupassen und mich ganz wie eine Isländerin zu benehmen. Ich ließ mich einbürgern, trat dem Frauenverein bei und half mit, das Þorrablót und die Festlichkeiten zum Nationalfeiertag zu organisieren. Nur meinen deutschen Akzent wurde ich nie richtig los. Es war das einzige Überbleibsel meines früheren Lebens, von dem ich bald nicht mehr sicher war, es überhaupt gelebt zu haben.
Heinrich erwachte um fünf in der Früh. Er hatte einige Stunden grundtiefen Schlafes hinter sich und fühlte sich vollkommen ausgeschlafen, frisch und stramm wie eine gewaschene Karotte. In den Beinen spürte er ein Ziehen und Reißen. Er brauchte Auslauf. Und er musste aufs Klo. Dort – wo man meist die besten Ideen hat – beschloss er, den Tag mit einer kleinen Wanderung zu beginnen. Seine Schwester hatte ihm am Abend zuvor von der Straße erzählt, die sich hinter dem Haus auf den Berg hinaufschwang. Das Wetter stimmte, und sowieso würde Harpa länger schlafen als er, davon war er überzeugt, es waren schließlich Ferien. Er bezweifelte, dass die Isländer dieselben Frühaufsteher waren wie die Schweizer. Spätestens um acht würde er wieder zurück sein, dann würde er sich duschen, rasieren und seine besten Kleider anziehen, die er im Gepäck mitführte. Er würde Frühstück für zwei Personen zubereiten und versuchen, dabei keinen Lärm zu machen. Und sobald Harpa schlaftrunken in die Küche kommen würde, würde er sich als ihr Bruder vorstellen und sie zu Tisch bitten. Schluss mit der Heimlichtuerei. Der Tag der Wahrheit war gekommen!
Erschrocken bemerkte Heinrich das dritte Auto auf dem Vorplatz. Er kannte diesen beigen Mercedes-Benz nur zu gut, hatte ihm hinterhergeschaut, als er von der Fähre gefahren war. Er lachte und schüttelte den Kopf, als ihm klar wurde, gefolgt von gemischten Gefühlen, dass er mit seiner jüngsten Halbschwester, der Taxifahrerin, gesprochen haben musste.
Kleine Welt, sagte er. Aus dem Jeep holte er seinen Rucksack und verstaute eine Flasche Wasser und ein paar Kleidungsstücke darin. Es war praktisch windstill und angenehm lau. Zwei Vögel schossen nur wenige Meter vor Heinrich aus dem Gras und flatterten zu den Stallungen, setzten sich auf die Dächer und zwitscherten miteinander. Heinrich folgte der Straße, die hinein ins Tal auf eine kleine Passhöhe führte, bis ein Pfad vom Weg abzweigte und steil in den Berghang stach; offenbar eine Abkürzung, denn die Straße hinauf zur Radarstation zweigte erst auf der Passhöhe ab und schwang sich weitläufig den Berg hoch. Stellenweise gab das Geröll unter seinen Füßen nach, sodass Heinrich bei jedem Schritt ein paar Fußlängen abrutschte. Bald schnaufte er wie ein Rhinozeros und begann arg zu schwitzen. Vielleicht wäre er doch besser die Straße entlanggegangen, dachte er. Zuerst zog er die Windjacke aus, dann entledigte er sich seines Pullovers. Nur ein Ovo-Werbe-T-Shirt bedeckte seinen Oberkörper. Wenn Sträucher oder Bäume den Weg gesäumt hätten, hätte er sich einen Wanderstock geschnitzt. Doch hier oben ließ die Erosion nur vereinzelte Gräser, Moos und Flechten zu.
Ein paar Schafe machten sich ängstlich davon, als Heinrich in ihre Nähe kam, hüpften leichtfüßig wie Gämsen übers Geröll.
