In dem Heinrich mit einem deutschen Lastwagenfahrer einige Biere trinkt, was so gar nicht seine Art ist.
Als Heinrich Lieber über die Autobahn raste, ohne genau zu wissen, wohin, schämte er sich bodenlos für seinen Fehler. Jäh überkam ihn der Gedanke, wie praktisch ein fataler Autounfall jetzt wäre, wenn ein Lastwagenfahrer einschlafen und sein tonnenschweres Gefährt auf seinen Volvo prallen würde. Vielleicht könnte Heinrich ein wenig nachhelfen, das Steuer ein bisschen loslassen, den Fuß eine Spur fester aufs Pedal drücken. Er ärgerte sich, dass er überhaupt in diese Welt gesetzt worden war, dazu noch in diese Bünzli-Schweiz, wo vor lauter Reglementen und Vorschriften selbst ein versäumter Brief ein Gebäude zum Einsturz bringen konnte. Heinrich hasste seinen Vater, der ihn in die Schweiz geschleppt hatte. Er verabscheute diesen Schleicher und Heuchler.
Feigling!, zischte Heinrich und dachte an seine Mutter, fragte sich, ob sie ihren Robert einfach nicht mehr ausgehalten hatte und deshalb nach Island abgehauen war. Oder ob sie ganz einfach nicht in diese Kleinbürger-Schweiz gewollt hatte. Er schüttelte traurig den Kopf, nahm den Fuß vom Gaspedal, setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt zur Heidiland-Autobahnraststätte. Es war Mittagszeit, doch Heinrich hatte keinen Hunger, bloß Durst. Zudem wollte er seine Frau wissen lassen, dass er nicht zum Mittagessen kommen würde. Sonst würde sie vielleicht misstrauisch werden und im Büro oder gar bei der Polizei anrufen.
Zu Hause nahm jemand ab, ohne etwas zu sagen, atmete nur in den Telefonhörer. Heinrich musste schmunzeln. Zwei Atemzüge seiner Tochter genügten, und schon wich ihm die Wut aus den Adern.
Grüezi, Fräulein Judith, sagte er. Du musst schon deinen Namen sagen, wenn du den Hörer abnimmst.
Sogleich hörte man Judith durch die Wohnung brüllen: Mamaaa! Es ist Papaaa!
Im Autobahnrestaurant marschierte eine Kellnerin mit zügigen Schritten an ihm vorbei und sagte Hallo, als seien sie alte Bekannte. Heinrich war so überrumpelt, dass er es prompt versäumte, den Gruß zu erwidern. Seine Frau meldete sich. Er teilte ihr mit, dass es im Büro saumäßig viel zu tun gäbe, und dass er es nicht zum Mittagessen schaffen würde. Katrin tat gelassen.
Heinrich setzte sich an einen Familientisch; den einzig freien in dem beliebten Restaurant. Im Fernseher, der in der Ecke des Lokals aufgehängt war, lief eine Gerichtssendung. Der Ton war zu leise eingestellt, als dass man der Verhandlung hätte folgen können. Doch Heinrich sah sich nichtsdestotrotz in den Gerichtssaal versetzt, fragte sich, was die Staatsanwaltschaft fordern würde. Wie würde man seine Straftat überhaupt formulieren? Fahrlässige Tötung? Verletzung der Regeln der Baukunst mit tödlicher Folge? Vernachlässigung der Bauüberwachung? Hatte er die anerkannten Regeln der Technik missachtet? Das würde mindestens eine saftige Geldbuße oder ein Berufsverbot zur Folge haben, wenn nicht gar eine bedingte Freiheitsstrafe. Am besten würde Heinrich jetzt gleich einen Anwalt aufsuchen, der ihn über seine verbleibenden Optionen aufklären und eine Verteidigungsstrategie erarbeiten könnte – aber das würde seine Schuld offenbaren. In den Zeitungen würde stehen:
Ingenieur der Todeshalle zieht Anwalt hinzu!
