In dem Heinrich seine Tante kennenlernt und von einem Haitianer portraitiert wird.
Nun hieß es, alle Sinne anzustrengen, wachsam zu sein wie ein Fuchs auf dem Bauernhof. Fremdes Territorium, fremde Sitten, albtraumhafte Sprache, und irgendwo in dem flächendeckenden Getümmel aus Türen, Beinen, Auspuffen und Gehsteigen eine Adresse, eine Hausnummer, eine Tante, von der Heinrich bis vor Kurzem nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab; verwitwet, kinderlos, pensioniert, allein, zwei Brüder, der eine im Krieg gefallen, der andere bald danach, die Schwester vor Kurzem verstorben und begraben in Island. All ihre Geschwister lebten nicht mehr. Wie musste es sich anfühlen, als Letzte einer Geschwisterschar zurückzubleiben? War es Fluch oder Segen, länger als alle anderen zu leben?
Die Reise vom Flughafen bis ins Montmartre-Quartier dauerte länger als der Flug von Zürich nach Paris. Völlig verschwitzt und erschöpft erreichte Heinrich die Gasse und fand schließlich die Hausnummer. Er blieb stehen, wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn, trat näher und stellte sich in den Schatten des Gebäudes. Ein Hund kam mit hängendem Kopf angelaufen, beschnupperte Heinrichs Füße und seinen Koffer.
Geh weg, flüsterte Heinrich.
Der Hund schaute ihn an.
Casse-toi!
Soviel Französisch hatte er aus der Schulzeit noch behalten. Der Hund trottete weiter. Heinrich stieß die Tür auf, betrat das dunkle Entree und wurde sogleich der wohltuenden Kühle gewahr. Eine dicke Concierge hinter einem braunen Glasfenster mit kleiner Öffnung fragte ihn freundlich, wer er sei und wen er zu besuchen gedenke. Offenbar war sie über seine Ankunft in Kenntnis gesetzt worden, denn als Heinrich seinen Namen und den seiner Tante nannte, nickte sie zufrieden. Sie lächelte ihn verschwörerisch an, als wüsste sie genauestens über ihn Bescheid. Sie erklärte ihm den Weg durch den Innenhof des Gebäudes, zwei Treppen hoch bis ins dritte Stockwerk, dann links und nochmals links, der Name stehe an der Tür.
Oben angekommen, stellte er seinen Koffer ab und schnappte nach Luft. Es roch süß nach exotischem Holz und sonnenwarmer Mauer. Er drückte auf die Klingel und vernahm ein entferntes, schepperndes Surren. Unterhalb der Klingel, gestanzt auf ein goldenes Täfelchen, stand: Charlotte Bertrand. Heinrich wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn, rückte sich die Brille zurecht und strich sich die Haare über der Stirnglatze glatt. Er hatte Durst. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Er hörte, wie jemand zur Tür geschlurft kam, ein Schloss öffnete, ein zweites und ein drittes, dann ging die Tür einen Spalt weit auf, und in dem Spalt war – nichts. Niemand. Erst als Heinrich den Blick senkte, bemerkte er die zwei vom Leben gebleichten, neugierigen Augen, und sogleich ging die Tür ganz auf. Heinrich stand einer kleinen, alten Frau gegenüber. Sie schaute ihm geradewegs ins Gesicht, ihr Blick hüpfte von einem Auge zum anderen. Heinrich hatte sich anhand der schönen, kräftigen Stimme von den Telefongesprächen eine große, etwas in die Jahre gekommene französische Dame vorgestellt, doch diese Frau hier schien einem Grimm-Märchen entlaufen zu sein; das Gesicht voller Runzeln, dünnes, krauses Haar, die Hände zitterten sichtbar. Fehlte nur noch, dass sie ihm Lebkuchen anbot. Doch sie musterte ihn liebevoll und neugierig von Kopf bis Fuß. Er sagte verlegen, und es war in diesem Moment bestimmt überflüssig:
Guten Tag. Ich bin Heinrich. Heinrich Lieber.
Seine Tante ging wortlos auf ihn zu, umfasste seine Hand mit beiden Händen, drückte sie fest und ließ sie nicht mehr los. Ihre Hände waren warm und geschmeidig. Offenbar salbte und pflegte sie sie intensiv. Heinrich bemerkte, dass es ihr die Stimme verschlagen hatte. Sie lächelte, presste jedoch die Lippen zusammen, als versuchte sie die Tränen zurückzuhalten. Deshalb schwieg auch Heinrich betroffen und ließ sich wie ein kleines Kind an der Hand in den engen Flur der Wohnung führen. Hinter ihm schloss seine Tante die Tür mit den drei Schlössern ab. Heinrich musste erstaunt auf die massiven Sicherheitsvorkehrungen gestarrt haben, denn nun seufzte Charlotte:
Paris.
Heinrich nickte, als wüsste er, wovon sie sprach, und stellte seinen Koffer bei der Garderobe ab.
Bienvenue, mon Heinrich! Charlotte hatte seine Hand wieder umfasst und strahlte ihn an, musterte sein Gesicht. Heinrich erkannte ihre kräftige Stimme. Seine Tante führte ihn ins Wohnzimmer: antike Möbel, gehäkelte Vasenuntersätze, Stickbilder, die junge, schön gekleidete Frauen beim Stricken oder Kinder beim Baden oder Bücherlesen zeigten, barocke Bilderrahmen, rosarote Tapeten, alles gepflegt, sauber, alles an seinem Platz. So ganz anders als bei ihm zu Hause, wo Judith die Ordnung ständig untergrub, Pfannen und Geschirr ins Wohnzimmer schleppte und als Hubschrauberlandeplätze oder Schlagzeug missbrauchte, wo die Kissen der Couch aufgetürmt mal als Räuberhöhle, mal als Prinzessinnenschloss dienten oder das Toilettenpapier vom Bad bis in die Stube reichte, weil Judith das Ende in ihrem Hosenbund eingesteckt hatte und mit dieser königlichen Schleppe durch die Wohnung stolzierte. Nein, dies war eine andere Welt. Es duftete dezent nach Kräutern, vielleicht Lavendel oder Rosmarin.
