13 GESUND BLEIBEN
Soll ich mich bei Vorsorgeuntersuchungen durchchecken lassen - oder nur zum Arzt gehen, wenn mir wirklich was wehtut?
Warum ausgerechnet Menschen mit leichtem Übergewicht am längsten leben - Wieso der Unterschied zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewissheit entscheidend ist - Warum Genomforschung die hohen Erwartungen, die in sie gesteckt werden, nicht erfüllen kann - Wann Prävention nutzlos oder gar gefährlich wird
Es gibt zwei Arten von Menschen: Solche, die Taschentücher bei sich tragen. Und solche, die keine Taschentücher bei sich tragen. Schon zu Schulzeiten war das so: Diejenigen, die auf sich achtgaben und bei jedem Hüstler eine heraufziehende Lungenentzündung vermuteten; die ab Oktober nur mit Wollunterhemd das Haus verließen, schon vor der ersten Lateinstunde „Angina Pectoris“und „Pneunomie“buchstabieren konnten und die selbstverständlich im Hallenbad die Haare föhnten. Weicheier. Gerne Einzelkinder, oft Mädchen, nicht gerade die Ersten, die in der Sportstunde ins Handballteam gewählt wurden. Die Sorge um ihre Gesundheit gab ihnen interessanterweise stets den Anstrich des Ewig-Kränklichen, weswegen natürlich diejenigen, die so auf gar keinen Fall sein wollten, selbst bei Minustemperaturen mit tief sitzenden Jeans und rot gefrorenen Ohren in der Raucherecke ihre Kippchen ansteckten. Nierenbeckenentzündung - so what? Ich bin jung und stark und unverwundbar! Echte Gebrechen haben doch nur lebenssinnentleerte Omas, die ihren Hausarzt besser kennen als die eigenen Enkel, jeden Morgen ihre Blutdruckmedikamente einwerfen und sich auf Familienfesten gerne in einen verbissenen Wettstreit begeben, wen es krankheitsmäßig gerade am übelsten erwischt hat.
WANN HAST DU ZULETZT IN DEIN IMPFBUCH GESCHAUT? WEISST DU WENIGSTENS, WO ES LIEGT?
Und dann, schleichend, irgendwie und irgendwann, verfliegen diese jugendliche Sorglosigkeit und der Glaube an die eigene Unversehrtheit. Man versucht, anfangs noch zögerlich, mit Anti-Falten-Cremes, Bauch-Beine-Po-Programmen und wöchentlichen Joggingeinheiten den beginnenden körperlichen Verfallserscheinungen beizukommen, da machen die ersten Geschichten die Runde - von üblen Bandscheibenvorfällen, dem Schwinden des Augenlichts. Was, Brustkrebs? Die ist doch kaum älter als wir! Und sie hat vorher gar nichts gemerkt? Muss der wirklich drei Monate in die Reha wegen seines Rückenleidens, unklar, ob er je wieder viel Sport machen kann? Tja. Und dann kommen unweigerlich natürlich auch die ungemütlichen Fragen an einen selbst: Was, wenn mir auch etwas fehlt? Hat sich dieses verdächtig unverdächtige Muttermal am Oberarm in den vergangenen Monaten nicht ein bisschen verändert? Wann war ich eigentlich zuletzt beim Frauenarzt, um einen Abstrich zur Krebsvorsorge machen zu lassen? Sollte ich nicht einfach mal einen Check-up machen und mich gründlich untersuchen lassen? Es ist ein bisschen wie mit der Altersvorsorge: Irgendwann bekommt man eine Ahnung davon, dass man sich schleunigst darum kümmern müsste. Aber während der eine sofort das Stiftung-Warentest-Sonderheft dazu kauft, ausgedehnte Internetrecherchen anstellt und innerhalb kürzester Zeit über die Vor- und Nachteile der Riester-Rente referieren kann, schiebt der andere die Gedanken daran beiseite und hofft darauf, dass ein überraschendes Erbe oder ein Lottogewinn das schon regeln werde. Und während der eine mit 30 Jahren einen Ordner mit diversen Vorsorgebroschüren anlegt, mit seinem Hausarzt die weitere Vorgehensweise beratschlagt und seinen Körper am liebsten einer möglichst engmaschigen Rasterfahndung unterziehen will, baut der andere mit Gottvertrauen darauf, dass ihm schon nichts passieren werde („Onkel Egon ist ja auch fast 100 geworden …“). Auf der anderen Seite: Was kann man überhaupt an Vorsorgeuntersuchungen machen? Haben die Risiken und Nebenwirkungen? Was bringen sie?