Die Meinungen der Leute wären gemacht. Doch damit nicht genug. Man würde all die Gebäude, deren Konstruktionen er berechnet hatte, einer minutiösen Kontrolle unterziehen. Das würde Zehntausende Franken kosten. Alle hätten Angst, dass die Bauten, deren Statik er berechnet hatte, in den folgenden Wintern einstürzen würden. Vielleicht war es das Beste, gleich mit der Wahrheit herauszurücken, auf diesen Flüchtigkeitsfehler hinzuweisen, denn er hatte die Berechnungen ja korrekt durchgeführt. Auch die Pläne hatte er einwandfrei gezeichnet – er hatte lediglich den einen nicht abgeschickt. Das konnte jedem passieren. Vielleicht war sein Fehler gar kein Vergehen. Vielleicht konnte er die Schuld auf den Architekten oder die Bauleitung abschieben. Die hätten doch merken müssen, dass die Dimensionierung der Fundamente nicht stimmen konnte! Irgendjemand musste schließlich die Verantwortung tragen. Petrus, der Wettermacher, genügte als Sündenbock leider nicht.
Und wenn Heinrich einfach nichts sagte? Schwieg? Abstritt? Den Unschuldigen mimte? Das unabhängige Bauingenieurbüro würde auf seinen Plänen keinen Fehler finden, man würde die Schuld dem Eigentümer der Halle zuschieben, der die Dachkonstruktion übermäßig belastet hatte. Dann würde man die Trümmer wegräumen und vielleicht übersehen, dass die zwei Stützenfundamente viel zu klein dimensioniert waren.
Zum Essen?
Heinrich schreckte aus seinen Gedanken. Die Kellnerin von vorhin stand direkt vor ihm. Er nickte entrückt, und schon hielt er eine Speisekarte in der Hand.
Was darf ich Ihnen zum Trinken bringen?
Nur Wasser.
Mit oder ohne?
Mit – nein, ohne. Nein, mit!
Die Kellnerin schmunzelte.
Klein oder groß?
Groß. Bitte. Danke.
Die Kellnerin notierte und verschwand. Heinrich rückte seine Brille zurecht und blätterte geistesabwesend in der Speisekarte. Er war eigentlich überhaupt nicht hungrig. Doch ein kleiner grüner Salat hatte schließlich noch niemanden umgebracht.
Ein Lastwagenfahrer, glatzköpfig, mit einem ansehnlichen Burt-Reynolds-Oberlippenbart, kam auf Heinrichs Tisch zu.
Er steckte in abgetragenen Jeans und schmutzigem, einst weißem Unterhemd und roch nach Schweiß.
Frei?, fragte er und saß schon. Heinrich nickte und tat so, als studierte er noch immer die Karte, doch er schaute dem Mann verstohlen über den Kartenrand auf die bare Schulter, auf der sich eine nackte, grünliche Meerjungfrau räkelte. Die Kellnerin kam zurück, begrüßte den neuen Gast und fragte ihn, ob er sich die Speisekarte anschauen wolle. Dieser antwortete umstandslos:
Schnitzel mit Pommes und Ketchup. Und ein Bier.
Ein Salat als Vorspeise?, fragte sie.
Willst du mich mästen?, entgegnete er, klopfte sich auf den Wanst und lachte. Ich muss doch auf meine Linie achten!
Die Kellnerin lachte mit, sagte augenzwinkernd, das habe er bestimmt nicht nötig, und notierte sich die Bestellung.
Und Sie? Haben Sie schon ausgewählt?
Heinrich schaute von seiner Speisekarte auf und sagte kleinlaut:
Bloß einen Salat, bitte.
Selbstverständlich, sagte die Kellnerin. Gemischt?
Heinrich nickte.