Du bist bestimmt hungrig und durstig, vermutete Tante Charlotte richtig und verschwand in der Küche, bevor Heinrich eine Antwort geben konnte. Bewegungslos blieb er im Wohnzimmer stehen, schaute auf die Couch, rieb sich die Schweißhände an der Hose ab, schaute sich um, setzte sich auf die Couch, ohne zu wissen, wohin mit den Händen. Aus der Küche hörte man das Klappern von Geschirr, von draußen das dumpfe Wummern der Stadt. Auf der Kommode standen Fotos eines Mannes sowie eine eingerahmte Todesanzeige. Kerzen vollendeten den Schrein. Vor Heinrich lag ein jägergrünes Fotoalbum auf dem Tischchen, abgenutzt von der Zeit. Doch es war dem Album anzusehen, dass es für den Besucher bereitgelegt worden war. Es wollte von ihm geöffnet und betrachtet werden und hätte sich selbst geöffnet, wenn es gekonnt hätte.
Heinrich rührte es nicht an. Er wusste wohl, dass da seine Mutter zwischen den Seiten lag, schwarzweiß bestimmt, sepia vielleicht. Hoffentlich nicht farbig. Er wurde sich bewusst, dass er sein Leben lang kein einziges Foto seiner Mutter gesehen hatte. Vielleicht hatte er nie das Bedürfnis verspürt, ein Foto von ihr zu sehen, weil er geglaubt hatte, sie sei in einer Nervenklinik zugrunde gegangen. Er hatte sie seit jeher verdrängt und aus seinem Leben ausgeklammert.
Heinrich blieb still und unbeweglich sitzen, atmete flach. Die Ruhe tat ihm gut, die Erschöpfung der Reise drückte ihn ins Polster der Couch. Hier, in dieser Wohnung mit den verwinkelten Räumen und den antiken Gegenständen, fühlte er sich seltsamerweise geborgen. Er war froh, der Hektik der Pariser Straßen lebend entkommen zu sein.
Charlotte kam aus der Küche, ein Tablett vor sich balancierend.
Voilà, sagte sie beschwingt, doch als sie Heinrich auf der Couch sitzen sah, hielt sie inne, blickte ihn an, als hätte sie ihn gar nicht hereingebeten – und schüttelte schließlich den Kopf.
Ich war mir nicht bewusst, wie erwachsen du bist, sagte sie. Ich hatte dich viel jünger vor Augen.
Das Telefon, entgegnete Heinrich, es macht uns jünger. Ich bin auch darauf hereingefallen.
Charlotte lächelte staunend, als hätte Heinrich eine großartige Lebensweisheit offenbart. Sie stellte das Tablett mit Tee und belegten Brötchen auf den Tisch.
Willst du es dir nicht anschauen?
Heinrich zögerte, schaute nur auf den Umschlag des Albums. Charlotte setzte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm.
Na los, forderte sie ihn sanft auf. Mach es auf!
Und Heinrich streckte die Hand aus, öffnete den Buchdeckel. Auf der ersten Seite war ein einziges Foto zu sehen, auf dem eine kleine Kinderschar abgebildet war. Zwei Mädchen und zwei Buben. Darunter die Jahreszahl 1927. Die Buben standen in der Mitte und schienen jünger als die Mädchen zu sein. Sie trugen kurze Hosen mit Hosenträgern und hatten die Hände in den Taschen vergraben. Ihre dunklen Haare waren nach hinten gekämmt. Sie schauten ganz ernst in die Kamera, wie erwachsene Männer. Charlotte fuhr liebevoll mit ihrem Finger über die Fotografie und sagte:
Das sind Hans und Heinrich. Heinrich ist der jüngste von uns, und er war ihr Liebling. Deine Mutter und ich, wir haben sie für das Foto so zurechtgemacht. Heinrich ist in Russland gefallen, er war noch sehr jung. Hans ist erst nach dem Krieg gestorben, aber der Krieg hat auch ihn kaputtgemacht.
Das alles sagte Charlotte liebevoll, ohne Trauer, ohne Zorn über den Krieg, als wäre er kein menschliches Desaster, das Versagen einer Generation, das man hätte verhindern müssen, sondern als wäre es lediglich eine dunkle Jahreszeit gewesen, die kommen musste, die man wie einen schweren Winter zu überstehen hatte. Sie erzählte von Hans, dem älteren der beiden Brüder, dem die Flucht aus einem Gefangenenlager in Russland gelungen und der den ganzen Weg nach Hause gelaufen war. Das Leder seiner Schuhe habe sich mit seinen Füßen verbunden, sei ins Fleisch eingewachsen. Leider sei Hans bald dem Alkohol verfallen, traumatisiert, seelisch invalid, wie so manche damals. Als hätte er versucht, die Erlebnisse wegzuspülen, auszukotzen, sich von innen reinzuwaschen, aber wahrscheinlich suche sie zu weit, sagte Charlotte, wenn sie auf philosophischem Weg verstehen wolle, was eigentlich auf der Hand liege. Bestimmt sei es Hans lediglich ums Vergessen gegangen. Doch sie habe nie verstehen können, wie jemand so weit zu Fuß gehen, solche Strapazen durchmachen könne, um danach der Schöpfung und dem Leben nicht dankbar zu sein, nicht länger leben zu wollen. Wozu dann der ganze Marsch?
Sie schüttelte heftig den Kopf, als machte sie sich diese Gedanken zum ersten Mal.
Und das bin ich. Ich bin die Älteste. Siehst du, wie ich seither geschrumpft bin?
Jetzt lächelte sie wieder.