Durch diese kompromisslose Steigung gewann Heinrich, der zwar ein etwas außer Form geratener, aber kein unerfahrener Wanderer war, zügig an Höhe. Die Farm Brekka unter ihm wurde so klein wie der Emmentaler Bauernhof in seinem Eisenbahnmodell. Heinrich überblickte die von Entwässerungsgräben umrahmten Felder, wo das Gras kniehoch zur Heuernte bereitstand. Offenbar waren diese Felder keinem Nachbarn verpachtet oder verkauft worden und lagen nun brach.
Bald reichte Heinrichs Blick bis zum Fischerdorf mit dem geschützten Hafen, der kleinen Kirche auf der Anhöhe und der Tankstelle beim Dorfausgang, wo er gestern die Wegbeschreibung zur Farm erhalten hatte. Fahrzeuge waren um diese Uhrzeit keine unterwegs. Außer den Vögeln und Insekten rührte sich nichts in der Bucht. Auf dem glitzernden Meer erblickte Heinrich ein paar Fischerboote, kleine, weiße Punkte im blauen Gemälde.
Um sechs Uhr dreißig gelangte er völlig außer Atem und total verschwitzt oben an. Ein kühler Wind strich um seine nassen Glieder, und Heinrich war froh, den Pullover und die Windjacke auf den Berg hochgeschleppt zu haben.
Der Gipfel des Berges war ein Plateau, das einst von massiven Gletschern flachgeschliffen worden war. Welche Kraft! Diese Fjorde waren der größte Aushub, den Bauingenieur Heinrich Lieber jemals gesehen hatte. Übriggeblieben waren Steine. Moos und Geröll, so weit das Auge reichte. Dazwischen sprossen einsame Grashalme, Leimkraut und Rentierflechten. Weiter vorn bemerkte Heinrich die amerikanische Radarstation. Umgeben von ein paar niedrigen Betonbauten thronte eine graue Kugel auf einem rostigen Metallgerüst. Ein übermannshoher, mit Stacheldraht gekrönter Zaun ließ darauf schließen, dass es den Amerikanern ein Anliegen war, keine ungebetenen Gäste zu empfangen. Neugierig stellte sich Heinrich dicht an den Zaun, berührte ihn fast mit der Nasenspitze, um sich das seltsame Ingenieurswerk anzuschauen. Die Verstrebungen waren simpel, aber massiv, hier oben musste man mit heftigen Windstärken rechnen. Plötzlich bemerkte Heinrich einen Mann in Militäruniform. Er starrte ihn vom Inneren der abgeriegelten Radarstation aus gut fünfzig Metern Distanz reglos an. Nach kurzem Zögern hob Heinrich die Hand zum Gruß. Der Mann reagierte nicht, starrte nur in seine Richtung. Heinrich senkte seine Hand und wandte sich etwas eingeschüchtert von der Radarstation ab. Er spürte den Blick des Mannes auf seinen Rücken geheftet, doch als er sich noch einmal nach ihm umdrehte, war er verschwunden, hatte sich wohl wieder nach drinnen begeben.