Der Lastwagenfahrer brummte und musterte Heinrich mit gerunzelter Stirn. Die Kellnerin verschwand. Die zwei Männer schwiegen, hatten sich nichts zu sagen. Bald wurden Getränke und Essen serviert. Heinrich starrte auf einen immensen Salatteller, verschiedene Salatsorten, garniert mit Speckwürfeln, schwammen in einem Teich französischer Sauce. Dazu gab es mindestens ein Pfund aufgeschnittenes Brot. Der Lastwagenfahrer nickte anerkennend.
Hier isst man fürstlich, sagte er und machte sich an den Verzehr seines kuhfladengroßen Schweineschnitzels. Heinrich hockte wie gelähmt vor seinem Teller. Übelkeit stieg in ihm auf. Gierig trank er aus seinem Glas, dann starrte er wieder auf seinen Teller. Der Lastwagenfahrer bemerkte sein Zögern.
Vegetarier? Wenn du die Speckwürfel nicht magst …
Heinrich schüttelte den Kopf.
Ach so, brummte sein Tischgenosse. Einer dieser Tage, was?
Heinrich blickte von seinem Teller auf, machte sich schon auf oberflächliche Anteilnahme gefasst. Doch der Lastwagenfahrer schien genau zu wissen, wovon er sprach. Es war ihm anzusehen: Einen dieser Tage hatte er wahrscheinlich zuhauf erlebt.
Nicht mein Tag, gestand Heinrich kleinlaut.
Keinen Hunger?
Heinrich schüttelte den Kopf.
Von zu Hause weggelaufen?
Nein!, krächzte Heinrich erschrocken und räusperte sich entschuldigend.
Ach, was geht es mich an, sagte sein Gegenüber und stapelte eine ganze Ladung Pommes auf seiner Gabel.
Stress im Geschäft, murmelte Heinrich und trank sein Glas leer.
Gibt es Stress im Geschäft, oder lässt du dich vom Geschäft stressen?
Ich … Heinrich zuckte mit den Schultern, dachte nach und fand keine Antwort.
Da kann ich dir einen Tipp geben, von Mann zu Mann. Lass dich nicht stressen. Es lohnt sich nicht. Du kannst mir glauben, ich bin Lastwagenfahrer. Wenn du dich stressen lässt, landest du eins, zwei im Straßengraben.
Heinrich nickte artig, hatte dem Gesagten jedoch nichts beizufügen. Er nahm die Gabel und stocherte im Salat herum, erwischte das Herzstück und steckte es sich in den Mund. Sein Hunger erwachte. Nun machte er sich gierig an den Salat, tauchte sogar zwei ganze Brotscheiben in die Sauce und putzte den Teller schließlich leer. Er und der Lastwagenfahrer waren gleichzeitig mit dem Essen fertig. Als die Kellnerin die Teller wegräumte, bat der Lastwagenfahrer um ein weiteres Bier, hielt jedoch inne, schaute seinen Tischgenossen fragend an – Heinrich erstarrte – und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Mach zwei daraus, meine Blume.
Und als sich die Kellnerin mit den leergeputzten Tellern in die Küche begab, sagte der Lastwagenchauffeur:
Ich lad dich ein. Ich heiße Mario. Komme aus Berlin. Ich trinke nicht gerne allein.
Heinrich ergriff die dargebotene Hand und entgegnete:
Lieber. Heinrich, freut mich. Sie sind also Lastwagenfahrer?
Das bin ich, erwiderte Mario und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Da draußen steht mein Baby.
Was ist Ihr Ziel?
Roma! Mario sagte es gestikulierend und mit übertriebenem italienischem Akzent.
Was transportieren Sie denn?
Kannst Du zu mir sagen, forderte ihn Mario auf und beantwortete die Frage: Windeln.
Heinrich machte große Augen.
Dein Baby transportiert Windeln?
Sie lachten ziemlich laut.
Wie ist der Verkehr so?
Es geht noch. Aber die Sommerferien stehen vor der Tür. Dann fängt der Spaß wieder an. Alle wollen in den Süden. Woher kommst du denn?