Heinrich beugte sich vor. Tatsächlich war Charlotte die größte der vier Geschwister und gut einen halben Kopf größer als ihre Schwester. Großgewachsen war sie nun nicht mehr, dafür die einzige Überlebende ihrer Familie – und damit noch immer die Größte. Auf dem Foto blickte Charlotte ebenfalls ernst in die Kamera. Sie war eine stattliche, gutaussehende junge Dame, wirkte älter, als sie gewesen sein musste. Sie hatte ihre Hand auf die Schulter des kleinen Bruders gelegt, als wollte sie ihn festhalten, ihm klarmachen, dass er warten müsse, bis der Fotograf das Bild endlich geschossen hatte.
Das Mädchen neben Charlotte war anders. Es blickte als Einzige auf der Fotografie nicht in die Kamera, sondern schräg an der Linse vorbei. Ein leises Lächeln war für alle Ewigkeiten um seine Lippen festgefroren, kaum erkennbar, als hätte es ein netter Gedanke gestreift, als der Fotograf auf den Auslöser gedrückt hatte. Es war hübsch, hatte die Zöpfe zu einem adretten Haarkranz hochgeflochten.
Du bist nach deinem Onkel benannt, Heinrich. Damit wir ihn nie vergessen.
Heinrich runzelte die Stirn.
Schön, dass ihr ihn nicht vergessen habt, sagte er kalt.
Charlotte wurde nervös. Möchtest du Tee?
Bitte, entgegnete Heinrich.
Charlotte ergriff den Teekrug und schenkte sich und Heinrich durch das Teesieb ein.
Wir haben dich nicht vergessen, sagte Charlotte schließlich, stellte den Teekrug ab, stand auf, ging zur Kommode und nahm ein gerahmtes Foto in die Hand.
Entschuldige, murmelte Heinrich, ich –, doch Charlotte unterbrach ihn:
Je älter wir wurden, desto mehr glichen wir uns. Sie überreichte ihm das Foto. Heinrich betrachtete es flüchtig. Die Schwestern glichen sich tatsächlich, doch er erkannte sich nicht in der anderen Frau. Sie war bloß eine beliebige Frau. Er gab Charlotte das Foto schulterzuckend zurück.
Ich habe ihr nicht sehr geglichen, sagte er.
Oh doch!, entfuhr es Charlotte. Du hast dieselbe Körperhaltung. Wie du hier sitzt, vorhin, ich hätte beinahe das Tablett fallen gelassen.
Heinrich unterdrücke ein stolzes Lächeln.
Mein Gott, und dieses Lächeln!, staunte Charlotte. Dieses Lächeln, das man nur bemerkt, wenn man aufmerksam ist. Comme l’ombre d’un oiseau!
Heinrich griff nach einem belegten Brötchen und biss hinein. Seine Tante beobachtete ihn ohne Scheu, wie er sich kauend umschaute, sich die Brotkrumen vom Hemd wischte und ihren Blicken auszuweichen versuchte. Sie machte ihn nervös.
Und wieso hat sie mich in Deutschland zurückgelassen?, fragte er sie, als wäre es eine ganz alltägliche Frage.
Charlottes Kopf begann leicht zu wackeln.
Ich weiß es nicht, sagte sie.
Aber du warst doch bei ihr, nach dem Krieg.
Das schon, aber sie hat sich im Krieg sehr verändert. Sie hat sich in ihrem Schneckenhäuschen verkrochen und niemanden reingelassen. Nicht einmal mich.
Heinrich spürte, dass seine Geduld wie der Sand einer Sanduhr zerrann. Er hatte das Gefühl, dass seine Tante mehr wusste, als sie zugab.
Bin ich den ganzen Weg nach Paris geflogen, um zu hören, dass sich meine Mutter in einem Schneckenhäuschen verkrochen hat? Er sagte es leise und bedrohlich, doch er beeilte sich hinzufügen: Ich denke, ich habe ein Recht, es zu erfahren.
Oh, das hast du, bestätigte Charlotte.
Ihre Hände zitterten immer stärker. Heinrich bemerkte es besorgt. Schon wollte er abwinken, als seine Tante fortfuhr.
Deine Mutter war dabei, als die zwei Russen – sie atmete erschöpft aus – unseren Vater erschossen. Charlotte hielt sich die zitternde Hand vor den Mund und räusperte sich, als wäre ihr etwas in den Hals geraten.
Das tut mir leid, sagte Heinrich. Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass auch sie dabei gewesen sein musste.
Du musst verstehen, Heinrich, es ist schwer für mich, von gewissen Dingen zu erzählen, weil die Gefühle wieder hochkommen. Ich weiß nicht, was deine Mutter bewog, dich zu verlassen, doch ich vermute, dass der Krieg auch sie kaputt gemacht hatte, der Krieg und alles, was damit zusammenhing. Sie war eine sensible Person, weißt du? Alles erinnerte sie an den Krieg, an den Tod. Sie hat ja nicht nur dich verlassen, sondern auch ihren Mann, unsere demente Mutter – und mich. Sie muss gedacht haben, dass du bei deinem Vater besser aufgehoben wärst als bei ihr. Sie –
Charlotte bemerkte erschrocken, wie ihr Tränen über die Wangen kullerten. Sie erhob sich abrupt und eilte in die Küche. Heinrich hörte, wie sie sich die Nase putzte. Als sie wieder in die Stube kam, sah man ihr nicht an, dass sie geweint hatte.
Es tut mir leid, beeilte sich Heinrich zu sagen, er wollte sich für seine grobe Ungeduld entschuldigen, doch seine Stimme hörte sich irgendwie fremd an. Welchen Sinn hatte es denn überhaupt, in alten Wunden zu stochern, die nicht einmal die eigenen waren. Er beschloss, seine Tante mit weiteren Fragen zu verschonen. Sollte sie ihm doch sagen, was sie wollte. Wenigstens durfte er sie kennenlernen.