„Vorsorge ist immer gut.“Das ist so ein Satz, den man immer wieder hört. Die Logik dahinter ist einleuchtend: Wenn ich mich schütze, passiert mir nichts. Wenn ich zur Früherkennung gehe, werde ich schneller und wirkungsvoller behandelt und länger leben. Oder wie es Fußballbundestrainer Joachim Löw formuliert: „Alle zehn Jahre zum Darmkrebscheck - das bietet eine Perspektive, um sorgenfrei in die Zukunft schauen zu können.“Neun von zehn Deutschen gaben 2007 in einer Emnid-Umfrage an, die Zukunft der Krankheitsverhütung liege in der Vorsorge. Ganz so einfach sind die Dinge leider nicht. Natürlich ist es sinnvoll, morgens und abends die Zähne zu putzen und zwei Mal im Jahr beim Zahnarzt sein Bonusheft abstempeln zu lassen - wer je eine schmerzhafte Wurzelbehandlung nach fünf zahnarztlosen Jahren über sich ergehen lassen musste, wird sofort nicken. Es ist auch unzweifelhaft eine gute Idee, in seinem Impfbuch nachzuschlagen, ob nicht mal wieder eine Tetanus- oder Diphtherie-Auffrischung ansteht - der kleine Pieks in den Hintern ist harmlos gegenüber den Krankheiten, die er verhindert. Mit Sicherheit kann man auch sagen: Beim Sex Kondome zu benutzen und nicht zu rauchen sind die sichersten Maßnahmen, um sich vor AIDS zu schützen und nicht an Lungenkrebs zu erkranken.
Aber dann wird es rasch viel schwieriger - wenn man sich etwa genauer die Krebsvorsorge anschaut. Jedes Jahr sterben in Deutschland über 200 000 Menschen an dieser Krankheit, das entspricht der Einwohnerzahl von Kassel. Seit Jahren forschen die Wissenschaftler nach dem Supermittel gegen Krebs; sollte es je einer finden, er hätte in jeder Hinsicht den Jackpot geknackt. Aber weil es die Pille dagegen eben noch nicht gibt, dreht man das Ganze um und investiert hektisch in aufwendige Techniken, forscht fieberhaft nach Impfstoffen, kurz: versucht den Krebs erst gar nicht entstehen oder wuchern zu lassen. Und das ist nicht immer unbedingt zum Besten der Patienten. Als 2006 mit großem Hurra verkündet wurde, endlich sei ein Impfstoff gegen Gebärmutterhalskrebs gefunden, nahm die Ständige Impfkommission (STIKO) erstaunlich schnell die neue Erfindung in ihre Empfehlungen auf, und der Impfstoff Gardasil entwickelte sich 2007 mit 267 Millionen Euro zum umsatzstärksten Medikament in Deutschland - kein Wunder, kostet ein vollständiger Impfschutz doch 480 Euro. Nur eineinhalb Jahre später, im Herbst 2008, fordern in einem Manifest 13 anerkannte deutsche Wissenschaftler dringend die Rücknahme der Empfehlung: Neuere Studien hätten nicht belegen können, dass der Impfstoff tatsächlich wirksam sei. Und auch der Technik sollte man nicht blind vertrauen: Überall in Deutschlands Arztpraxen stehen sündteure Mammographie-Geräte, mit denen Brustkrebs im Frühstadium erkannt werden soll. Ab 40, spätestens ab 50 wird den meisten Frauen geraten, alle zwei Jahre ihre Brüste zwischen Plexiglasscheiben pressen und röntgen zu lassen. Abgesehen von der Strahlenbelastung, deren Folgen noch nicht erfasst sind, arbeiten diese Geräte immer noch erstaunlich ungenau: Bei 1000 untersuchten Frauen wird bei sechs von ihnen Brustkrebs erkannt, aber bei drei Frauen übersehen. Bei 50 bis 100 dagegen wird ein Tumor diagnostiziert, der sich erst nach mehreren Nachuntersuchungen als Fehlalarm herausstellt. Ganz ähnlich verhalten sich die Zahlen übrigens bei Vorsorgeuntersuchungen zum Prostatakrebs, selbst bei Darmspiegelungen hängt es von der Erfahrung des Arztes ab, wie sicher er Polypen entdeckt und einzuschätzen weiß. „Früherkennung und Vorsorge verlängern in vielen Fällen keinesfalls das Leben - dafür mehren sie die Zahl der unfrohen Jahre“, schreibt der Spiegel-Journalist Jörg Blech in seinem Buch Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden über die hohe Zahl der prophylaktischen Fehlalarme.