Ich? Ich bin von hier. Aber mein Vater ist auch Deutscher.
Aha. Und die Mutter ist Schweizerin?
Äh, ja. Heinrich wich dem Blick seines Gegenübers aus.
Haben Sie Familie?, fragte er, versuchte, von sich abzulenken.
Mario nickte und kramte ein Foto aus seiner Brieftasche hervor. Darauf waren eine dicke Frau und zwei pausbackige Buben zu sehen. Die Buben saßen auf dem Schoß ihrer Mutter und lächelten, als hätten sie im Lotto gewonnen. Man glaubte, den Stuhl ächzen zu hören, auf dem die Familie saß. Heinrich lächelte höflich.
Ist es nicht schwer, ständig fort von zu Hause zu sein?, fragte er.
Jetzt frag ich dich, entgegnete Mario. Was gibt es Schöneres, als nach Hause zu kommen?
Heinrich wiegte den Kopf hin und her, fand jedoch auf die Schnelle keine Antwort.
Zufrieden nahm Mario die zwei Biere entgegen und drückte eines Heinrich in die Hand.
Prost!, sagte Mario.
Heinrich trank zügig.
Warst du überhaupt schon mal weg von zu Hause?
Heinrich verneinte.
Würde dir guttun. Bloß du und die Straße, der Horizont und deine Gedanken. Das tut jedem gut. Besser als irgendeine Therapie. Ist wie Puder auf den wunden Babypopo.
Heinrich musste grinsen. Das Bier schmeckte köstlich wie selten zuvor. Im Nu hatte er es leergetrunken. Mario bestellte nach.
Etwas später rief Heinrich vom Münzautomat in der Autobahnraststätte seinen Chef an. Die Lüge, dass er nach Hause musste, weil ihm plötzlich schlecht geworden war – wahrscheinlich eine Magenverstimmung –, ging ihm erstaunlich leicht über die Lippen.
Hast du die Sache fertig durchgerechnet?, fragte ihn Zuccolini.
Ja, ich bin praktisch fertig, antwortete Heinrich mit schwacher Stimme. Der Eigentümer hat die Tragkonstruktion überlastet – wie du richtig vermutet hast. Heinrich biss sich auf die Lippen.
Eine Katastrophe ist das, entgegnete Zuccolini und ließ einen Augenblick verstreichen. Du, Heinrich, gönn dir doch mal eine Auszeit. Ich kann mir vorstellen, wie sehr dir die Geschichte an die Nieren geht – uns allen. Hast du nicht noch Überstunden zu kompensieren?
Doch. Jede Menge.
Na also. Ich will dich hier morgen nicht sehen. Zuccolini sagte es kumpelhaft, was so gar nicht seine Art war. Er war ein guter Chef, rundum geschätzt. Gerade deshalb war Heinrich es ihm schuldig, freiwillig das Feld zu räumen, sich geschlagen zu geben und alle Verantwortung auf sich zu nehmen. Heinrich hatte nicht vor, auch noch Zuccolinis hart erarbeiteten Ruf zu zerstören.
Als er den Hörer auf die Gabel legte, realisierte er, dass er vielleicht zum letzten Mal als Angestellter mit Zuccolini gesprochen hatte. Nach seinen Zwangsferien war er fällig.
Er ging zur Kasse und wechselte eine Zehnernote in Münzen. Wieder beim Apparat, tippte er die Nummer seiner Tante in Paris ein. Sie sagte, dass er sie duzen solle und sie sich auf seinen Besuch freue.
Als sich Heinrich wieder zu Mario an den Tisch setzte, hatte der erneut nachbestellt.
Irgendwie mit sich und der Welt zufrieden verließen Heinrich und Mario das Autobahnrestaurant um zwei Uhr. Mario klopfte Heinrich auf die Schulter und sagte, er solle nicht so ein langes Gesicht machen, nur weil er ihn nicht nach Rom mitnehme. Sie lachten. Heinrich schaute zu, wie sich der Lastwagen zischend und schaukelnd in Bewegung setzte, und winkte ihm hinterher. Mario tutete zum Abschied mit dem Horn. Heinrich kicherte und summte ein Lied, als er lässig über den Parkplatz zu seinem Auto schlenderte.