Noch Tee?, fragte sie, und Heinrich willigte ein, denn er hatte die kleine Porzellantasse mit zwei Schlucken leergetrunken und war noch immer durstig.
Nachdem ich den bitteren Kaffee leergetrunken hatte, führte mich Þorkell durch das niedrige Wohnhaus, zeigte mir die mit Blümchenmuster tapezierte Wohnstube, ein bisschen wie in Deutschland, was aber trotzdem nur wenig Gemütlichkeit aufkommen ließ. Þorkell war stolz auf seine Stube, versuchte mir zu erklären, dass ich mich hier nur aufhalten dürfe, wenn Gäste zu Besuch waren oder wenn er die Erlaubnis dazu gab. Das Haus hatte drei kleine Schlafzimmer, die von Þorkell, Dagur und seiner Schwester belegt waren. Ich sollte das alte Wohnhaus gegenüber beziehen; ein baufälliges Torfhaus, das halb in den Hang gegraben war und nur eine Tür und zwei Fenster hatte. Das Gras auf dem Dach war buschig und drückte schwer aufs Haus. Die ehemalige Küche im Erdgeschoss war zur Vorratskammer umfunktioniert worden. Eine steile Treppe führte hoch in meine Kammer direkt unterm Dach. Nur in der Mitte des Raumes konnte man aufrecht stehen. Das Bett kauerte unter der Dachneigung. Ein einziges Fensterchen zeigte hinaus auf den Hofplatz, und wenn man nah genug ans trübe Glas trat, erkannte man die Bucht und das Meer, das jeden Tag seine Farbe änderte. Die Kammer gefiel mir auf Anhieb, und ich fühlte mich trotz der feuchten Kühle augenblicklich geborgen. Die dunklen Dielen, der Geruch von Holz und Erde, die dicken Wolldecken auf dem für mich zu kleinen Bett – hier wollte ich mich verkriechen. Ich fragte mich, ob die Isländer früher kürzer gewesen waren, um überhaupt in solch kleine Betten zu passen, kurz und robust wie ihre Pferde vielleicht. Doch die Enge meiner Schlafstätte störte mich nicht, denn ich schlief sowieso gekrümmt, als wollte ich mich klein machen. So schlief ich seit dem Krieg, ich war es gewohnt. Der ständige Alarm, die Bomben und die kalten Keller hatten mich gekrümmt. Ich war ein abgebranntes Streichholz.
Þorkell ließ mich allein in der Kammer zurück, gab mir zu verstehen, dass ich mich ausruhen und mich einrichten solle.
Góða nótt, sagte er noch, und ich verstand.
In der Früh klopfte er wieder an die Tür. Ich fühlte mich, als hätte ich nicht mehr als eine Stunde geschlafen. Ich hätte mir gewünscht, dass mich Dagur in die neue Welt einführen und mir alles zeigen würde. Doch Þorkell ließ sich diesen Spaß nicht nehmen. Tatsächlich sah ich Dagur während der nächsten Tage kaum. Er war irgendwo hinter den sieben Bergen damit beschäftigt, Zäune zu flicken, in die Klippen geratene Lämmer zu suchen, was weiß ich. Þorkell zeigte mir die Stallungen der Kühe und der Schafe, er zeigte mir die Pferde, die draußen auf der Weide standen und – wie die Schafe und die Kühe auch – alle einen Namen hatten. Er nannte die Namen, doch ich konnte mir keinen davon merken. Am Fuße des Berges gab es weitere Stallungen, im Schatten der Felsen morsch geworden, die Dächer hingen durch, als würden sie sich von den Wintern nicht länger erholen können. Þorkell zeigte mir die Wasserquelle am Hang, das kleine Steckrübenfeld und den Hühnerschuppen. Er erklärte mir dabei wild gestikulierend die Arbeiten, die es tagtäglich zu erledigen galt. Und ich verstand bald, lernte schnell:
Kochen. Hauptsächlich Fisch und Schaf, aber manchmal auch Fohlen. Immer Kartoffeln. Steckrüben und Fladenbrot. Sonntags Kuchen backen. Putzen. Waschen, waschen, fast jeden Tag. Davon bekam ich manchmal blutige Hände vom Waschmittel, das ich scheinbar nicht vertrug. Stallarbeit. Kühe melken, Kühe auf die Weide treiben, die Milch auf einem Wagen ins Dorf karren, den Stall putzen, die Kühe von der Weide holen, Kühe melken, Kühe auf die Weide treiben. Torf stechen, bis die Blasen an den Handflächen zerplatzten. Kam Stellas Mann von der See zurück, galt es die Fische, die er mitgebracht hatte, auszunehmen und zu salzen. Abends oder bei Schlechtwetter Kleider flicken. Heuernte. Mit der Sense Gras mähen, mit der Heugabel verzetteln und dann auf den Leiterwagen laden und in den Heuschober karren. Ohne Pause, das Wetter konnte jederzeit umschlagen. Gemäß Vertrag, den ich in Deutschland unterschrieben hatte, hätte ich acht Stunden am Tag arbeiten müssen. Oft waren es vierzehn Stunden. Ich hätte dafür bezahlt werden sollen, doch ich habe bis heute weder von Þorkell noch von Dagur eine einzige Krone bekommen. Das war mir egal, denn wofür hätte ich das Geld ausgeben sollen?
Es war eine Menge Arbeit, doch mir war alles recht, was mich nicht an meine Vergangenheit denken ließ. Es machte mir nichts aus, und ich beschwerte mich nicht.
Ich erinnere mich, wie Þorkell am ersten Morgen in der Küche meine Oberarme befühlte. Er drückte lange an mir herum, bis ich ihm den Arm schließlich entzog. Er grinste und nickte, als wäre er mit meinem Körperbau ganz zufrieden. Dabei fühlte ich mich noch immer müde und kraftlos. Völlig ausgekratzt. Als pulsierte mein Blut langsamer durch die Adern. Doch im Kopf war ich klar genug, um zu realisieren, dass der Alte mehr von mir verlangen würde als Fleiß und Eifer. Hier oben, weit weg von allem, der Sprache nicht mächtig, war ich ihm ausgeliefert. Er konnte mit mir anstellen, was er wollte. Es hätte niemanden gekümmert. Dachte ich.
