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11 NEUSTART IM JOB
Soll ich einen Job, der mich unglücklich macht, möglichst rasch kündigen - oder durchhalten, bis sich die Lage zum Besseren wendet?
Wie eine Französin mit ihrem Job-Frust reich und berühmt wurde - Wie man Wochenendtelefonate mit dem Kollegen in bares Geld umrechnet - Wie man rauskriegt, wer die besten Arbeitgeber Deutschlands sind - Wann du sofort kündigen solltest - Und was der Zweite Weltkrieg womöglich damit zu tun hat, dass sich so viele von uns von ihrem unfähigen Chef zusammenfalten lassen
Schon mal von Corinne Maier gehört? Die Französin veröffentlichte 2004 das Buch Bonjour Paresse, auf Deutsch Die Entdeckung der Faulheit, und das hat ihren Arbeitgeber, einen Energiekonzern, so aufgeregt, dass sie gleich mal entlassen wurde. Corinne Maier schreibt „von der Kunst, bei der Arbeit möglichst wenig zu tun“, so der Untertitel ihres Buches, das in mehr als 30 Sprachen übersetzt und zum Bestseller wurde. Maier gibt kluge und lustige Ratschläge, wie man so tut, als ob man arbeitet, und dabei auch noch erfolgreich sein kann. Nur auf den ersten Blick schreibt sie damit in koketter Punkhaltung gegen den karriere- und selbstausbeutungsgeilen Zeitgeist an. Auf den zweiten Blick wird klar: Sie berichtet einfach sehr genau, wie es wirklich zugeht in unserer Arbeitswelt. Leider. Dazu ein paar Zahlen: Das Gallup-Meinungsforschungsinstitut misst jedes Jahr mit dem „Engagement-Index“, wie stark Arbeitnehmer emotional an ihren Arbeitsplatz gebunden sind. Die Ergebnisse für 2007 lesen sich deckungsgleich mit Maiers Buch: 88 Prozent der deutschen Beschäftigten verspüren überhaupt keine oder nur eine sehr geringe Bindung an ihren Arbeitsplatz. 20 Prozent haben ihrer Firma innerlich den Rücken gekehrt, weiter 68 Prozent sind laut der Gallup-Studie wenigstens keine Jobrebellen, die aktiv gegen ihren Chef intrigieren, aber mehr als Dienst nach Vorschrift ist ihnen der Job nicht wert.
Bloß zwölf Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland zählen sich zur dritten Fraktion: Sie gehen gerne zur Arbeit, identifizieren sich mit den Produkten oder Dienstleistungen ihrer Firma. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kommt zu ähnlich krassen Zahlen wie das Gallup-Institut: Auch hier gaben im sogenannten „Gute-Arbeit-Index“im Jahr 2007 nur zwölf Prozent an, zufrieden zu sein mit ihrem Job, der Rest betrachtete seinen Job als mittelmäßig oder schlecht. Wir sehen: Keine Arbeit zu haben ist schlimm. Arbeit zu haben anscheinend aber auch. Warum eigentlich?
TRAURIG, ABER WAHR: NUR ZWÖLF PROZENT DER DEUTSCHEN ARBEITNEHMER MÖGEN IHREN JOB.
Mehr als die Hälfte unserer werktätigen Wachzeit verbringen wir oftmals im Büro, sehen den Zimmerkollegen öfter als die große Liebe und beste Freunde zusammen. Und doch fällt es uns erstaunlich schwer, über unsere Gefühle bei der Arbeit, unsere Grundhaltung zum Job nachzudenken oder gar zu sprechen. Der Journalist Martin Hampel hat dazu für NEON eine kluge Selbstbefragung formuliert. Unter anderem fragt er:
1. Wann bist du stolz auf deine Firma?
2. Liest du Jobanzeigen?
3. Nenne drei Gründe, warum du deinen Job machst.
4. Gibst du dir eine Aufstiegschance?
5. Wann am Wochenende fängst du an, an Montag zu denken? Mit welchem Gefühl?
Kommt ein ungutes Gefühl in dir auf? Fühlst du dich von den Fragen da oben an die Wand gedrückt? Hast du sehr lange überlegt, um dann eine Antwort zu nennen, die dich selbst nicht überzeugt? Die für dich wichtigste Frage lautet vielleicht: Hast du einen blöden Job oder den falschen Beruf?