Windeln, murmelte er amüsiert, blieb wieder stehen und versuchte, den Lastwagenfahrer zu imitieren: Nur du und die Straße!
Umständlich fummelte er seinen Autoschlüssel hervor, schloss auf und warf sich hinters Steuer. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss, legte den ersten Gang ein und trat mit Elan aufs Gaspedal.
Der Lastwagen schaukelte so heftig auf der holprigen Straße, dass ich mich am Armaturenbrett festhalten musste, um nicht einem meiner Sitznachbarn, von denen ich nicht mehr als ihre Namen wusste, kopfvoran in den Schoß zu fallen. Die Straße war manchmal nicht mehr als eine Spur im Gras. Wir fuhren Richtung Westen, an Dutzenden Fjorden entlang, Fjord hinein, Fjord hinaus, mal im Schritttempo, mal über die staubige Piste bretternd, und ich glaubte mich mit jeder Stunde, mit jedem Kilometer weiter von Deutschland, meiner Heimat, zu entfernen. Von mir selbst. Wenigstens tröstete mich dieser Gedanke. Ich bemerkte, wie mich Dagur manchmal heimlich aus den Augenwinkeln betrachtete. Er war bestimmt einige Jahre jünger als ich, war neugierig und scheu und benahm sich wie ein Schuljunge. Ich vermutete richtig, dass er keine Frau hatte. Wie ich später erfuhr, waren die isländischen Frauen in großer Zahl weggezogen, hatten sich entweder in der Stadt niedergelassen oder sich mit den Amerikanern, die im Krieg auf der Insel stationiert gewesen waren, aus dem Staub gemacht. Wer sollte es ihnen übelnehmen! Das Leben in Island war damals kein Zuckerschlecken, wie ich noch früh genug erfahren sollte. Es herrschte Armut, auch wenn genug Essen vorhanden war. Manche lebten noch wie im Mittelalter in Torfhäusern, bewegten sich auf Pferden fort, litten an Gicht und starben an einer simplen Grippe. Es wurde von früh bis spät gearbeitet. Die Kinder sahen aus wie kleine Erwachsene.
Ich zog diese harte Realität all meinen Albträumen vor. Ich konnte es nicht erwarten, von früh bis spät zu arbeiten, wollte schuften, denn ich wollte nicht mit meinen Gedanken allein sein. Beim Nichtstun konnten diese Gedanken zu Ungeheuern heranwachsen, überhandnehmen und echten Schaden anrichten. Als die Klippen am Ufer immer höher stiegen, beruhigte mich der Gedanke, mich jederzeit ins Meer stürzen zu können. Eine Art Hinterausgang, der mir immer offen stehen würde. Denn ich hatte keine Angst vor dem Tod – in welcher Form er mir auch begegnen würde. Ich rechnete sogar damit, nur noch wenige Jahre zu leben. Ich hatte ausgelebt, fühlte mich rostig, leergesaugt und ausgelaugt. Meine Furcht galt einzig meinen Erinnerungen, die ich nun dank dieser neuen Welt, den arbeitsreichen Tagen, zu unterdrücken vermochte, und denen ich keine Möglichkeit gab, keine Zeit ließ, mich zu terrorisieren.
Ich überlebte auch die Fahrt in die Westfjorde, dem nordwestlichsten Zipfel Islands, wo die Leute behaupteten, bei schönem Wetter bis nach Grönland sehen zu können. Doch ich habe es nie gesehen, das Land der Eskimos und Eisbären. Vielleicht sind meine Augen nicht gemacht für solche Weitblicke.