Wie diese Stadt pulsierte, und wie sie stank! Heinrich war sowohl fasziniert von den pastellfarbenen Häuserfassaden, den Zinkdächern, den betörenden Geräuschen, die aus den Gassen und offenen Ladentüren rasselten, als auch angewidert vom Gestank, der in ebendiesen Gassen festsaß. Er musste höllisch aufpassen, nicht in Hundekot zu treten, musste um die zerrissenen Abfallsäcke am Straßenrand einen Bogen machen. Den Hauswänden entlang hatten es sich die Obdachlosen bequem gemacht, lagen auf Matratzen aus Pappkarton und betteten darauf ihre knochigen Glieder zwischen leeren Weinflaschen. Daneben, schier unmittelbar, der Duft der Bäckereien, Käseläden und chinesischen Take-Aways, der Duft von gebratenem Fleisch aus offenen Küchenfenstern, der Duft von nassen Pflastersteinen, Baumblättern, die von der warmen Brise gestreichelt wurden, der Duft der Frauen, die an Heinrich vorbeistöckelten, stolz und aufrecht, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen. Der Schweiß der Bauarbeiter auf wackeligen Metallgerüsten. Schwarzer, beißender Rauch aus den Auspuffrohren der dreirädrigen, großmäuligen Kleintransporter. Heinrich saugte die Eindrücke auf wie ein Schwamm das Gekritzel von der Wandtafel und tropfte bald vor Übersättigung.
Er schlich sich ins Abseits, wählte enge, schattige Gassen auf dem Weg zur Sacré-Cœur, um wenigstens nicht auf den erbarmungslosen Verkehr achten zu müssen. Bald stand er vor einem winzigen Bücherladen. Er betrat ihn unauffällig, tat, als sei er einheimisch, ein lokaler Dichter vielleicht, zog wahllos Bücher aus den Regalen, schaute sich die Rückseiten an und blätterte die Seiten durch – bis ihm ein vergilbtes Büchlein über den Bau des Eiffelturms ins Auge stach. Zwar hatte er eine bessere und umfangreichere Dokumentation darüber zu Hause – ein Geschenk seiner Eltern zu seinem Hochschulabschluss –, doch dieses Büchlein musste er haben. Ein Andenken an Paris. Ein Souvenir.
Do you need a bag?, fragte der Buchhändler, als Heinrich bezahlte.
Yes, please, sagte er und fühlte sich ertappt.
Die vielen Stufen hinauf zur Sacré-Cœur de Montmartre brachten Heinrich Lieber ganz schön außer Atem. Der Stress im Büro hatte ihn körperlich geschwächt, das jahrelange, verkrampfte Sitzen verkümmern lassen. Vielleicht sollte er mit den Buben öfters spazieren gehen, auch wenn sie darüber nicht gerade begeistert wären. Freudentänze waren keine zu erwarten. Doch Heinrich würde es zumindest versuchen, würde an einem sonnigen Sonntagnachmittag einen Spaziergang an den Rhein oder in den Bannwald vorschlagen. Vielleicht würden die Buben nicht einmal reagieren, einfach nur stumm in die Röhre glotzen. So wie immer. Doch dann würde er den Fernseher ausschalten, sie würden seufzen, er würde die Frage wiederholen, sie würden maulen, er würde ihnen Abenteuer versprechen, sie würden darüber die Augen verdrehen und spöttisch lachen. Dann würde er ihnen drohen, vielleicht sogar andeuten, dass er den Fernseher wegschaffen würde, sollten sie nicht mitkommen, und sie würden murrend einwilligen. Und nach einer Weile würden sie Spaß haben, Steine in den Fluss werfen, Bäume hochklettern, Felder durchqueren und einander Tannzapfen nachwerfen. Wenn er jetzt doch nur seine Jungs dabeihätte! Sie wären beeindruckt von der Stadt und auch von ihm, ihrem Vater, der sich so frei in den dunklen Gassen bewegte und einfach nach Lust und Laune ein französisches Büchlein über Eiffels Ingenieurskunst kaufte.
Heinrich hatte die oberste Treppenstufe erreicht. Zu seinen Füßen lag nun die immense Stadt, und irgendwo da drüben, man sah es von hier aus nicht, wohnte seine Tante Charlotte. Heinrich war also nicht irgendein Tourist; er hatte hier Familie und würde es erwähnen, wenn ihn jemand danach fragen würde. Doch es fragte ihn niemand.
Ich habe Familie in Paris!, murmelte er und schüttelte erstaunt den Kopf. Paris!
Er und seine geheimnisvolle Tante hatten sich um acht zum Abendessen verabredet. Bis dahin waren es noch zwei Stunden. Schon fast beschwingt schaute sich Heinrich Lieber die Kirche an, nickte anerkennend, als er die Konstruktion durchschaute, murmelte: Neunzehntes Jahrhundert. Sakralbau. Römisch-byzantinischer Entwurf – Heinrich kratzte unauffällig am Gestein. Travertin. Wo zum Kuckuck haben sie den her? Er schlenderte zum Place du Tertre und ließ sich gar zu einem Portrait überreden. Ein Straßenkünstler versicherte ihm nämlich, das Bild gratis für ihn zu machen, da er eben erst aus Haiti angereist war und sich üben müsse.
Also gut. Allez-y!, sagte Heinrich. Kann ja nicht wehtun.
Kaum begann der Künstler, mit prahlerisch schwungvollen Bewegungen Heinrichs Gesichtszüge zu zeichnen, verfluchte dieser seinen schwachen Abwehrmechanismus.
Sourire, Monsieur!
