In dem Heinrich Lieber eine Neuigkeit erfährt, aber andere Sorgen hat.

Die große Neuigkeit, die Überraschung des Jahres, haute Heinrich Lieber im ersten Moment kaum um, wühlte ihn auch nicht auf, wie man es sich vielleicht vorstellen würde. Kein Drama, keine Gefühlsausbrüche. Keine Tränen. Heinrich Lieber fragte sich sogar insgeheim, wie man sich überhaupt zu fühlen hatte, wenn man erfuhr, dass sich die totgeglaubte, leibliche Mutter in einem fernen Land aufhielt. Dass sie ein zweites Leben zu leben gewählt hatte – ohne Mann und Sohn – und logischerweise nicht gefunden werden wollte. Er war weder erfreut noch wütend. Das alles ließ ihn kalt. Es war fast so, als hätte er es schon immer gewusst, als hätte er so eine Nachricht erwartet.

Schön für sie, dachte Heinrich Lieber. Soll sie doch in Island leben. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis, sich bei ihr zu melden, sie zu konfrontieren oder gar zu besuchen und in die Arme zu schließen oder so was. Sie hätte sich schließlich während all der Jahre bei ihm melden können – was sie aber nie getan hatte. Sie musste ihre guten Gründe dafür gehabt haben. Nicht wahr?

Es tut uns leid, dass wir es dir nicht früher gesagt haben, beteuerte sein Vater. Aber du weißt ja…

Und wieso habt ihr es mir nicht früher gesagt?, fragte er unerwartet barsch, sodass seine Eltern besorgte Blicke austauschten.

Heinrichs Vater, Robert Lieber, saß auf seiner neuesten Anschaffung: einem Massagestuhl, wie man ihn in den späten Achtzigern einfach haben musste, wusste man das Leben zu genießen. Den dröhnenden Rückenvibrator hatte er rücksichtsvoll ausgeschaltet, als er seinem Sohn das gutbehütete Familiengeheimnis anvertraute. Sein Gewicht drückte ihn schwer aufs Leder. Er war ein Genießer, er liebte gutes Essen und gönnte sich abends jeweils einen Whisky, gelegentlich auch mal eine Zigarre. Trotz seines Alters und seiner Laster war er erstaunlich mobil und aktiv, spielte Golf, unternahm Wanderungen und ging dreimal wöchentlich in Bad Ragaz schwimmen. Er erzählte jedem, dass sein Arzt (auch ein passionierter Golfer übrigens) befürchtete, dass er, ganz zum Leide der Menschheit, noch hundert Jahre alt werden würde. Hahaha!

So saßen sie Heinrich wie bei einem Vorstellungsgespräch gegenüber. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern flackerten unruhig hin und her, von der Mutter zum Vater zur Tür. Das lichte Haar hatte er flüchtig über die Stirnglatze gescheitelt, er war völlig geschlaucht nach einem mörderischen Arbeitstag im Büro und eigentlich nicht in der Stimmung für solche Gutenachtgeschichten.

Wir wollten es dir sagen, als du sechzehn warst, beteuerte seine Mutter.

Aber dann fanden wir einfach nicht die Gelegenheit dazu, ergänzte sein Vater, und Vreni übernahm erneut das Wort:

Wir dachten, dass es dich nur belasten würde, du hattest es so schwer in der Kantonsschule. Das weißt du doch am besten. Das war ein richtiger Krampf.

Aha. Man war also selbst schuld. Heinrich schüttelte

Aber warum gerade jetzt?, fragte er. Warum gerade heute? Wieso ruft ihr mich bei der Arbeit an? Ich dachte schon, es sei etwas passiert! Wieso konnte es denn nicht bis zum Wochenende warten? Es hat schließlich vierzig Jahre gedauert, bis ihr mich eingeweiht habt!

Deine Mutter ist vor wenigen Tagen gestorben, sagte Vreni umstandslos, duckte sich unmerklich und warf ihrem Mann einen Blick zu. Der erwiderte ihn mit einem zusichernden Nicken, hob die Hand, als gebiete er um Ruhe, setzte sich ächzend auf die Vorderkante des Massagestuhles, was einen Moment dauerte, denn auf dem verflixten Leder rutschte man immer wieder zurück.

Jetzt bleiben wir alle mal schön ruhig, sagte er. Nur kein Drama. Deine Mutter ist gestorben, Heinrich. Das tut uns natürlich leid, aber, was soll ich sagen – ich habe die Nachricht heute Morgen von Charlotte erhalten.

Und wer, bitte, ist Charlotte?