Auch Ihnen einen schönen Tag, murmelte Heinrich beleidigt. Doch er ließ sich die gute Stimmung nicht so einfach verderben. Er überquerte das Plateau und setzte sich – außer Sichtweite der Radarstation – nahe den Steilklippen auf einen flachen Stein. Hier vermutete er die beste Aussicht. Sein Blick verlor sich auf dem glitzernden Meer, das zu seinen Füßen wie ein riesiger Teppich ausgebreitet lag, sich zu seiner Linken am Horizont verlor und zu seiner Rechten in die Fjordlandschaft rankte. Er glaubte, die Erdkrümmung ausmachen zu können und fragte sich, ob das mathematisch überhaupt möglich war. Heinrichs Gedanken hoben ab und drängten bis über den Horizont hinaus. Er malte sich aus, wie ihn seine Schwestern mit offenen Armen in der Familie willkommen heißen würden, wie er dann nach Hause reisen würde, um seinerseits seine Frau und seine Kinder in die Arme zu schließen, den Koffer voller Geschenke, er, Heinrich Lieber, ein neuer Mensch, selbstsicher, welterfahren, voller Liebe und Lust, voll des Willens, zu seinen Fehlern zu stehen, sich erhobenen Hauptes den Behörden zu stellen und alle Fragen nach bestem Wissen zu beantworten. Hier in Island würde er seine Batterien immer wieder aufladen können, würde die Sommerferien auf der Farm verbringen, Wanderausflüge unternehmen, mit einem Boot hinaus aufs Meer fahren oder einfach nur faulenzen, im Gras liegen, sonnenbaden, Vögel beobachten, abends mit Katrin Hand in Hand durchs Fischerdorf schlendern und in der Hafenkneipe – sofern es eine gab – köstlichen Fisch genießen. Aber auch fleißig wollte er sein, das alte Wohnhaus seiner Mutter in Schuss bringen, es neu streichen und Ordnung auf dem Grundstück schaffen. Er wäre ein hilfreicher großer Bruder. Heinrich dachte an so vieles, auch an seine Mutter. Sie hatte hier die Möglichkeit für ein neues Leben gefunden, was sie alles andere hatte vergessen lassen. Sie musste vor etwas oder jemandem geflohen sein und ihre Gründe dafür gehabt haben. Auch Heinrich war nach Island geflohen. Er dachte an die eingestürzte Lagerhalle und die zwei Portugiesen.
Es tut mir leid, murmelte er und seufzte schwer. Ich habe das nicht gewollt.
Ein Flüstern riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute sich um, Gänsehaut am ganzen Körper. War er etwa nicht allein? Waren andere Wanderer in seiner Nähe? Der Soldat? Nein, hier war nur er, Heinrich Lieber. Vielleicht hatte er den Wind gehört, der um die Steine strich, oder einen Vogel, der an ihm vorbeigesegelt war. Heinrich schüttelte den Schauder ab, trank etwas Wasser aus der Flasche, machte den Deckel wieder zu und bemerkte die plötzliche Windstille, die heranschleichenden Nebelschwaden am Fuß des Berges wie ein zweiter Horizont, ein doppelter Boden, der sich auf die Fjorde legte. Die Nebelschwaden mussten etwas mit dem Aussetzen des Windes zu tun haben, vermutete Heinrich, doch er schenkte ihnen wenig Beachtung. Er sammelte ein paar Basaltsteine vom Berg, scharfe, braune Würfel, so ganz anders als die schwarzen, abgerundeten Lavasteine am Meer, dann machte er sich auf den Rückweg, überquerte das Plateau und bemerkte die feuchte Kälte, die um seinen Hals strich und ihn schaudern ließ. Gut möglich, dass das Wetter nun umschlug und sich bis zum Nachmittag verschlechterte. Heinrich freute sich, dass er die sonnigsten Stunden des Tages nicht verschlafen hatte. Er würde damit am Frühstückstisch angeben können, schätzte, dass er spätestens um acht Uhr wieder unten sein würde. Genug Zeit also, das Frühstück für seine Schwestern zuzubereiten. Und wenn sie verschlafen aus ihren Zimmern kommen und sich erstaunt bei ihm fürs Frühstück bedanken würden, würde er sagen, das ist doch das Mindeste, das ein Bruder für seine kleinen Schwestern tun kann!
So stellte er es sich vor. Dieser Träumer.