Heinrich knurrte. Zu seinem Übel blieben einige Passanten stehen und warfen zuerst einen Blick auf die entstehende Karikatur, dann auf ihn, das Modell. Sie lachten und zwinkerten ihm verheißungsvoll zu. Heinrich blickte verlegen zu Boden.
Non, non, Monsieur, regardez-moi, look up, please!, befahl der Künstler.
Heinrich wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Wie fragt man auf Französisch, wie lange das denn noch dauert?
Combien de temps?
Der angebliche Haitianer reagierte nicht. Doch nach einigen Minuten, die Heinrich wie Stunden vorkamen, überreichte er ihm die Zeichnung mit der Aufforderung:
Ninety Francs!
Heinrich wollte sich beschweren, das sei nicht der Deal gewesen, doch der Mann trat ganz nahe an ihn heran, drohte, Radau zu machen. Heinrich bezahlte wortlos und riss dem Karikaturisten das Papier aus der Hand. Dieser beachtete ihn schon nicht mehr und machte sich an andere Passanten heran.
Die Zeichnung war lächerlich. Zwar war darauf ein lustiger Kopf zu erkennen, doch bis auf den Schnurrbart, die Stirnglatze und die Brille deutete kaum etwas auf Heinrich hin.
Was solls. Seine Frauen zu Hause würden sich bestimmt amüsieren. Er beschloss, die Karikatur Judith zu schenken. Es erinnerte ihn daran, dass er zu Hause anrufen sollte, um seine Familie wissen zu lassen, dass er wohlauf war. Auf einem Platz mit Bäumen und Parkbänken fand er eine Telefonzelle.
Grüezi!, meldete sich eine kecke Kinderstimme.
Hallo Judith, hier ist Papa! Heinrich hörte seine Tochter aufgeregt nach Luft schnappen. Dann verkündete sie:
Ich habe ein Flugzeug bekommen! Es ist weiß und rot und hat ganz viele kleine Fenster!
Soso. Heinrich schloss die Augen und lächelte.
Und wenn ich mit ihm so mache, fusch!, dann kommt hier so ein –
Hast du den Schlafanzug schon an, Judith? Es ist bestimmt schon Schlafenszeit.
Nein! Ich, ich, ich – soll ich dir etwas sagen?
Bitte!
Mama hat gesagt, ich darf heute länger wach bleiben.
Das ist in Ordnung, sagte Heinrich und schob Münzen nach. Sein Guthaben verkleinerte sich rapide. Es würde wohl nicht länger als zwei Minuten hergeben. Ruf doch bitte mal –
Mamaaa!
Heinrich hielt den Hörer ein Stück weg, um einen Gehörschaden zu verhindern.
Hallo?
Hallo Katrin, ich bins.
Bist du gut geflogen?
Ja, alles bestens.
Hast du deine Tante gefunden?
Ja, aber ich kann nicht lange reden. Ist ziemlich teuer.
Mhm.
Hast du Judith ein Flugzeug gekauft?
Ja, so ein kleines, aus Plastik, weil sie doch heute Morgen die Flugzeuge gesehen hat.
Eine gute Idee.
Danke.
Alles gut in der Heimat?
Was meinst du? Du bist doch erst gerade –
Es klickte im Hörer, und die Verbindung brach ab. Heinrich hörte, wie es nochmals knatterte und dann zu tuten begann. Verwirrt legte er den Hörer auf. Er hätte seiner Frau gern gesagt, dass er sich fühle, als sei er schon seit Tagen von zu Hause fort. Er setzte sich eine Weile auf eine Parkbank und schaute den Tauben zu, die ihn ihrerseits mit schräggelegten Köpfen musterten und auf Brotstücke hofften, die er nicht dabeihatte.
Abendessen bei Charlotte. Es gab Kartoffelgratin und Gemüse. Charlotte aß kaum, hörte nur zu. Heinrich erzählte von seiner Kindheit in Landquart, seinen Eltern, seiner Arbeit, seiner Frau und seinen Kindern, seinem Einfamilienhaus in Felsberg und seiner Modelleisenbahn. Er war in Plauderstimmung. Es kam ja nicht alle Tage vor, dass sich jemand so für ihn interessierte – abgesehen von den Medienleuten und Untersuchungsrichtern wegen der Todeshalle. Aber das war eine andere Geschichte.
Als Heinrich den Teller leergegessen hatte, legte seine Tante ihre Hand auf die seine und blickte ihn an.
Du hast mich gefragt, ob ich wisse, wieso meine Schwester ohne dich nach Island ausgewandert ist.
Heinrich schluckte und nickte.
Ich will dir erzählen, was sich in Deutschland zugetragen hat. Wenn du möchtest. Vielleicht beantwortet es deine Frage.
Heinrich nickte erneut und gab ihr wortlos zu verstehen, dass sie fortfahren solle. Charlotte tupfte sich mit der Papierserviette den Mund ab, legte sie neben ihren Teller und faltete sie mit einer Hand. Dachte nach. Versuchte sich entweder zu erinnern oder rang nach Worten.
Die Amerikaner flogen tagsüber, die Briten nachts, begann sie. Viele Menschen in den Städten flohen aufs Land, übernachteten in nahe gelegenen Wäldern. Doch weglaufen war falsch, denn man lief in den Tod. Dableiben war auch falsch, denn der Tod kam zu einem. Wir waren gefangen. Gefangen im Höllenfeuer. Und in der Hölle ist es laut, nicht nur heiß, weißt du? Der Feuersturm brüllt. Wir harrten im Keller aus. Bald hatte die Decke über uns Risse.