Charlotte? Verzeihung, sie ist die Schwester deiner Mutter, also deine Tante. Sie ist in den Fünfzigern nach Paris ausgewandert, hat da einen Franzmann geheiratet, der ist aber schon vor einigen Jahren gestorben, soviel ich weiß …

Heinrich schüttelte verwirrt den Kopf.

Sein Vater nickte.

Aber ja doch. Bis auf diese eine Schwester eben. Charlotte.

Und die lebt noch?

Oh ja. Die lebt noch.

Heinrich biss sich auf die Lippen. Nun stieg doch etwas Hitze in ihm auf, etwas brodelte in ihm. Binnen weniger Minuten war seine totgeglaubte Mutter zum Leben erweckt worden – und sogleich wieder gestorben. Dafür hatte er jetzt eine Tante namens Charlotte, und die lebte in Paris.

Na prächtig!, sagte er trocken. Und du hast mir immer erzählt, dass meine Mutter damals in der Nervenklinik –

Und das ist sie auch!, fiel ihm sein Vater ins Wort, besann sich, seufzte müde und zuckte schließlich mit den Schultern. Dachte ich jedenfalls. Sie war ja plötzlich nicht mehr da. Ich erfuhr erst Jahre später, dass sie das Land verlassen hatte. Bis dahin war ich überzeugt gewesen, sie sei aus der Nervenklinik ausgebüxt und hätte sich in die Warnow gestürzt. Herrgott noch mal, sie wäre nicht die Einzige gewesen, damals! Manche wollten einfach nicht mehr weiterleben, verstehst du? Wir hatten alles verloren, alles …

Wie gut hast du sie eigentlich gekannt? Ich meine, seid ihr lange zusammen gewesen?

Wir haben kurz nach Kriegsbeginn geheiratet, uns während der Kriegsjahre aber kaum gesehen, weil ich doch 1940 in Gefangenschaft geriet, und –

Verheiratet?, unterbrach ihn Heinrich. Ihr wart

Das braucht man nun gewiss nicht an die große Glocke zu hängen. Das ist ja ewig her.

Wie gesagt, beschwichtigte Robert, wir hatten uns während der Kriegsjahre kaum gesehen. Deine Mutter hatte Schreckliches erlebt, war arg bedrückt, und darum …

Bedrückt?

Na, Depressionen, Kriegstrauma oder wie man das heute nennt.

Aber der Krieg war doch zu Ende!

Zu Ende? Deutschland ist noch immer besetzt. Robert wirkte verärgert, verwarf die Hände, als mochte er nicht länger darüber sprechen. Vreni mischte sich wieder ein:

Wir hatten so ein Glück, hier in der Schweiz. Wie schrecklich das damals war, können wir uns gar nicht vorstellen.

Nein, könnt ihr nicht, bestätigte Robert, machte ein mürrisches Gesicht und suchte nach Worten. Ihre Schwester in Paris sagte mir erst viel später, dass deine Mutter nach Island ausgewandert war, aber zu dem Zeitpunkt war ich schon längst mit dir in die Schweiz gezogen und hatte meine Alpenblume geheiratet, und wir fanden, dass du bei uns am besten aufgehoben wärst, verstehst du, und dass wir die Vergangenheit begraben sollten. So.

Heinrichs Eltern blickten sich erleichtert an. Als wollte Robert einen Schlussstrich unter die leidige Diskussion ziehen, rutschte er ins Polster des Massagestuhls zurück und drückte den Vibrationsknopf. Ein tiefes Brummen

Du kannst es einfach nicht lassen, sagte sie. Muss das jetzt sein?

Ihr Mann seufzte betont genussvoll. Heinrich überlegte, seit wann er seinen Vater nicht mehr leiden konnte.

Eine Frage habe ich noch, sagte er, fast wie ein Fernsehkommissar. Sein Vater stellte den Motor ab und reckte aufmerksam den Hals.

Wo und wann soll meine Mutter denn beigesetzt werden?

Das ist sie wahrscheinlich schon, antwortete sein Vater. In Reykjavík, nehme ich an. Das ist die Hauptstadt Islands. 95000 Einwohner. Er deutete auf sein geliebtes Lexikon, das stets griffbereit auf dem Glastischchen lag. Soviel ich weiß, hat deine Mutter die Insel nie wieder verlassen.

Niemand hat von dir erwartet, dass du bei der Beerdigung erscheinst, beruhigte ihn seine Mutter.

Heinrich nickte, als gäbe er sich mit der Antwort zufrieden. Er schaute flüchtig auf seine silberne Digital-Armbanduhr und ließ die Hände auf seine Oberschenkel klatschen.