Als er den gegenüberliegenden Rand des Plateaus erreichte, erschrak er zum ersten Mal. Unter ihm war nichts als blendend weißer Nebel. Das ganze Tal und die Bucht waren vom Nebel verschluckt; still und langsam kroch er die Bergflanken empor. Auch die Radarstation war plötzlich verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, als wären sie und der uniformierte Mann nur eine Einbildung des erschöpften Wanderers gewesen. Heinrich spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, ein seltsames Gefühl, als sei die Luft stromgeladen. Er erinnerte sich, dass sich der Trampelpfad noch vor der Plateaukante im Geröll verloren hatte. Er würde den Einstieg zurück in den Pfad auf gut Glück finden müssen, denn von hier oben sah er nur noch Weiß. Flauschiges, watteweiches Nichts, wie in diesem Film mit dem Jungen auf dem fliegenden Drachen, den seine Söhne so sehr mochten. Heinrich bereute nun, dass er nicht sofort aufgebrochen war, als er den Nebel bemerkt hatte. Er drehte sich um. Er könnte zur Radarstation zurückfinden und von da die Straße ins Tal hinunter gehen. Er würde zwar etwas Zeit verlieren, eine halbe Stunde mindestens, doch es war die sicherste Lösung. Aber wo befand sich die verflixte Radarstation? Das Meer war verschwunden. Das Hochplateau schwamm im Nebel, als hätte sich der Berg von der Erde gelöst, und schwebte nun immer höher gen Himmel. Heinrich drehte sich zu allen Seiten. War das überhaupt die Stelle, an der er hochgekommen war, oder doch eher da drüben? Zu welcher Seite lag das Meer? Wo lag das Dorf? Die Radarstation?
Mit zügigen Schritten wanderte Heinrich an der Kante des Hochplateaus entlang, in der Hoffnung, seine Spuren im Geröll zu finden. Doch er fand sie nicht. Er ging zurück zu der Stelle, wo er sich ausgeruht hatte – versuchte es zumindest, versuchte, den flachen Stein zu finden, auf dem er gesessen hatte –, doch er fand ihn nicht. Wieder überquerte er das Plateau, so glaubte er, denn er sah nicht weit, der Nebel hatte sich um ihn gehüllt, der Berg schwamm nun nicht mehr, sondern war versunken, abgetaucht und ging mit Heinrich unter. Der zerbiss Flüche, als er über die kantigen Steine stolperte und verzweifelt die Radarstation suchte. Vergeblich. Er ärgerte sich, dass er nicht rechtzeitig zurück sein würde, um seinen Schwestern Frühstück zuzubereiten. Noch schlimmer: Sie würden sich bald Sorgen um ihn machen, vielleicht sogar nach ihm suchen. Wie peinlich!
Heinrich ging schneller, hastete ziellos durch den Nebel, murmelte zu sich selbst, blieb manchmal abrupt stehen, schaute sich um, drehte sich zu allen Seiten, schüttelte den Kopf und marschierte weiter. Als sich die Sicht noch mehr verschlechterte – Heinrich sah nur noch wenige Meter weit –, wagte er den Abstieg.
Als sich das Geröll unter seinen Füßen löste, sodass er mitsamt den Steinen den Hang hinunterzurutschen begann, wurde ihm klar, dass er eine unvorteilhafte Stelle gewählt hatte. Sie war viel zu abschüssig, steiler und schroffer als da, wo er hochgekommen war. Heinrich brach sein Vorhaben ab und versuchte, wieder hochzuklettern, das Plateau zu erklimmen, doch das Geröll war so lose, dass er mit jedem Schritt, den er aufwärts machte, dreiviertel Schrittlängen abwärts sackte. Steine, die er losgetreten hatte, polterten den Hang hinunter und verloren sich im Nebel. Schon nach wenigen Sekunden war er völlig außer Atem. Das Herz hämmerte ihm in der Brust und wummerte in seinen Ohren. Heinrich war schließlich nicht mehr der Jüngste, hatte sich in den letzten Jahren körperlich vernachlässigt, war wegen der ganzen Reißbrettarbeit außer Form geraten. Er bereute, dass er die wöchentlichen Badminton-Abende vor einigen Jahren aufgegeben hatte. Katrin hatte ihm schon einige Male prophezeit, dass er bei dem Stress, den er im Büro hatte, an Herzversagen sterben würde. Wenn er jetzt in Panik geraten würde, behielte sie noch recht. Also blieb Heinrich stehen und schnappte nach Luft.
Jetzt schieb bloß keine Panik!, knirschte er zwischen den Zähnen hervor. Behalte die Ruhe. Du bist ein Mann der Berge!