VORSORGE VERLÄNGERT OFT NICHT DAS LEBEN - NUR DIE ZEIT, IN DER MAN SICH SORGEN MACHT.
Okay, zugegeben, das war vielleicht etwas viel Stochastik. Aber - genau darum geht es! Um Wahrscheinlichkeiten - nicht um Gewissheiten. Und das sollte einem klar sein. Krebsvorsorgeuntersuchungen sind der Versuch, ein Risiko zu minimieren, aber kein Schutz - man kann damit, um noch einmal Jogi Löw zu zitieren, keineswegs „sorgenfrei in die Zukunft blicken“. Also liegt es an einem selbst, sich zu überlegen: Wie gehe ich mit diesen Eventualitäten - und im Fall des Falls auch den Fehldiagnosen - um? Wen es beruhigt, der kann es wie der Entertainer und bekennende Hypochonder Harald Schmidt halten, der mit 51 Jahren auf fünf Magen-Darm-Spiegelungen zurückblicken kann. Ein begeisterter Vorsorge-Junkie: „Einmal habe ich sogar zugeschaut! Sonst lasse ich mir eine Schlafspritze geben. Danach wacht man in sensationeller Stimmung auf.“Wer jedoch schon beim Betreten einer Praxis Herzklopfen kriegt und beim Wort „Urologe“Schweißausbrüche bekommt, sollte sich vielleicht am besten an die schlichten Vorgaben der Krankenkassen halten, die wirklich sinnvoll sind: regelmäßiger Gebärmutterhalsabstrich ab 20 Jahren, Brust-Abtasten ab 30, alle zwei Jahre Muttermale anschauen ab 35, Mammographie ab 50, Darmspiegelungen ab 55.
Noch ein paar Worte zur sogenannten Pränataldiagnostik - den Untersuchungen während der Schwangerschaft. Man kann neben den vorgesehenen drei Ultraschalluntersuchungen eine Menge weitere in Anspruch nehmen: testen, ob ein Chromosomenschaden vorliegt (Fruchtwasseruntersuchung), eine Diabetes (Glukosetest), organische Auffälligkeiten (Doppler-Untersuchung), was auch immer. Vielen werdenen Eltern gibt diese Rasterfahndung Sicherheit, sie wünschen sich ein vorab TÜV-geprüftes Baby; je mehr Arzttermine die Schwangerschaft begleiten, desto reiner ihr Gewissen. Auch hier gilt: Bei einer Fruchtwasseruntersuchung können nicht alle Behinderungen ausgemacht werden, sie ist kein Zertifikat für ein nichtbehindertes Kind. Und bei den meisten der Zusatzuntersuchungen geht es nur um Wahrscheinlichkeiten, die einen im übelsten Fall in Panik versetzen. Das sollte klar sein. Vorher.
„Gesundes Essen und angemessen viel Bewegung bescheren mir ein langes Leben.“Das dachte sich wohl auch der Fernsehmoderator Tim Russert, so etwas wie die amerikanische Version von Ulrich Wickert, Träger von 48 Ehrendoktorwürden, Gastgeber der sonntäglichen Sendung Meet the Press. Mit eiserner Disziplin machte er alles richtig: Ließ sich jährlich durchchecken, nahm regelmäßig Aspirin sowie Medikamente, die Blutdruck und Cholesterin senkten, trainierte jeden Tag auf seinem Fahrrad-Heimtrainer, aß brav und regelmäßig Obst und Gemüse, er war ein echtes Vorbild an gesunder Lebensführung. Und dann, an einem schönen Junitag 2008, brach er mit einem Herzinfarkt an seinem Schreibtisch zusammen, als er gerade seine Sendung vorbereitete. Einfach so. Mit 58 Jahren. Und das konnte nicht sein. Die New York Times bekam stapelweise Leserbriefe, in denen die Verfasser darauf beharrten, die „Ärzte müssten etwas übersehen haben“, irgendwo habe es eine Lücke im Vorsorgesystem gegeben. Vielleicht habe er doch nicht so vorbildlich gelebt? - Die Verunsicherung war so groß, dass die Zeitung in einem Artikel antwortete und schrieb: „Man erwartet nicht mehr, dass Menschen auf diese Weise sterben könnten … vor allem nicht, wenn sie gesundheitsbewusst sind und von Ärzten betreut werden.“Sein Hausarzt sah sich zu der hilflosen Aussage genötigt, vielleicht hätte der Fernsehstar einfach doch „zu viel gewogen“.