Ich muss dann mal weiter, sagte er. Katrin macht sich sonst noch Sorgen.

Du bist uns nicht böse, dass wir es dir erst jetzt gesagt haben?, fragte ihn seine Mutter scheinbar beiläufig.

Sie richtete sich auf, stellte sich Heinrich gegenüber und zupf‌te sein marineblaues Hemd zurecht, das am Ende eines Arbeitstages stets etwas unordentlich war.

Ist schon in Ordnung, sagte Heinrich und ließ sich zu einer kurzen Umarmung hinreißen. Es ändert sich ja nichts.

Richtig! Es ändert sich nichts. Ich bin deine Mutter! Ich habe dich erzogen. Du gehörst mir!

Sie war eine feine, hübsche Frau, und Heinrich wurde sich einmal mehr bewusst, warum er ihr nicht im Geringsten ähnlich sah. Sie strich ihm über die hängenden Arme, hatte Tränen in den Augen. Heinrich wollte gehen.

Wir sind sehr froh, dass du unsere Situation begreifst, sagte Robert, und Vreni wiederholte:

Du bist unser Sohn!

Ich weiß. Ich weiß. Heinrich warf sich die Jacke über und flüchtete zum Ausgang.

Bist du mit einem interessanten Projekt beschäftigt?, fragte ihn sein Vater, als er Heinrich die Hand zum Abschied schüttelte.

Nichts Besonderes, entgegnete dieser.

Hast du das von dieser Bauhalle in Thusis gehört?

Heinrich presste die Lippen zusammen und nickte.

Hab ich.

Schrecklich!, sagte seine Mutter und schüttelte betroffen den Kopf, froh darüber, das leidige Island-Thema abgeschlossen zu haben.

Weißt du, wer –

Ich muss jetzt wirklich los, fiel ihr Heinrich ins Wort. Ich habe keine Ahnung, wer da Mist gebaut hat.

Es war die ganze Woche schwül gewesen. Eine geradezu tropische Frühsommerhitze war vom Tessin über die Alpen gekrochen, hatte sich in den Tälern der Alpennordseite eingenistet und unter den Kleidern der Büroangestellten verfangen, sodass der Schweiß durch ihre Hemden drückte

Heinrich schaltete die Scheinwerfer ein und drosselte das Tempo. Dicke, schwere Regentropfen zerplatzten laut auf der Windschutzscheibe. Wer bei dem Wetter hetzte, landete nur früher im Straßengraben. Heinrich war kein unbedachter Mensch. Doch jetzt schlug er die Hände aufs Steuerrad, verlor geradezu die Beherrschung, was so gar nicht seine Art war.

So ein Mist!, zischte er. Diese Dilettanten! Was kann ich denn dafür, dass dieser Vollidiot von Eigentümer zweihundert Tonnen am Dach aufhängt!

Eine Sache kümmerte Heinrich Lieber weit mehr als die Neuigkeiten aus Island. Und er erinnerte sich mindestens viermal stündlich daran: Eines seiner Gebäude war eingestürzt. Da gelang es selbst einer verschollen geglaubten, frisch verstorbenen Mutter nicht, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Das Dach und ein Teil einer Baugeschäft-Lagerhalle waren im späten April eingestürzt, als es noch einmal so richtig geschneit hatte, schweren, nassen Schnee mit kaltem Regen obendrauf; ein verheerender Cocktail. Es hatte geschneit bis auf 500 Meter hinunter, ganze Bäume,

Doch Heinrich Lieber war nicht zusammengebrochen. Er hatte keinen Mist gebaut. Als die Beamten der Kantonspolizei wieder abmarschiert waren, hatte er sich auf die Toilette geschlichen und übergeben. Und kaum wieder am Bürotisch, bleich und beduselt, hatte zu allem Übel seine Frau angerufen und ihn gebeten, beim Metzger einen Schweinsbraten zu kaufen, was er dann prompt vergaß. Und am Abend hatten sie Streit.