Als sich sein Herzschlag und sein Atem etwas gemäßigt hatten, bemerkte er die Stille. Eigentlich war es eine faszinierend schwerelose Stille, der man gern zuhörte, eine zauberhafte Stille, voller Erwartung, als hielten alle Lebewesen im Umkreis vieler Kilometer den Atem an und verfolgten gespannt, was Heinrich als Nächstes tun würde. Der hätte sich sehnlichst gewünscht, ein Geräusch der Zivilisation zu vernehmen, woran er sich orientieren könnte. Er überlegte, ob es die Situation rechtfertigten würde, um Hilfe zu rufen. Der unfreundliche Militär von der Radarstation würde ihn vielleicht hören.
So ein Quatsch, murmelte Heinrich. Er hatte den Berg vor der Besteigung betrachtet und dabei festgestellt, dass er oben am steilsten war und weiter unten an Neigung verlor, die Geröllhalde würde also ausflachen.
Nur schön langsam, sagte Heinrich, holte Luft und rutschte vorsichtig den Berg hinunter. Es klappte gut. Der Hang war nicht allzu steil, sodass er jederzeit hätte stehen bleiben können. Doch seine Schuhe füllten sich mit spitzen Kieselsteinen, und die Rutscherei wirbelte solchen Staub auf, dass er seine Kleider weiter unten auf der Wiese würde ausklopfen müssen. In Gedanken war er schon wieder auf der Farm. Er würde sich schleunigst unter die Dusche stellen, damit er wenigstens den Staub in den Haaren loswürde. Jetzt begann ihm die Rutscherei sogar Spaß zu machen, und er gewann die Zuversicht wenigstens für ein paar Minuten zurück, stellte sich vor, wie er nächsten Sommer mit der ganzen Familie hierherkommen und auf der Farm Ferien machen würde. Dann würde er mit den Jungs auf den Berg hochklettern, picknicken und dann jauchzend runterrutschen. Sie würden mit Staub im Haar und Feuer in der Brust nach Hause kommen, und Katrin würde die Augen verdrehen und über ihre drei Buben vorwurfsvoll den Kopf schütteln. Sie müssten sich draußen auf der Wiese bis auf die Unterhosen ausziehen, und Katrin würde sie mit Judiths Hilfe mit dem Gartenschlauch abspritzen, und sie würden kreischen und jauchzen, das Wasser gletscherkalt und herrlich erfrischend, und Heinrich würde den Schlauch an sich reißen können und Katrin und auch Judith etwas anspritzen, die vor Freude zu hüpfen beginnen würden, und am Abend gäbe es Rösti. Was für ein Tag!
Der Schotterhang hatte ein Ende und es folgte – wie erwartet – eine steile Wiese. Heinrich rannte erleichtert den Hang hinunter. Doch die Wiese war uneben und rutschig, denn der Nebel hatte sie feucht gemacht.
Die Jahre flogen an uns vorbei, Sommer um Sommer, Winter um Winter. Die Berge um uns herum blieben indes dieselben. Da oben schien die Zeit stillzustehen, als gäbe es nicht nur eine Waldgrenze, sondern auch eine Zeitgrenze. Das Leben in den Fjorden veränderte sich derweil rasant, wurde schneller, vernetzter, komplexer. Brekka wurde ans Telefonnetz angeschlossen, ans Straßennetz, ans Stromnetz, wir kauften Melkmaschinen, einen Schwader, eine Ballenpresse, eine Waschmaschine, einen Russen-Jeep, einen Fernseher, ein neues, diesmal japanisches Auto, ein Quad … Die Arbeit wurde indessen nicht weniger.