Heinrich saß wie versteinert. Charlotte war bleich geworden, doch sie fuhr tapfer fort:
Es war so heiß. Der Asphalt brannte. Wir sahen eine Frau, die über den kochenden Asphalt rannte und mit ihren Schuhen steckenblieb. Das haben wir mit ansehen müssen, ich und deine Mutter. Die Toten, die nach den Bombardements überall auf der Straße lagen, wurden auf Karren geladen und später dicht aneinandergereiht aufgebahrt. Sie mussten identifiziert werden, denn Hitler – Charlotte lachte sarkastisch auf, war plötzlich hart und wütend, malträtierte ihre Papierserviette, drehte sie in den Fingern, faltete sie immer wieder, bis sie schließlich zerfaserte –, Hitler verbot Massengräber. Wollte die Realität nicht wahrhaben. Und dann kam die Rote Armee, sagte sie noch, schüttelte den Kopf, verwarf die Hände, sagte, diese Menschen seien kaputt gewesen, machte dann eine lange Pause und verlor keine weiteren Worte mehr über diese Menschen.
Tja, und als der Krieg vorbei war und unsere Männer nicht wieder zurückkehrten, mussten wir Frauen den ganzen Schutt wegräumen. Stein um Stein. Ziegel um Ziegel. Die Stadt war zerbombt und niedergebrannt. Wir wurden dem sowjetischen Sektor zugeteilt. Wir dachten an Flucht, viele dachten an Flucht, doch unsere Eltern wollten bleiben. Also blieben auch wir. Die Nahrung wurde noch knapper als in den letzten Kriegsmonaten. Alle Vorräte waren aufgebraucht. Jetzt ging es ums nackte Überleben.
Charlotte atmete aus, schien sich ein wenig zu beruhigen.
Robert, dein Vater, hatte das Kreischen der Bomben, das Klatschen der Gewehrkugeln und das fürchterliche, fürchterliche Brüllen des Feuersturmes nie gehört. Er verbrachte den Krieg in einem Gefangenenlager in England, weißt du? Als er nach Hause kam, zwei Jahre nach Kriegsende, sagte er: Jetzt bringen wir Ordnung in die Bude! Das sagte er, und ich höre ihn noch heute. Anna war nicht mehr dieselbe. Hatte sich verändert. Wir erzählten Robert nie, was sich abgespielt hatte, er wollte es auch gar nicht wissen. Er wollte nur Ordnung in die Bude bringen. So, und deshalb erfuhr er nichts über die beiden Russen, die in unser Haus gekommen waren. Jedes Haus wurde nämlich durchsucht, Widerstand gab es keinen mehr, der Krieg war längst vorbei, das wussten alle, auch die, die zuletzt noch zu den Waffen gegriffen hatten. Wir saßen mit unseren Eltern in der Küche, als die zwei Burschen in unsere Wohnung kamen. Wir hatten gehofft, dass Amerikaner oder Engländer kommen würden, doch wir wurden enttäuscht. Die Russen glotzten eine ganze Weile auf uns junge Frauen und wechselten Worte. Ich hoffte, dass sie lediglich unsere Wertsachen wollten, unsere Uhren, unser Besteck. Vater stellte sich ihnen in den Weg, versuchte, mit ihnen zu verhandeln. Mutter saß auf der Couch, wusste gar nicht, was vor sich ging. Sie war damals schon sehr dement und starb wenige Jahre später. Die Russen wurden ziemlich wütend und führten unseren Vater ins Badezimmer. Sie sagten etwas, dann hörte man Glas splittern, einer brüllte, einer schoss, zweimal, dann wurde es still. Unser Vater war tot. Sie machten ein paar Sachen mit uns, dann verließen sie die Wohnung. Kaputte Menschen, wie wir.
Tante Charlotte atmete tief ein und wieder aus. Wir erzählten es Robert nie – ich habe es überhaupt noch nie jemandem erzählt. Kannst du dir das vorstellen? All die Jahre? Nicht einmal Jacques, meinem Mann, habe ich es erzählt. Auf Französisch klingt es auch ganz falsch. Diese Sprache eignet sich nicht für solches, eine Übersetzung wäre absurd.
Sie schaute Heinrich an, der bleich und steif am Tisch saß. Er hätte gern etwas Tröstendes gesagt, doch seine Worte schienen lächerlich im Vergleich zu dem, was seine Tante erlebt hatte.
Charlotte lächelte ihn traurig an und sagte: Dass du dir das anhören musst. Das hast du gewiss nicht verdient.
Könnte es sein, krächzte Heinrich, dass mein Vater … ein Russe ist?
Aber nein, ausgeschlossen!, entfuhr es Tante Charlotte. Sie schien froh darüber zu sein, auch gute Nachrichten überbringen zu können. Robert ist dein Vater. Hundertprozentig! Aber die Geschichte ist noch nicht fertig. Du fehlst noch. Das Leben nahm nämlich seinen Lauf. Dein Vater saß einfach zu Hause, manchmal suchte er Arbeit oder stand bei der Lebensmittelverteilung Schlange. Doch es gab nichts zu tun. Keine Arbeit. Nichts. Dieser Mann, zu dem meine kleine Schwester einst aufgeschaut und den sie vielleicht aus jugendlichem Leichtsinn geheiratet hatte, war ihr nun völlig fremd. Die Welt hatte sich verändert, und mit ihr Anna. Robert war aber noch immer derselbe. Doch wir hielten zusammen, denn während solch schwerer Zeiten war man trotz allem froh, einen Mann im Haus zu haben. Verstehst du? Dann wurde deine Mutter schwanger. Sie war nicht glücklich über die Schwangerschaft, es tut mir leid, das sagen zu müssen. Einmal äußerte sie mir gegenüber den Wunsch nach einer Abtreibung, sie hatte es anscheinend selbst schon versucht, ich wollte gar nicht wissen, wie, doch ich versicherte ihr, dass sich alles ändern würde, sobald das Kind da sei. Was hätte ich ihr denn sonst sagen sollen? Robert dagegen hatte seine Freude an ihrem Bauch, und du warst ein Bub mit allem Drum und Dran. Dein Vater platzte fast vor Stolz. Aber Anna est devenue folle, wie sagt man, gemütskrank ist sie geworden. Und so verbrachte Robert viel Zeit mit dir, da es für ihn sowieso nichts zu tun gab. Anna blieb tagelang im Bett liegen, weinte nächtelang. Nach einem missglückten Selbstmordversuch lieferte Robert sie in eine Nervenklinik ein, von wo sie wenige Tage später verschwunden war. Es hieß, sie habe sich wohl in die Warnow geworfen. Viele haben das gemacht. Doch sie hatte sich nach Island abgesetzt. Sie musste ein Inserat in die Finger bekommen haben.