Spätabends erreichten wir den Bauernhof Brekka. Ich war völlig gerädert von der holprigen Fahrt, jedes Schlagloch vibrierte noch in meinen Knochen, und ich trug blaue Flecken davon. Ich nahm alles wie aus weiter Distanz wahr. Meine Seele war noch immer irgendwo auf dem Schiff, und plötzlich vermisste ich sie, meine Landsleute. Ich wünschte, Ursula wäre bei mir. Doch da war ich nun. Allein. Den Isländern ausgeliefert. Aber ich war angekommen. Meine Flucht war beendet – dachte ich zumindest.
Die Farm stand auf einem scheinbar brachen Stück Land in einem Tal, zwei Kilometer oberhalb einer weiten Bucht, die Straße führte weiter auf eine kleine Passhöhe und endete dahinter in einem auslaufenden Fjord. Kein Baum weit und breit. Dafür genügend Unkraut, das den Stallwänden entlangwucherte. Vor dem Haus erwartete uns eine Frau mit zwei kleinen Kindern am Rockzipfel, die meines Erachtens längst im Bett hätten sein müssen: Dagurs Schwester Stella mit ihren Söhnen Doddi und Bjössi. Sie begrüßte mich mit ernstem Gesicht und schwachem Händedruck, nahm mich kaum war, doch sie half, einige Waren ins Haus zu tragen, obwohl sie augenscheinlich schwanger war. Ihr Mann Magnús war Fischer und tauchte nur alle paar Monate auf. Ihn sollte ich später kennenlernen.
Þorkell winkte mich ins Haus und setzte mich an den Küchentisch, Dagurs Schwester schenkte mir Kaffee ein, obwohl es schon Schlafenszeit war. Doch draußen war es noch immer hell. Der isländische Sommer. Daran hatte ich mich erst noch zu gewöhnen. Dagur war verschwunden und ließ sich nicht mehr blicken. Ich musste dringend auf die Toilette, wusste jedoch nicht, wie ich danach fragen sollte. Ich hätte schreien wollen, so sehr drückte mich die Blase. Dagurs Schwester begriff schließlich und gab Þorkell zu verstehen, was mit mir los war. Der stand brummend auf, nahm mich am Handgelenk und führte mich in den leeren Kuhstall. Die Kühe lagen draußen auf der Weide. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Kuhstall gewesen. Der Gestank verschlug mir den Atem. Þorkell grinste, drückte mir Toilettenpapier in die Hand und machte eine einladende Handbewegung: Bitte schön! Wenn ich daran denke, dass wir erst drei Jahre später ein Plumpsklo einrichteten, nachdem ich darauf bestanden hatte! Ich fragte mich ernsthaft, in welchem Jahrhundert ich gelandet war.
Nachdem ich mein Geschäft verrichtet hatte, trat ich völlig benommen aus dem Stall, die Welt drehte sich, und deshalb blieb ich eine Weile auf dem Vorplatz stehen, schaute auf die Berge ringsum. Noch nie hatte ich solch ein Land gesehen. Schroffe, zerfurchte Hänge, völlig verwittert, mit wenig Gras an den Furchen, lange Schatten, wie die Silhouetten von Riesen, wild geschwungene Flüsse, glucksende Bäche, ein schwarzes Meer, schwarze Strände und schwere, schwarze Wolken. Dazwischen drückte die Sonne ihre späten Abendstrahlen auf die nassen Felder. Es roch nach Gras, nach Kuhmist, nach Stein, nach Meer, nach Tau. Ich wusste sofort, dass ich hier den Rest meines Lebens verbringen würde, weitab von den Betonwüsten und Ziegelsteinlabyrinthen der Städte, vom menschlichen Versagen, dem historischen Ruin. Hier gab die Natur den Ton an, und ihr wollte ich mich beugen, untertan machen. In ihrem Schoß, und sollte er noch so kalt und nass sein, fühlte ich mich geborgen und beglückt, als hätte ich ein Glas Rotwein in guter Gesellschaft getrunken. Ich sollte mich selbst an den Gestank im Kuhstall gewöhnen, der schon nach wenigen Tagen gar nicht mehr so penetrant war.