Als Dagur krebskrank wurde, nahm mein Leben eine erneute, hoffentlich letzte Wendung. Wir hielten die Farm, so lange wir konnten, gaben die Milchwirtschaft schließlich auf, traten Land ab, beschränkten uns in den letzten Jahren auf Schafe und Pferde. Keiner unserer Töchter war es gelungen, einen Mann zu finden, der willens gewesen wäre, die Farm weiterzuführen und zu modernisieren. Das war eine bittere Erkenntnis für uns, und Dagur fiel es schwer, sich mit den ungeeigneten Ehemännern seiner Töchter anzufreunden, die nicht das geringste Interesse an der Landwirtschaft zeigten. Wofür hatten wir uns denn all die Jahre abgerackert? Wir hatten Brekka geformt, und Brekka hatte uns geformt. Wir waren Brekka, und letztendlich fanden wir uns mit dem Gedanken ab, dass eben alles auf dieser Erde ein Ende hat. Wir wurden älter, müder, und wir mussten mit ansehen, wie die Farbe an den Stallungen langsam abblätterte, die Zäune in Schieflage gerieten und schließlich umfielen, sodass die Tiere ungehindert darübersteigen konnten. Selbst die Steinmauern, die noch im letzten Jahrhundert von Dagurs Großvater erbaut worden waren, zerfielen langsam, Stein um Stein, sie verloren den Kampf gegen Frost und Wind, die Dächer der Torfhütten brachen ein, meine erste Unterkunft auf Brekka füllte sich mit Erde, Regen und Schnee, das Holz verfaulte und wurde zu Erde. Gras wuchs darüber. Der Zahn der Zeit nagte an uns und an dem, was wir erschaffen hatten. Schließlich verkauften wir unsere Maschinen, unser Auto. Behielten lediglich das Haus und einige Hektar Land darum herum. Wir zogen in den Süden nach Reykjavík, wo sich unsere Töchter niedergelassen hatten. Wir zogen in die Stadt, wie man in Island so pragmatisch sagt. Es war gewiss ein Fehlentscheid. Wir hätten bleiben und mit Brekka zugrunde gehen sollen. Wir hätten neben Onkel Þorkell beerdigt werden wollen, doch die heutigen Behörden hätten es wahrscheinlich gar nicht zugelassen.
In Reykjavík ging es mit Dagur schnell bergab; wie damals mit Þorkell, als ihm die Hoffnung auf eine Ehefrau genommen worden war. Vielleicht hätte Dagur ein paar Jahre länger gelebt, wenn wir in den Westfjorden ausgeharrt hätten. Es wären harte, mühsame Jahre gewesen, bestimmt. Wir hätten gelitten, so abseits medizinischer Versorgung. Und das Haus hätte mit uns gelitten, doch der Kampf hätte uns einen Grund zum Leben gegeben, und wir hätten uns wacker gehalten. Aber es hat keinen Sinn, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen, nicht wahr? Es ist, wie es ist. Manchmal regnet es, selbst wenn die Meteorologen Sonne prophezeit haben.
Dagur überlebte keine zwei Jahre in der Stadt, starb im April, als die Sommerhelle überhandnahm und die Natur nach langem Winter zum Leben erwachte. Auf ein Neues! Ein Neuanfang, den Dagur nicht mitzumachen gedachte.