Alles kracht irgendwann zusammen, hatte schon Professor Kurath seinerzeit an der Hochschule gepredigt. Die Kunst, so Kurath mit erhobenem Zeigefinger, bestehe darin, ein Gebäude abzureißen oder zu sanieren, bevor es den Gegebenheiten der Physik, den Naturgewalten, Erdbeben, Schneelasten, Fallböen oder dem inneren Zerfall, chemischen Reaktionen, Korrosion et cetera nicht mehr standhalten könne. Professor Kurath war ganz versessen auf die Physik, sie war seine Religion, seine Philosophie, und darum erwähnte er bei jeder Gelegenheit den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Nun erinnerte sich Heinrich daran. Vielleicht war dieser Zweite Hauptsatz zum Zuge gekommen. Ganz spontan, explosionsartig fast, so macht es den Anschein, wird Energie freigesetzt, Energie, die für einige Zeit zurückgehalten werden konnte, wie die Luft in einem Ballon, die entweicht, sobald sie die Möglichkeit dazu bekommt. Der Stich einer Nadel, der das Gebäude zu Fall bringt. Ein Objekt fällt in sich zusammen, sobald es kann. Deshalb funktioniert, ja existiert, unser Universum. Deshalb geschehen Dinge, fallen Dinge. Entropie. Maß für Unordnung. Eine Einheit für Chaos. Nichts

Heinrich Lieber versuchte sich einzureden, dass die unabhängige Expertise zu Tage bringen würde, dass der Eigentümer der Lagerhalle die Dachkonstruktion völlig überbelastet hatte – etwas anderes kam gar nicht infrage. Und überhaupt, wer machte eigentlich die Expertise? Adrian Brändli, wie man munkelte. Gut so, dachte Heinrich und beruhigte sich allmählich. Denn Brändli kannte er noch von früher. Der wusste nur zu gut, dass Lieber keine Fehler unterliefen.

Heinrich auf der Überholspur. Die Scheibenwischer liefen auf höchster Stufe. Die Autobahn war ein Fluss, die Reifen preschten wie Schnellboote durchs Regenwasser, sodass Heinrich den Autos, die er überholte, eine Dusche verabreichte. Wasser oben und unten und zu allen Seiten. Er war spät dran. Katrin, seine Frau, würde sauer sein, denn sie wollte doch wie immer zum Frauentreff, und Heinrich hatte auf die Kinder aufzupassen. Sie brauchte das Auto. Kam er zu spät, kam sie zu spät. Aber schließlich wollte sie kein Zweitauto. Wegen der Abgase. Wegen des Waldsterbens. Dabei könnten sie sich eins leisten.

Zum Kuckuck mit dem Waldsterben, murmelte Heinrich. Doch diesmal wollte er sich von seiner Frau keine Vorwürfe machen lassen. Für einmal durf‌te er aus gutem Grund zu spät nach Hause kommen. Man bekam ja nicht alle Tage eine solche Geschichte aufgetischt: eine frisch verstorbene Mutter. Wo bitte soll sie gelebt haben? In Island?

Heinrich geriet ins Grübeln und vergaß sogar die toten Portugiesen, wenn auch nur für einen Moment. Was sollte er bloß mit dieser Neuigkeit aus Island anfangen? Müsste er Trauer empfinden? Wohl kaum. Hatte er wütend zu sein? Eigentlich schon, schließlich hätte er seine Mutter unter diesen Umständen kennenlernen und sie zu ihrer Flucht aus Deutschland befragen können. Falls er denn gewollt hätte. Was vielleicht nicht der Fall gewesen wäre. Wieso auch. Brauchte man denn zwei Mütter? Eine genügte doch völlig. Besonders wenn man schon vierzig Jahre alt war.

Vierzig Jahre. Himmel. Die Jahre verpuffen wie Träume.

Heinrich strich sich die Haare über die Glatze, umfasste aber sogleich wieder mit beiden Händen das Steuer, denn das Regenwasser zog das Auto an den Straßenrand. Ein halbes Leben hatte er warten müssen, bis er erfahren durf‌te, dass seine Mutter nicht in einer Irrenanstalt in Deutschland zugrunde gegangen war. Wie alt war sie, als sie ihn geboren hatte? Wie alt war sie, als sie aus Deutschland geflohen war? Als sie starb? Wahrscheinlich in ihren frühen Siebzigern. War das nicht ein bisschen früh, um zu sterben? Hatte sie Krebs? Hatte sie die Bremse mit dem Gaspedal verwechselt und ihr Auto um einen Baum gewickelt? Gab es in Island überhaupt Bäume? Waldsterben? Hatte sie da oben einen Mann? Kinder?

Heinrich nahm den Fuß vom Gaspedal. Wieso hatte ihm sein Vater kaum etwas über die Mutter erzählt? Dieser Heimlichtuer!