Ich erinnere mich gern an damals. Es erstaunt mich selbst, dass ich noch immer, Jahrzehnte später, auf dieser Insel bin. Ich gehöre hier hin – und dann wieder nicht. Ich bin ein Zugvogel, der es versäumt hat, im Herbst in den Süden zu fliegen. Jetzt suche ich Schutz vor der Kälte und dem Schnee, vor der Einsamkeit, weiß, dass sie mir nicht erspart bleiben wird. Doch ich werde sie nicht abweisen.
Es ist wieder still im Zimmer. Solveig muss sich noch um andere Heimbewohner kümmern. Ich teile Solveig ungern, hätte sie lieber bei mir im Zimmer. Sie erinnert mich an Ursula. Vielleicht würde ich mein Vorhaben verschieben, wenn sie sich öfters zu mir setzen würde.
Die Esja hat sich für eine Weile hinter den Regenschleiern verborgen. Der Wind ist erwacht. Man sieht es an den Blättern der Balsampappel, deren Krone bis in mein Blickfeld reicht. Früher gab es hier noch keine Bäume. Die Leute hatten vergessen, dass die Insel einst bewaldet war, glaubten gar nicht daran, dass hier Bäume wachsen würden.
Möglich, dass der Wind die Regenschleier vertreibt, aufs Meer hinaus oder in die Täler hineinjagt. Ich glaube nun nicht mehr, dass es in Reykjavík regnen wird.
Frische Meeresluft weht mir ins Gesicht. In meinem nächsten Leben möchte ich Fischer werden. Allein auf meiner Trilla auf den Horizont zuhalten, nur ich und das Meer, zwei Drittel der Erdoberfläche, ein einziger, riesiger Teich, und ich im Boot, ein kleiner Punkt. Nur ein paar morsche Planken würden mich von der Tiefe trennen, die ich nicht fürchten würde. Ich nehme mir vor, mich in meinem nächsten Leben nicht mehr vor dem Leben zu fürchten. Ich schließe die Augen. In Island habe ich gelernt, dass der Wind eine Seele hat wie du und ich. Er ist kein abstraktes Naturphänomen. Er spricht mit mir. Ich höre zu. Manchmal gebe ich Antwort. Wer seine Sprache spricht, weiß, ob das Gras geschnitten oder ob die Segel gehisst werden sollen. Ich höre, wie der Wind neugierig um die Häuser säuselt, sich noch immer nicht an sie gewöhnt hat, als messe er die Dimensionen ab, um dem Sturm Bericht zu erstatten. Dann wird er kommen, der Sturm, die Häuser wegzufegen! Doch es wird ihm misslingen, denn die Menschen haben sie tief im Boden verankert. Ich glaube sogar, die Wolken rauschen zu hören, wie sie gen Westen ziehen. Man muss nur ganz still sein und lauschen. Die Regenschleier haben sich zurückgezogen, doch die Wolken haben sich am Hochplateau der Esja verfangen.
Ich spanne die Bremse des Rollstuhls, brauche beide Hände dazu. Ich werfe die Wolldecke zu Boden, richte mich mit zitternden Armen auf – es klappt beim dritten Versuch. Seht nur! Staunt nur!, denke ich und lächle spitzbübisch, stehe auf zitternden Beinen. Ich habe Feuer vom Himmel regnen sehen, habe dem Hunger getrotzt, habe meine besten Jahre unter einem Diktator überstanden, der sehen wollte, wie die Welt in Flammen aufgeht. Und ich stehe noch immer, wenn auch nicht ganz so aufrecht wie damals. Doch gib mir eine Sense, und ich werde Gras schneiden! Du würdest staunen. Gib mir einen Melkstuhl und eine Kuh, und ich werde sie melken. Mich bringt man nicht so einfach zu Fall!