Warum sterben so viele Menschen im Frühling? Ermattet sie die Erkenntnis, dass das Leben ohne sie weitergeht, draußen die Bäume ihre Wurzeln in den Boden stoßen und ihre Äste gen Himmel strecken, sich die Vögel darauf setzen und fröhlich zwitschern? Weicht der Lebenswille angesichts des aufblühenden Frühlings? Oder ist es eben diese Zuversicht, dass das Leben weitergehen wird, die die Lebensmüden einschlafen lässt? Weil sie wissen, dass es das Leben der anderen ist? Dagur konnte sich an den sonnigen Tagen nicht mehr erfreuen. Und doch planten wir noch eine letzte Reise in die Westfjorde, malten uns aus, wie es sein würde, einige Tage im alten Haus zu wohnen, abzustauben, Schränke und Schubladen zu öffnen und darin, neben Geschirr und Brettspielen, Geschichten und Erinnerungen vorzufinden, das Kleid, das ich an Heiðas Konfirmation zum ersten Mal getragen, das Puppenhaus, das Þorkell für seine Nichten angefertigt hatte. Es wäre schön und zugleich schmerzhaft gewesen. Unsere Töchter sollten uns unterstützen, sich um die Einkäufe kümmern, für uns kochen und putzen. Nichts hätte uns glücklicher gemacht, als ein paar Tage in unseren alten vier Wänden zu verbringen, auch wenn ich mich jeden Tag in den Schlaf geweint hätte. Auch Dagur weinte jetzt oft. Immer wenn wir von den Fjorden sprachen, kullerten ihm die Tränen über die Wangen. Mein lieber, guter Dagur. Er hatte ein kleines Herz, ein Hasenherz, das zu viel Veränderung nicht ertrug. Doch sein Herz war groß genug, um voll der Liebe zu sein, die nur mir galt. Dagur, der immer nach frischer Luft roch. Ihm hatte ich mein Leben zu verdanken. Noch vor wenigen Wochen saß er da in diesem Sessel, hielt meine Hand und weinte still, da wir uns auf die Heimkehr freuten. Seine emotionale Teilnahme gab mir Zuversicht. Ich glaubte wirklich, dass es ihm gelingen würde, den Krebs noch eine Weile im Zaum zu halten, wünschte mir sehnlichst, noch einen Sommer in den Fjorden erleben zu dürfen. Ich musste es glauben, denn ich würde nicht ohne Dagur hingehen.
Er starb Ende April, als die Dunkelheit ganz ausblieb, sich die Nächte zu endlosen Sonnenuntergängen hinstreckten. Er starb neben mir im Bett, verabschiedete sich aus dieser Welt schlafend, als sei er selbst für einen Abschied zu müde. Doch ich ertappte ihn beim Sterben; ein Gefühl tief im Innern ließ mich nicht ruhen. Ich wachte über ihn, bis er nicht mehr atmete, mein Gesicht ihm zugewandt, und ich hielt seine Hand fest an meine Brust gedrückt. Ich rief niemanden, weder die Pflegerinnen noch meine Töchter. Ich hielt seine Hand und hoffte, dass er mich mitnehmen würde. Und als er tot neben mir lag, Welten entfernt, tat sich in mir ein Abgrund auf, größer als ein bevorstehender Krieg, ein Graben, den ich nicht zu überspringen gedachte. Ich hatte ausgekämpft. Erst war ich wütend auf Dagur, fühlte mich wie eine am Hochzeitstag sitzengelassene Braut. Ich legte mich dicht neben ihn, Schulter an Schulter, meine Augen geschlossen und überlegte, wie ich ihm folgen könnte. Es wurde Zeit, dass ich ein zweites Mal starb, doch diesmal gab es kein Schiff, das mich mitnehmen würde. Keinen freundlichen Kapitän, keinen lustigen Schiffskoch, keine Leidensgenossinnen, niemanden, der mich ins Ungewisse begleiten würde.
Es wurde Morgen, und das Ableben meines Mannes wurde offiziell. Meine Töchter kamen mit verweinten Gesichtern angerannt, weinten schon, bevor sie hier waren, was mir übertrieben vorkam. Ich fühlte mich leer, als pumpte mein Herz träger, als fließe das Blut in meinem Körper langsamer. Ich war müde, wollte allein gelassen werden.
Und ich bin noch immer erschöpft, werde die Müdigkeit nicht los, egal, wie lange ich schlafe. Das Essen schmeckt mir nicht mehr, die Sonnenstrahlen kitzeln mich nicht mehr. Ich frage mich allmorgendlich, wieso man den Tag überhaupt beginnen soll. Diese Plackerei. Ich muss geweckt werden, muss im Bett aufgerichtet werden, mal von meinen Töchtern, mal von den Angestellten im Heim. Ich begnüge mich damit, im Rollstuhl zu sitzen und aus dem Fenster zu gucken.