Buch umdrehen, nachdenken. Die Frage ist wirklich wichtig und gehört ehrlich beantwortet, sonst werden die kommenden Jahrzehnte kein Spaß. Denn viel von dem Jobgemecker, das Abend für Abend auf Sofas und Kneipenstühlen aufgesagt wird, rührt daher, dass den jeweils unglücklichen Arbeitnehmern der riesige Unterschied nicht klar ist. „Blöder Job“- ganz einfach: Such dir, sofern du, sagen wir mal Anwältin bist, doch einfach eine andere Kanzlei. Oder wechsle in die freie Wirtschaft. Oder bewerbe dich in der Rechtsabteilung einer sympathischen Organisation, deren Ziel es ist, die Welt zu verbessern durch die Abschaffung von Landminen.
Diagnose „Falscher Beruf“: O je, schwieriger Fall! Dass dir die Kollegen auf den Senkel gehen, die Fälle langweilig sind, du in deinen Tagträumen ein Restaurant eröffnest, liegt diesmal sehr wahrscheinlich daran, dass die Juristerei dich ganz grundsätzlich anödet, du in der Auslegung von Paragrafen keine Eleganz entdecken kannst, du dich im Grunde deines Herzens überhaupt nicht gerne streitest.
 
Noch mal Martin Hampel:
6. Wie freiwillig hast du deinen Job gewählt?
7. Nenne drei Dinge, die du an deinem Chef schätzt.
8. Nenne drei Dinge, die er an dir schätzt.
9. Wann hast du zuletzt Lob verdient? Hast du es bekommen?
Genug erstmal der Selbstgespräche. Es gibt zu den großen Fragen der Jobwelt auch Hilfe von außen.
Zwei einfache, aber wichtige Fragen: Was sind das eigentlich: „fantastische Arbeitsbedingungen“? Und wie merke ich eigentlich, ob sich die ganze Plackerei auch wirklich lohnt?
Antworten zu beiden Fragen führen ins Internet. Zunächst einmal auf eine Site zum Staunen, Neiden, Träumen, Für-die-Kollegen-oder-auch-den-Chef-Bookmarken. Die Site heißt greatplacetowork.de und listet schlichtweg die besten Arbeitgeber Deutschlands auf. Jährlich neu.
Die Top-3-Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern für das Jahr 2009: Die Techniker Krankenkasse, SAP, Telefónica O2 Germany. Wer in den entsprechenden Branchen arbeitet: herzlichen Glückwunsch, gerne bewerben. Doch auch wir anderen haben was davon. Wir kriegen nämlich langsam ein Gefühl dafür, was in der eigenen Firma auch machbar sein könnte. Vor dem Besuch von greatplacetowork.de dachtest du vielleicht, Refillkaffee am Ende des Ganges sei eine wirklich nette Geste vom Abteilungsleiter, danach erst weißt du, was wirklich zählt für ein gutes Arbeitsklima: Glaubwürdigkeit, Respekt, Fairness, Stolz, Teamgeist.
Die zweite Website richtet sich vor allem an jene, die so gut bezahlt werden, dass sie in ihrem Freundeskreis oder bei ihrem Partner dafür schon mal mit wenig Mitleid für das Fluchen über das Betriebsklima rechnen können. 65 000 Euro Jahresgehalt, Handy und Computer zahlt die Firma? Klar, dass da kein stressfreier Feierabend um 17.30 Uhr drin ist. Doch bei aller Leistungsbereitschaft: Das Privatleben darf nicht auf Dauer leiden. Natürlich gibt es mal Phasen, in denen besonders viel zu tun ist. Wird dies aber zum Dauerzustand, ist es wohl Zeit, mal zu überlegen, ob dieser enorme Einsatz auch lohnt. Rein finanziell erst einmal. Eben dies leistet der - Achtung, schrecklicher Name - „interaktive Karriererechner“, den der Kölner Unternehmensberater und Buchautor Marcus Schmitz für die Wirtschaftszeitschrift Capital entwickelt hat. Mithilfe dieses Online-Tools (capital.de/karriere/job/100009725.html) lässt sich in Euro beziffern, was vom Verdienst letztlich übrig bleibt, wenn die Nebenwirkungen der Karriere bedacht werden: Überstunden zum Beispiel, die abzurechnen in der Firma nicht üblich ist. Urlaub, der verfällt, weil man vor lauter Projekt-Deadlines gar nicht dazu kommt, ihn binnen eines Jahres voll auszuschöpfen, oder weil das der Sozialdruck der Workaholic-Agentur gar nicht zulässt. Freizeit, in der man Jobprobleme im Kopf wälzt, statt sich locker zu machen. Nicht wenige geraten selbst bei anständiger oder auch sehr guter Bezahlung im Karrierekalkulator in die Miesen. Und dann ins Grübeln. Gut so.