 

Wortlos nahm ihm Katrin den Autoschlüssel ab, überreichte ihm den Schirm, schaute ihn dabei nicht einmal richtig an, stieg ins Auto und fuhr davon. Heinrich schaute ihr zähneknirschend hinterher, den geblümten Schirm in der Hand. Sie bog rasant um die Kurve, sodass man befürchten musste, das Auto könnte ins Schleudern geraten. Heinrich schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Soll sie doch die Karre zu Schrott fahren! Dann hätten sie wenigstens einen Grund zum Streiten. Er schaute hoch in das von Regenwolken verschleierte Calanda-Massiv und hoff‌te, dass der Regen einen Brocken aus den Felsen spülen und auf ihn fallen lassen würde. Damit wäre alles auf einen Schlag erledigt. Finito. Was für eine Erleichterung.

Dann ging Heinrich ins Haus.

Hallo!, rief er, erhielt aber keine Antwort. Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher. Seine zwei Söhne Cristian und Stefan, sowie seine Jüngste, Judith, die schon ihr Alf-Pyjama angezogen hatte, saßen dichtgedrängt auf der Couch. Judith blickte kurz auf, lächelte unschuldig, denn sie wusste genau, dass sie sich Das A-Team nicht anschauen durf‌te.

Nein, sagte Judith.

Doch, hat sie, murmelte Stefan.

Judith boxte ihrem Bruder auf den Oberarm. Der tat, als hätte er es nicht bemerkt.

Hast du die Zähne schon geputzt?

Aah!, stöhnte sie, hüpf‌te von der Couch und rannte wie von der Tarantel gestochen an Heinrich vorbei ins Badezimmer. Als er zu ihr ins Badezimmer wollte, um ihr die Zähne zu putzen, versperrte sie ihm den Weg. Zoll bezahlen!

 

Heinrich im Keller mit seiner Modelleisenbahn. Er ließ sein Krokodil Ce 6/8 Runden drehen. Drei Personenwagen in der Originalfarbe Grün hatte er ihm angehängt, doch der Zug brauste, ohne anzuhalten, durch den Bahnhof, vorbei am Emmentaler Bauernhaus mit den grasenden Kühen, tief hinein in die Berge mit dem Sessellift, durch den Tunnel, über die Brücke und hinaus aufs Flachland. Und wieder durch denselben Bahnhof.

Heinrich Lieber war kein Vitrinensammler. Jede einzelne seiner Lokomotiven funktionierte einwandfrei und kam auch mindestens einmal pro Woche zum Einsatz. In dieser Miniaturwelt, Maßstab 1:87, fühlte er sich wohler als in der realen Welt. Hier unten hatte er seine Ruhe.

Stundenlang konnte er die Lokomotiven putzen, ölen und an den Modellhäusern herumbasteln. Mindestens zweimal im Jahr besuchte er Modelleisenbahnbörsen, manchmal bis hinauf nach Deutschland oder rüber nach Österreich,

Die Kinder durf‌ten mit der Eisenbahn nicht spielen, selbst Berühren war verboten, was auch deutlich auf einem Schild zu lesen war, das Heinrich am Tischrand angebracht hatte. Kinder konnten die Philosophie einer Modelleisenbahn nicht erfassen. Sie war nämlich kein Spielzeug. Die ganze Anlage war eine funktionierende, friedvolle Welt, wo es nur einen Schöpfer gab. Nur seiner Tochter gewährte Heinrich regelmäßig Zutritt, hob sie auf seinen Schoß, setzte ihr die Lokführermütze auf und stellte die Weichen nach ihren Wünschen. Und sie jauchzte und blies die Trillerpfeife, wenn der Zug im Bahnhof einfuhr oder wenn er wieder abzufahren hatte.

Wenn ich groß bin, werde ich Lokomotivführerin!, verkündete sie dann, was ihren Vater zwar stolz machte, aber zu dem Hinweis veranlasste, dass sie die erste Frau wäre, die eine Lok fahren würde. Doch Kondukteurin könne sie werden. Das sei realistisch.

 

Heinrich im Badezimmer. Er betrachtete sich im Spiegel und glättete mit der Hand seine Haare über die sich breitmachende Stirnglatze, die man noch vor einigen Jahren wohlwollend als Geheimratsecken hatte bezeichnen können. Jetzt ergraute sein verbliebenes Haar. Nach vierzig Jahren bleichte es aus, verdorrte im gleißenden Licht der Bürolampe.

Lasst mich jetzt nicht auch noch im Stich, murmelte er.

 

 

Heinrich in der Stube. Seine zwei Buben hockten noch immer wie hypnotisiert vor dem Fernseher.

Was guckt ihr euch da an?, fragte Heinrich und stemmte die Arme in die Seiten. Ein Auto überschlug sich.

Einen Film, sagte Stefan.

Einen Krimi?