Seit der Beerdigung sitze ich im Rollstuhl, weigere mich, auch nur einen Schritt zu tun, wütend auf Dagur, der mich einfach so im Stich gelassen hatte. Fast wäre ich von meinem Stuhl aufgestanden und hätte den Sarg ins Loch geschubst und die Friedhofsgärtner aufgefordert: Zuschaufeln! Doch ich blieb sitzen. Die Kondolenzbekundungen waren fast nicht zu ertragen, sie trösteten mich nicht. Ich bat meine Älteste, mich zurück ins Heim zu schieben, doch sie verweigerte mir den Wunsch. Meine plötzliche Bitterkeit überforderte sie. Meine Kinder haben ja keine Ahnung, wer ich bin, woher ich komme. Abschiednehmen, den Tod akzeptieren; nicht meine Stärken. Einzig meine Schwester Charlotte, die zur Beerdigung angereist war, schien mich zu verstehen. Es gelang ihr, mich von den Gästen und meinen Töchtern abzuschirmen und schließlich ins Heim zu bringen. Sie wusste wohl, dass ich mich erneut aus dem Staub machen würde, säße ich nicht im Rollstuhl. Als Charlotte wieder nach Paris abgereist war, wurde das Loch, das zu meinen Füßen lag, noch größer, und ich beschloss, dass es nun genug war.
Es reicht, es ist an der Zeit. Meine Heimat ist jetzt der Friedhof. Ich sehe ihn von meinem Balkon aus nicht, kann ihn nur erahnen. Die Distanz bis dahin ist für mich schier unüberwindbar, doch ich habe einen Plan, weiß genau, wie ich da hinkomme: Ich brauche eine Fahrgelegenheit.
Mit ganz kleinen Schritten schlurfe ich die paar Meter bis zur Balkontür und trete ins Freie. Die Morgenbrise ist kühl, vielleicht hätte ich einen Pullover anziehen sollen. Ich möchte da unten auf dem Asphalt nicht frieren. Ich suche Halt am Balkongeländer, klammere mich daran fest. Mein Körper ist schwach, meine Hände sind stark. Die Stadt, der Fjord, der Hafen und die Berge liegen mir zu Füßen. Der Wind streicht durch mein Haar, über die Wangen, sagt, du warst einst eine schöne Frau, ich kann es spüren. Er liebkost mich, macht mir Komplimente, und ich lasse es genussvoll zu. Er streicht mir wie eine schnurrende Katze um die Beine, und ich klammere mich am kalten Geländer fest. Noch brauche ich den Halt, noch will ich nicht loslassen, etwas hält mich zurück, doch ich fühle mich erhaben wie unsere liebe Präsidentin, Vigdís Finnbogadóttir. Es fehlt nur noch das Fähnchen schwingende Volk unten auf dem Parkplatz, das zu mir hochschaut. Aber das brauche ich gar nicht. Will ich gar nicht. Ich bin auch so Herrscherin über Wind und Wasser. Ich habe lange gebraucht, bis ich mich in Island heimisch fühlte. Ich muss es zugeben, Isländerin wurde ich nie, aber Deutsche bin ich längst nicht mehr. Ich gehöre nirgendwohin, doch jetzt fühle ich mich, als herrsche ich über die ganze Welt. Herrje, was sind das nur für Medikamente, die mir Solveig verabreicht hat!
Ich blicke auf den menschenleeren Parkplatz unter mir. Ich höre ein Brummen. Ein kleiner Russen-Jeep fährt vor, so ein kleiner Allrader, wie man sie heute nicht mehr sieht. Er hält an, und ein blonder Bursche mit zerzaustem Haar steigt aus. Er lässt den Motor laufen, als wollte er sich jeden Moment wieder hinters Steuer werfen und davonfahren. Er vertritt sich die Füße und schaut sich um. Hier oben bin ich, will ich rufen, doch jetzt schaut er hoch zu mir und winkt mir zu.
Ich komme!, rufe ich und bin ganz aufgeregt.