Charlotte wurde plötzlich verlegen. Du warst ein knappes Jahr alt, Heinrich. Robert wartete noch ein halbes Jahr, dann ging auch er. Und dich nahm er mit.
Es war schon später Abend, doch die Stadt brummte noch immer. Heinrich bemerkte es, als seine Tante plötzlich zu sprechen aufgehört hatte. Eine Weile noch blieben sie stumm am Tisch sitzen, dann sagte Charlotte:
So, jetzt lege ich mich schlafen, und fügte fast entschuldigend hinzu: Ich gehe immer um diese Zeit schlafen.
Endlich nahm meine erste Woche ein Ende. Es war Sonntag, und ich erhoffte mir einen Ruhetag. Es kam mir vor, als hätte ich pausenlos gearbeitet, als sei ich schon seit Monaten in Island. Dabei war ich noch vor knapp zwei Wochen in der Nervenklinik gewesen. Meine Glieder surrten, meine Hände waren wund, meine Füße schmerzten. Ich wünschte mir sehnlichst eine Pause, doch Þorkell schleppte mich in den Gottesdienst, ließ keine Widerrede zu. Der Priester begrüßte mich vor versammelter Gemeinde, hieß mich erst auf Isländisch, dann in gebrochenem Deutsch willkommen. Dabei wurde ich von den Leuten neugierig gemustert, als sei ich eine Außerirdische. Einige beherrschten ein paar deutsche Worte, die sie nach der Messe an mir ausprobierten.
Guten Tag, sagten sie und hofften auf eine Antwort.
Doch ich lächelte nur höflich.
Willkommen in Island. Wie geht es Ihnen? Kennen Sie Hitler?
Ich schlich mich davon, machte einen Spaziergang durchs Dorf, schaute mir den Hafen an, wo einige Fischerboote vertäut waren. Die großen Boote waren weit draußen. Damals fingen sie den Hering bei Tag und bei Nacht. Fischernetze lagen ausgebreitet am Kai und wurden geflickt. Bald verfolgte mich eine ganze Horde barfüßiger Kinder. Sie waren schmutzig, schlecht gekleidet, doch es waren lebhafte kleine Wesen, die mir forsch ins Gesicht blickten, als versuchten sie mich zu durchschauen. Sie stellten mir Tausende Fragen, doch ich verstand ja kein Wort. Sie nahmen mich bei der Hand, wollten mir alles zeigen, zerrten mich zum Schulhaus und zum Kaufwarenladen, bis Þorkell angerannt kam und die Kinderschar fluchend und fuchtelnd vertrieb, als wäre es ein Wolfsrudel. Er packte mich am Arm, schimpfte auch mit mir und zog mich weg. Ich wehrte mich nicht, wofür ich mich heute schäme. Ich hätte viel lieber Zeit mit den Kindern verbracht. Aber was wusste ich schon! Gar nichts.
Am Abend musste ich die Kühe melken, obwohl es Sonntag war und mir ein freier Tag zustand. Anfangs hatte ich Angst, mich unter die Tiere zu setzen, denn manchmal traten sie nach mir, wenn ich sie zu zögerlich am Euter berührte, ihre Klauen verfehlten mich nur knapp. Doch man lernt alles, wenn man nur will. Ich lernte, dass man eine Kuh selbstsicher angehen muss, sie wissen lassen muss, was man vorhat, ihr mit flacher Hand über die Schenkel reibt, bevor man sie am Euter berührt. Eine Kuh war mir herzenslieb. Valka. Wenn ich mich zu ihr setzte, um sie zu melken, drehte sie sich immer nach mir um, machte muh! und ließ sich von mir den Kopf kraulen, schleckte mit rauer Zunge meine Hand ab. Manchmal, wenn ich ein schweres Herz hatte, sang ich ihr beim Melken deutsche Volkslieder vor. In dem Wasser schwimmt ein Fischlein, das ist glücklicher als ich. Glücklich ist, wer das vergisst. Oder: Und die Morgenfrühe ist unsere Zeit, wenn die Winde um die Berge singen …
Ich arbeitete wie ein Ochse. Machte alle Heuarbeiten, schor Schafe, wusch und verarbeitete die Wolle. Und ich molk jeden Tag Kühe, montags bis sonntags. Meine Hände und Füße wurden allmählich hart und rau. Þorkell war zufrieden mit mir – es war ihm anzusehen –, doch Hoffnung auf Lob brauchte ich mir nicht zu machen. Ich sei schließlich hergekommen, um zu arbeiten, nicht um zu faulenzen, sagte er einmal gegenüber einem Gast, der sich darüber wunderte, dass ich jede noch so schwere Arbeit zu erledigen hatte. So war er.
Dagur tat so, als ginge ihn das alles nichts an, arbeitete so fleißig wie ich, aber schenkte mir kaum Beachtung. Das ärgerte mich am meisten, sodass ich mich oft trotz der körperlichen Erschöpfung in den Schlaf kämpfen musste. Ich war verwirrt, meine Gedanken jagten sich. Wie konnte ich denn wissen, dass mich Dagur ignorierte, gerade weil er in mich verliebt war? In Island äußerten die Männer ihre Gefühle einer Verehrten gegenüber nie direkt, viel eher in Form einer Rauferei mit einem Rivalen oder eines mit Schnörkelschrift auf einen Zettel geschriebenen Gedichts. Doch ich ging weder aus, noch sprach ich Isländisch. Ich arbeitete nur.