Stefan seufzte. Ein Mann kroch schwer lädiert aus dem zerbeulten Auto, das auf dem Dach zu liegen gekommen war.

Ist es nicht langsam an der Zeit, Jungs?, sagte Heinrich. Ein Mann mit Schnäuzer und Sonnenbrille trat zum

Gute Reise, Arschloch.

Die zwei Buben starrten regungslos auf den Bildschirm. Der Mann mit dem Revolver drückte ab, Blut spritzte auf seine Sonnenbrille.

Geil!, sagte Stefan. Cris nickte zustimmend.

Das ist aber ein bisschen brutal, findet ihr nicht?, sagte Heinrich und blieb noch einen Moment stehen. Schon ein bisschen brutal, oder? Also gut, noch zehn Minuten, okay?

 

Heinrich im Schlafzimmer. Er zog seine Armbanduhr und seine Kleider aus, faltete sie und legte sie auf den Stuhl am Bettende, die Uhr obendrauf. Der Schlafanzug lag zusammengefaltet auf dem Bett. Heinrich zog ihn an, legte sich hin und starrte an die Decke. Er setzte sich wieder auf, stellte den Wecker auf sechs Uhr fünfzehn, kroch unter die Bettdecke, starrte auf die Uhr, löschte das Licht, hörte das dumpfe Geballere aus dem Wohnzimmer. Er seufzte.

Es klopf‌te leise an der Tür. Sie öffnete sich einen Spalt breit.

Papa, ich kann nicht schlafen.

Heinrich knipste die Nachttischlampe an, warf die Decke beiseite, nahm seine Tochter bei der Hand und führte sie in ihr Zimmer.

Ich komme gleich. Überleg dir schon mal ein Lied. Dann ging er ins Wohnzimmer und sagte: Stellt den Fernseher jetzt ab!

Seine zwei Söhne reagierten nicht, glotzten nur gebannt

Jetzt aber dalli!, zischte er, der Speichel spritzte, und er jagte seine beiden Söhne mit einer drohenden Armbewegung aus dem Wohnzimmer. Er hatte sich noch nie so vergessen, weshalb die Wirkung groß war. Die zwei Buben machten einen Bogen um ihn und flüchteten Hals über Kopf ins Badezimmer. Eigentlich war Katrin fürs Schimpfen zuständig. Heinrich fragte sich, ob er dem Fernseher den Garaus gemacht hatte. Er stellte ihn an, und als der Mann mit Schnäuzer und Sonnenbrille auf der Bildfläche erschien, stellte er ihn erleichtert wieder aus.

Judith hatte den Radau gehört und sich ängstlich unter die Bettdecke zwischen ihren Plüschtieren verkrochen. Nur ihre Nasenspitze und ihre Augen lugten hervor. Heinrich setzte sich zu ihr an den Bettrand und sagte, so sanft er nur konnte:

Hast du ein Lied ausgewählt?

Wann kommt Mama?

Heinrich seufzte und rieb sich mit der Hand übers Gesicht.

Sie ist noch im Frauentreff. Sie kommt ganz spät nach Hause. Heute bringe ich dich ins Bett.

Die Erwachsenen müssen nicht so lange schlafen wie kleine Kinder.

Aber du gehst doch auch schon schlafen?

Ja, schon, ich bin auch sehr müde. Ich muss sehr früh wieder aufstehen. Weißt du, Mama hat es bestimmt lustig im Frauentreff. Heinrich strich ihr mit der Hand übers Haar. Judith schaute ihn traurig an.

Bin ich noch ein kleines Kind?

Heinrich lächelte.

Du bist längst nicht mehr so klein, wie du noch vor zwei Jahren warst. Wirst immer größer, mit jedem Tag, und bald brauchst du sogar ein größeres Bett!

Seine Tochter lächelte stolz und strampelte mit den Beinen. Heinrich fuhr fort:

Und weißt du, wann man am meisten wächst?

Judith schüttelte neugierig den Kopf.

Wenn man schläft, sagte Heinrich. Judith runzelte die Stirn, machte aber bald artig die Augen zu. Heinrich setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken an ihr Bett gelehnt und blieb bei ihr sitzen, bis sie einschlief. Draußen war es ganz dunkel geworden. Heinrich blieb bei seiner Tochter, bis ihm die Gedanken ausgegangen waren – und noch länger. Er blieb sitzen, bis er seine Frau nach Hause kommen hörte. Sie warf einen Blick ins Zimmer, und Heinrich war dankbar, dass sie ihn kurz anlächelte. Als sie sich über Judith beugte und sie besser zudeckte, richtete sich Heinrich stöhnend auf, ging zurück ins Schlafzimmer und kroch unter die Bettdecke. Er war müde, wollte schlafen, doch sobald er die Augen schloss, ging das Theater los.