10. Findest du deine Arbeit sinnvoll?
11. Passt sie zu dir?
12. Was ist eigentlich dein Ziel?
13. Bist du auf dem Weg dahin?
Grundsätzlich gibt es wohl zwei grundverschiedene Formen der Job-Unzufriedenheit. Die Unterforderung und die Überforderung. Beginnen wir mal mit Letzterer.
Kaum ein Wort wird im Alltag so widersinnig verwendet wie „Stress“. So wenig, wie man einen langweiligen Sonntag für eine Quarterlife-Crisis halten sollte, ist ein voller Laden oder ein zum dritten Mal klingelndes Telefon gleichzusetzen mit Stress. Stress ist mehr als ein anstrengender Tag, ein wichtiger Termin, ein - danke für den Hinweis an dieser Stelle - ungesichertes Word-Dokument in einem abgestürzten Rechner.
Leider gilt aber auch: Echter Stress nimmt in Zeiten von Weltwirtschaftskrise, befristeten Arbeitsverträgen, Rundum-die-Uhr-Erreichbarkeit-per-Blackberry zu.
Eine eher gute Nachricht: „Die gesellschaftliche Akzeptanz und Sensibilität für psychische Erkrankungen hat sich deutlich erhöht“, sagt Jochen Pimpertz, der am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln als Experte für Sozialpolitik arbeitet. Echter Stress ist längst nicht mehr verschrien als harmloses Psycho-Zipperlein von Teelicht-Weicheiern, sondern gilt mittlerweile als eine akzeptierte Volkskrankheit - von der man allerdings noch nicht mal genau sagen kann, wie viele Menschen von ihr betroffen sind.
Die schlechte Nachricht: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihn zu „einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunder ts“ernannt. Waren 1990 die drei größten medizinischen Leiden der Menschheit noch Lungenentzündung, Durchfall und Kindstod, so sind es 2020 nach Prognosen der WHO: Herzinfarkt, Depression, Angststörungen, Verkehrsunfälle - zumindest die ersten drei oftmals als direkte Folge von Stress.
Typisch für wahrhaft gestresste Menschen ist, dass sie die körperlichen Symptome lange Zeit nicht wahrnehmen. Oder sie zwar wahrnehmen, aber nicht ernst nehmen. „Vor allem ignorieren sie den Zusammenhang mit ihrer Lebenssituation“, sagt Joachim Bauer, Arzt für Psychosomatik an der Universitätsklinik Freiburg.
Was tut sich da beim Burn-out, dem Prozess des Ausbrennens im Körper? Bauer beschreibt das eindrücklich in der Zeitschrift Captial: Das Motivations- und das Stresssystem unseres Gehirns seien vergleichbar mit einer Waage. „Fühlen wir uns bedroht, wird die Ausschüttung der Hormone CRH und Cortisol aktiviert, zudem produziert der Organismus verstärkt Adrenalin und Noradrenalin.“Auf diese Weise bereite der Körper uns auf eine Ausnahmebelastung vor, wir sind alarmiert. Stress ist also durchaus positiv zu sehen. Hohe Belastung am Arbeitsplatz, Entscheidungsdruck, Konkurrenz: das kann die Seele belasten, aber auch als Motivation wirken. Krankhaft wird es oftmals erst dann, wenn der hohe Arbeitsaufwand nicht wertgeschätzt wird. Wenn Überstunden als selbstverständlich angesehen werden, wenn Renditedruck ungebremst oder gar noch verstärkt aus den Vorstandsetagen nach unten gepresst wird.
Haben wir die Situation bewältigt und erhalten wir die verdiente Anerkennung, setzt der Körper Botenstoffe frei, die ihn mit Energie versorgen und das Stresssystem beruhigen. Bleiben Erfolg und Anerkennung aber aus, verharrt der Körper im Alarmzustand - verdammt ungesund.