Sie waren chancenlos. Sie rochen noch den kalten Betonboden und wurden von Zementsäcken und Beton-Rohrelementen, Durchmesser 60 Zentimeter, begraben.

Dann wurde es still. Der Eigentümer, ein glatzköpfiger, verkaterter Bierwanst, kam eine halbe Stunde später angewatschelt und donnerte:

Ich möchte nicht in der Haut dieses verdammten Ingenieurs stecken!

Heinrich drehte sich auf die Seite. Katrin machte in der Küche den Abwasch.

2. Akt. Die Frauen saßen am Stammtisch. Einige rauchten, man trank auch mal Bier – aber »man« sollte man nicht sagen! »Frau« lachte laut und störte sich nicht an den Blicken der alteingesessenen Herren in der gegenüberliegenden Ecke der Wirtsstube. Egal.

Ich hatte schon seit einem Monat keinen Sex mehr!

Heinrich drehte sich auf den Bauch, gab einen Knurrlaut von sich und vergrub den Kopf unterm Kissen.

3. Akt. Behutsam ließen die Herren in schwarzen Anzügen den Sarg ins bodenlose Grab. Der Priester betete und zeichnete vor sich ein unsichtbares Kreuz. Unter den Trauergästen neigte sich ein Mann kaum merklich zur Seite und flüsterte seiner Nachbarin zu:

Wusstest du, dass sie in Deutschland eine Familie hatte? Mann und Sohn. Der Sohn hat keinen blassen Schimmer, dass hier seine Mutter begraben wird!

Nein, so was! Zu komisch.

Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Heinrich knipste die Nachttischlampe an und torkelte schlaf‌trunken ins Badezimmer. Katrin drehte sich murrend vom Licht weg und zog sich die Decke über den Kopf. Heinrich hatte sie gar nicht kommen hören. Er war also trotz des ganzen Theaters eingeschlafen. Er erleichterte sich sitzend, sein Gesicht in den Händen vergraben, spülte und trank einen Schluck direkt aus dem Wasserhahn, betrachtete sich düster im Spiegel. Halb wach, halb schlafend, unrasiert, fahl, eine üble Erscheinung durch und durch.

Wie sie wohl ausgesehen haben mag, fragte er sich. Hoffentlich nicht wie ich. Vielleicht habe ich dieses kleine Kinn von ihr, meine magere Gestalt oder wenigstens die Augenfarbe. Einfach abgehauen, murmelte er und schüttelte den Kopf. Nach Island abgesetzt. Heinrich schlurf‌te zurück ins Zimmer, hellwach. Er legte sich neben seine Frau, hörte sie flach atmen, sagte:

Als hätte sie die Frage verstanden, begann sie leise zu schnarchen. Er schloss die Augen, und das Theater ging von vorn los.

***

Ich öffne die Augen, erwache aus einem von Schlaf‌tabletten umschleierten Schlaf. Ich bin diesen Pillen dankbar. Und ich hasse sie. Ich brauche sie. Jetzt bin ich zwar wach, aber matt. Ich bin enttäuscht. Mein Herz pumpt noch immer. Dieser übereifrige Knollen. Ich schaue müde aus dem Fenster, lasse wenigstens meine Gedanken fliegen. Oben auf der Esja hat sich Nebel gebildet, es wird heute bestimmt noch regnen. Die Esja, mein Trostberg. Nach ihr werden Mädchen und Schiffe benannt. Die Esja trägt noch immer eine weiße Schneekappe, auch wenn sich der Frühling bislang nicht geziert hat. Gestern sah ich die Kinder in kurzen Hosen auf ihren Fahrrädern durch die Quartierstraße radeln. Unser Hausmeister hat etwas in den Rasen gepflanzt, Frühlingsblumen vielleicht, wofür er zwei Stunden gebraucht hat, weil er sich nicht entscheiden konnte, wo er sie hinpflanzen sollte. Ich war nicht die Einzige, die ihm zugeschaut hat.