Die Zeit zitierte Studien, nach denen „sich jeder zweite Beschäftigte in Deutschland praktisch immer oder häufig starkem Termin- oder Leistungsdruck ausgesetzt“sieht. 50 Prozent: das ist schon heftig. Noch schlimmer: Das Zitat stammt aus dem Frühjahr 2006, aus heutiger Sicht also den guten alten und goldenen Zeiten des Wirtschaftslebens. „Die Unsicherheit ist ein großes Problem. Man kann höhere Anforderungen leichter bewältigen, wenn es Sicherheit und Stabilität am Arbeitsplatz gibt. Doch das trifft heute in vielen Bereichen kaum noch zu“, sagt Michael Ertel von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
JEDER ZWEITE ARBEITNEHMER SPÜRT STÄNDIG LEISTUNGS-UND TERMINDRUCK.
Auf angenehmere Zeiten auf dem Arbeitsmarkt können wir in absehbarer Zeit nicht hoffen, es gilt also den wachsenden Stress und den Burn-out im Griff, im Blick zu behalten. Die Forschung kennt mehr als 100 Symptome, sie reichen von Erschöpfung, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Kreislaufschwierigkeiten, sexuellen Problemen, Tinnitus, Magen-Darm-Beschwerden bis hin zu einem insgesamt geschwächten Immunsystem. Matthias Burisch, Burn-out-Forscher an der Uni Hamburg, sieht den Ausgangspunkt in einer Fallensituation. „Die betroffenen Menschen sind entweder blockiert bei der Verfolgung eines unerreichbaren Ziels, an dem sie festhalten wollen. Oder sie verharren in einer subjektiv schwer erträglichen Situation, die sie nicht verändern können.“
Erkennst du dich wieder? Oder deinen Partner, einen Kollegen, einen WG-Mitbewohner? Und wenn ja: in welcher Rolle genau? Wir hätten da im Angebot:
 
Den Beherrschten, der die vom Chef gesetzten Ziele oftmals sogar übertrifft, das selbstverständlich und nicht der Rede wert findet und ohne sich eine Belohnung zu gönnen das nächste Riesenprojekt stemmt.
Den Idealisten, der vor lauter Verantwortungsbewusstsein für seine welt- oder zumindest work-flow-verbessernde Idee das Neinsagen verlernt hat und unfähig geworden ist, Prioritäten zu setzen.
Den Rastlosen, der zwar dauernd über fiesen Druck von außen, die harte Konkurrenz auf dem Weltmarkt oder die kniffelig zu erstellenden Quartalszahlen stöhnt, im Grunde seines Herzens sich den ganzen Druck aber selbst macht - und eigentlich auch abstellen könnte, wenn er ein langfristiges Projekt finden würde, das ihm wirklich Spaß macht.
Den Unentbehrlichen, der behauptet oder weiß, dass alles nicht mehr funktioniert, wenn er seinen beruflichen Einsatz drosselt.
 
Die Liste ließe sich sicher verlängern. Und natürlich sei all jenen, die sich selbst in den vergangenen Absätzen erkannt haben, geraten: Fuß vom Gas, raus aus dem Job, eine Auszeit nehmen, möglichst sofort. Unterbezahlt zu arbeiten kann für eine gewisse Zeit ja noch sinnvoll sein. In einem schleichenden Prozess durch das Arbeitsleben zum Charakterschwein zu werden ist traurig. Aber als körperlich ausgebranntes Wrack zu enden - lebensgefährlich. Unsicheren oder Hilfesuchenden sei wieder der Weg ins Internet empfohlen: burnout-test.de.
Dann wären da noch die perspektivlos Gelangweilten. Vielen von ihnen hat Corinne Maier aus dem Herzen geschrieben, ihnen erstmals eine Stimme gegeben. Denn im Vergleich zu den Gestressten fühlen sich die Gelangweilten oftmals als Unglückliche zweiter Klasse und häufig irgendwie ja auch selbst schuld. Das Gegenteil von Burn-out nennt der Schweizer Unternehmensberater Peter Werder „Boreout“, und diese Langeweile ist ein erstaunlich zersetzendes Gift für die Seele des arbeitenden Menschen. Mindestens jeder zweite Deutsche sei beruflich unterfordert, schätzt Lutz von Rosenstiel, Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Universität München. Laut der Unternehmensberatung Proudfoot Consulting wird ein Drittel der Arbeitszeit mit Privatkram vertrödelt. Unterscheiden lassen sich zwei Grundformen der Unterforderung: qualitative und quantitative. Arbeit also, die langweilt, weil sie zu weit unter deinen Fähigkeiten liegt. Und Arbeit, die dich langweilt, weil du nichts zu tun bekommst.
Wer meint, diese frustbeladene Atmosphäre nicht zu kennen, weil er vielleicht noch gar nicht in einer Firma arbeitet, sondern noch zur Uni geht, dem sei an dieser Stelle trotzdem schon mal ein guter Roman empfohlen, Wir waren unsterblich von Joshua Ferris. Das Buch handelt, vordergründig zumindest, vom langweiligen Büroalltag: Kopierstau, Teeküchen-Getuschel, hässlichem Wandschmuck, Flipchart-Gelaber. Wir waren unsterblich spielt in einer Werbeagentur in Chicago, und auch der Autor selbst hat drei Jahre in solchen Büros in dieser Stadt gearbeitet, bis sein Job wegrationalisiert, er entlassen wurde. Aber Ferris machte das Beste draus: Sein Debüt wurde 2007 von der New York Times zu einem der fünf besten Romane des Jahres ernannt, und es hat sich wohl sehr gut verkauft: Von den Tantiemen hat Joshua Ferris sich nämlich ein schönes Haus nahe des Hudson River gekauft.
Ferris ist ein gutes Beispiel für jemanden, der die Büroöde zwar erkannt, aber erstmal nichts dagegen unternommen hat. Der mit all seinem Talent nicht sofort gekündigt und sich was gesucht hat, das seinem Niveau entspricht. Warum verhielt sich dieser junge Amerikaner so - warum verhalten so viele von uns sich ganz genauso wie Joshua Ferris in seiner Zeit als Agenturangestellter? In einem Interview beschreibt Ferris das tückische Wir-Gefühl, von dem man sich leicht einlullen lässt in einer Firma: „Einerseits habe ich die Wärme und Sicherheit genossen, die dieses künstliche Kollektiv spendet. Das mächtige Wir befreit einen davon, selbst denken zu müssen. Plötzlich durfte ich es mit meiner Individualität etwas lockerer nehmen. Stets die eigene Meinung zu vertreten und das ständige Bemühen, einzigartig zu sein - das ist ja manchmal recht anstrengend.“
WARUM ZÖGERN AUSGERECHNET DIE HOFFNUNGSVOLLEN JUNGEN, MIESE JOBS ZU KÜNDIGEN?
Ferris hat sich, zum Glück, nicht für den Rest seines Lebens einlullen lassen. Er hat sich selbst in den Hintern getreten und in 14 Wochen den 440-Seiten-Roman wie im Rausch niedergeschrieben. Es war sein zweiter Anlauf - denn im ersten Durchgang kam nur „ein kleines wütendes Buch über die Arbeit“heraus, wie er selbst sagt. „Ein kleines wütendes Buch über die Arbeit“lässt Ferris auch in seinem Roman den Angestellten Hank Neary schreiben - was seine Kollegen natürlich köstlich finden. Ferris hat sein erstes Buch verworfen - und einen zweiten Anlauf gewagt. Mit großem Erfolg.
Warum tun es ihm relativ wenig Menschen gleich und wagen einen beruflichen Neuanfang, starten den zweiten Versuch, kündigen, wo sie ahnen, unglücklich zu werden?
Vor allem für uns Jüngere gilt doch eigentlich: Wer noch keine Doppelhaushälfte abzubezahlen hat, drei Kinder durchbringen muss, mit einem Auge schon auf die Rente schielt - der müsste doch wohl die höchsten Ansprüche an eine Arbeit stellen und Jobs, die keinen Spaß machen, keine Aufstiegschancen enthalten, in denen Weiterlernen nicht möglich ist, taktisch klug, aber schnellstmöglich wieder verlassen. Warum ist dem nicht so? Vielleicht, weil man im ersten oder zweiten Job noch nicht abgezockt genug ist. Seinen eigenen Marktwert noch nicht so genau abschätzen kann. Den monatlichen Lohn („so viel Geld hatte ich noch nie auf dem Konto“) eher als Wohltat des Arbeitgebers denn als Deal begreift. Selbst wenn die Kündigung sich als Fehler herausstellt, man mal in eine Sackgasse tappt: Ist das denn wirklich so schlimm? Am ehesten abschauen kann man sich da wohl eine gute Geisteshaltung von den Amerikanern, die seit der Wahl von Barack Obama ja eh nicht mehr nur als dick, doof und kriegstreiberisch angesehen werden. Was sie auf jeden Fall grundsätzlich ganz gut hinkriegen: Lockerer als wir mit beruflichen Brüchen umgehen. Scheitern ist zumindest kein moralischer Makel, der unabwaschbar haften bleibt an deiner Biografie.