Weiter drüben sehe ich die farbigen Wellblechhäuser der Innenstadt, die sich so hartnäckig weigert, großstädtisch zu sein. Heute ist der Himmel wolkenbedeckt, dicht, schwer, wie eine graue Scheibe, die über dem Land hängt. Der ganze Himmel zieht von Ost nach West, nur der Fjord, die Stadt und der Berg bleiben da, wo sie sind. Dabei sind

Ich mochte auch den Geruch des Windes, schon bei meiner Ankunft in Island; trocken und steinig. Er kam von den dunklen, geduckten Bergen am Horizont, erzählte von Thymian und Leimkraut zwischen Basaltsteinen. Manchmal drehte der Wind unverhofft und brachte einen Hauch Meer mit sich. Ich hatte das Gefühl, als weckte er in mir die Geister. Er blies sachte in die Glut, die zu erlöschen drohte. Seine Kälte und Härte trieben mir die Tränen in die Augen, doch ich wusste, dass an meinen Tränen nicht allein der Wind Schuld hatte. Einige weinten auf dem Schiff. Manche waren auf der Überfahrt arg seekrank geworden, hatten nur auf ihren schmalen Kajütenbetten gelegen und den Wunsch geäußert, dass Schiff möge umkehren oder – besser noch – in den Tiefen des Meeres versinken. Vielleicht weinten sie deshalb vor Erleichterung, als die Insel endlich, endlich aus dem Morgendunst auf‌tauchte. Es war fünf Uhr früh gewesen, ich kann mich genau erinnern, weil jemand jauchzte, seht nur, die Sonne steht schon hoch am Himmel! Ich fragte mich, wie lange die Sonne da schon gestanden hatte, denn ich hatte geschlafen. Spiegelglatt die See. Möwen, die uns wie ein Empfangskomitee bis in die Bucht begleiteten.

Wir standen an der Reling und guckten uns die Stadt aus der Ferne an. Wir suchten die Bucht nach Bäumen ab und fanden keine. Manche äußerten Bedenken, meinten, ohne Bäume könne man doch nicht leben, glaubten, dass es dadurch in Island auch keine Singvögel gebe und damit keinen Vogelgesang – wo sollten sich die Vögel denn hinsetzen? Jemand ergänzte die Frage scherzhaft, wo denn um Himmels willen die Hunde hinpinkeln sollten. Wir lachten und waren dankbar über den Scherz.

Mir war es einerlei, keine Bäume zu sehen. Ich war froh, das Meer um mich zu haben. Es tröstete mich. Ich brauchte mich schließlich nicht länger im Wald zu verstecken.

An den Bergflanken hing flauschiger Morgennebel, der jedoch den Sonnenstrahlen erlegen war, als wir endlich von Bord gingen. Ein surrealer Moment. Da waren so viele junge Menschen am Hafen, die natürlich schauen wollten, wie wir aussahen. Als wären wir eine andere Spezies von einem fernen Planeten. Einige waren schön angezogen, als hätten sie sich für uns herausgeputzt. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich glaubte erst, dass sich die Insel in alle Richtungen neigte, hob und senkte, ich musste stehen bleiben, mich an einem Laternenpfahl festhalten, bis das Schwindelgefühl langsam nachließ. Die Leute glotzten uns neugierig an, wir dachten schon, dass sie uns mit schlüpfrigen Sprüchen

Ein junges Mädchen, Ursula hieß es, klammerte sich an meinen Oberarm, und ich drückte es an mich, ganz selbstverständlich, dankbar, da auch ich noch immer etwas wacklig auf den Beinen war. Viele von uns unterhielten sich unterdrückt, einige wischten sich die letzten Tränen aus den Augen, junge Mädchen, manche knapp 18-jährig. Ich tat gelassen, wollte die Blicke nicht auf mich ziehen. Ich war älter als die meisten. Es war seltsam, als gehörte ich dieser Gruppe Einwanderer nicht an, als wäre ich im Gegensatz zu ihnen in meiner Heimat angekommen, wäre nur zufälligerweise auf demselben Schiff mitgereist. Vielleicht war ich hier in einem früheren Leben gewesen. Wieso zog es mich alsbald zu den Bergen auf der gegenüberliegenden Buchtseite? Da wollte ich hin, es zog mich zur Stadt hinaus, ich wollte sehen, ob es hinter den Bergen weiterging, ob es Leben gab. Ich war so neugierig.

Auf dem Hafengelände warteten Busse, die uns quer durch die Stadt in ein Hotel beim Flughafen brachten, den die britischen Streitkräfte gebaut hatten. Reykjavík war eine kleine Hafenstadt, nicht größer als das, was von Rostock nach dem Krieg übrig geblieben war. Wir fühlten uns um Jahre zurückversetzt. Es gab weder Straßenbahnen noch Gehsteige, dafür viele Pferde, als wären wir im Wilden Westen gelandet. Die Blechbaracken der Alliierten standen