Das überzeugt dich nicht? Du schauderst eher bei der Vorstellung, alles nochmal auf null, als dass es dich reizt? Selbst an Silvester, leicht angetrunken und in nachdenklicher Stimmung, hast du noch nie beschlossen, alles hinzuschmeißen, dem Chef eine euphorisch-wütende Abschiedsrede zu halten und mit nur einem Pappkarton beladen das Büro zu verlassen und hinter der Glastür in die Freiheit zu treten? Alles Bullshit? Nun ja, grübeln ist eh eine deutsche Spezialität, es gibt im Englischen sogar den stehenden Begriff der „German Angst“. Die Redewendung kam erstmals in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in englischen und amerikanischen Wirtschaftszeitungen vor - als Beschreibung des deutschen Naturells. Gemeint war: Die Krauts sind zögerlich, scheuen das unternehmerische Risiko, sind leidenschaftliche Pessimisten, die, frei nach Woody Allen, Wassergläser nicht mal mehr als halbleer bezeichnen, sondern fest damit rechnen, dass die Gläser demnächst vom Tisch fallen. Im Ausland entstand der Eindruck der „German Angst“vor allem durch das oftmals übervorsichtige Verhalten deutscher Wirtschaftslenker und Politiker. Die Journalistin Sabine Bode bezeichnet dieses Verhalten gar als „späte Folgen des Zweiten Weltkriegs - begründet in unverarbeiteten Erlebnissen aus der Nazizeit, die dann unbewusst an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden“. Vererbte Angst also, die dazu geführt hat, dass unsere Generation sich ungemeine Sorgen macht um Klimawandel, Welthunger und ähnliche Megakatastrophen, aber auch eigene Arbeitslosigkeit, und trotz guter Ausbildung ohne großes Selbstvertrauen und unternehmerischen Wagemut in die berufliche Zukunft schaut.
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo zwischen dem optimistischen „Just do it“-Grinsen der Amis und der Nazi-Bürde, die uns daran hindert, eine unbefriedigende Festanstellung aufzugeben und den Neustart in ein anderes Berufsfeld zu wagen. Die Sehnsucht nach dem Neuanfang kann jeder verstehen. Und viele Zeitschriften halten sie uns vor die Nase als leuchtende Beispiele: unglückliche Industriekauffrauen, die als Möbeldesignerinnen ihre Erfüllung gefunden haben. EDV-Unternehmer, die nun als Pferdeflüsterer arbeiten, Herzchirurgen, die zu Truckerfahrern wurden und sogar Personalberaterinnen, die im Bestattungsgewerbe glücklich wurden. Ausgedacht? Ne, die Leute gibt’s alle, sie waren Anfang 2009 im stern porträtiert. Schaut euch die Bilder dieser Menschen mal genau an, die lächeln irgendwie anders als du und ich. Solche Lebensläufe machen oft Mut, den Neubeginn zu wagen, der kalten Sinnlosigkeit zu entfliehen, wie Corinne Maier sie beschrieben hat. Oder auch, sich aus dem einlullenden Office-Mief zu lösen, wie Joshua Ferris es getan hat. Sie helfen uns beim Träumen. Aber Vorsicht: Der britische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott bezeichnet Träumen als den Einsatz unserer Vorstellungskraft, um mögliche Szenarien zu schaffen, in denen wir unser Potenzial verwirklichen können. Um allerdings in der Realität etwas bewirken zu können, muss ein Traum einen Bezug zu unseren Potenzialen aufweisen. Andernfalls ist er reine Fantasie. Die Fähigkeit, zwischen Träumen und Fantasie unterscheiden zu können, ist das Entscheidende auf der Suche nach dem wirklich passenden Beruf: Ohne Träume wäre keine Veränderung möglich. Aber wer sich in seinen Fantasien verliert, verbraucht Energie, ohne echte Veränderungen herbeiführen zu können. Corinne Maier und Joshua Ferris haben aus ihren Gedanken über das Gute und das Böse, das Erstrebenswerte und das zu Meidende in der Jobwelt Bücher gemacht. Du liest wenigstens schon mal eines. Aber was willst du selbst? Das herauszufinden ist das Schwierigste. Klingt wie Paolo Coelho. Stimmt aber trotzdem. An die Arbeit!
UM DEN PASSENDEN BERUF ZU FINDEN, MUSST DU DICH SELBST VERDAMMT GUT KENNEN.
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