Das ist natürlich nicht der Beweis dafür, dass gesunde Lebensführung zum sicheren Herztod führt. Aber es zeigt eben auch, dass man zwar viel für seine Gesundheit machen kann, aber nicht alles. Eine kurze Überlegung: Wann ist man überhaupt gesund? Wenn man nicht krank ist? Reicht das? Dann wären nicht kranke Superdicke auch gesund. Sind sie das?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat schon 1946 dazu eine interessante Definition geliefert: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.“Aha - das ist interessant: Diese Definition reduziert Gesundheit nicht auf einen rein körperlichen Zustand, sondern erstreckt sich auf andere, weniger eingrenzbare Bereiche, auf das „geistige und soziale Wohlbefinden“. Es reicht nicht unbedingt, morgens auf das cholesterinverseuchte Frühstücksei zu verzichten, sein Müsli mit fettarmer Milch anzurühren, statt Kaffee Chai-Tee zu trinken und sich abends die Laufschuhe zu schnüren. Aber genau das scheint das Mantra der Zeit zu sein: Ernähre dich nach dem neuesten Stand der Forschung, treibe Sport, und wenn du dich immer noch gestresst fühlst, gönnst du dir eben ein Wellnesswochenende.
Glaubt man wirklich, das soll reichen? Oder kann die permanente Beschäftigung mit dem „richtigen Essen“und der perfekten Gesundheit nicht auch die Lebensfreude trüben? Und ist das nicht mindestens genauso ungesund?
Denn das schlechte Gewissen, wenn man in eine leckere Schoko-Sahne-Torte beißt und somit also eine ernährungswissenschaftliche Supersünde begeht, verursacht ganz einfach - Stress. Zu diesem Ergebnis kamen amerikanische Wissenschaftler 2007 im American Journal of Preventive Medicine. Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit lustlos betriebenem Sport: Der habe nur eine erwiesenermaßen lebensverlängernde Wirkung, wenn man ihn auch einigermaßen intensiv betreibe, schreibt der Mediziner und Journalist Werner Bartens in seinem Buch Vorsicht Vorsorge! Wenn Prävention nutzlos oder gefährlich wird. Schlecht gelaunt ein Mal in der Woche ein Paar Hanteln zu heben bringt gar nichts - man sollte schon Spaß an der Sache haben. „Man lebt statistisch gesehen zwar länger, wenn man Sport treibt - allerdings geht die gewonnene Lebenszeit für das Training drauf.“
Das soll jetzt kein Plädoyer dafür sein, mit dem Verweis auf die eigene Gesundheit mit einer Chipstüte in der Hand die Abende vor dem Fernseher zu verbringen (da ginge ja schon sehr schnell die WHO-definierte geistige und soziale Gesundheit verloren). Nur sollte man sich selbst einfach hin und wieder eine eigentlich simple Frage stellen: Was tut mir gut?
MAN KANN WIRKLICH EINE GANZE MENGE FÜR SEINE GESUNDHEIT TUN. ABER EBEN NICHT ALLES.
Zugegeben sehr einfach, diese Frage. Aber für viele doch erstaunlich schwer zu beantworten. Durch das ständige Bombardement mit Empfehlungen (fünf Mal am Tag Obst!), einfach befolgbaren Ratschlägen (nehmen Sie doch mal die Treppe statt den Aufzug!) und als Gesundheitstipps getarnten Selbstverständlichkeiten (reden Sie jeden Tag mit mindestens einer Person, die Ihnen wichtig ist!) geht einem ganz schnell das Gefühl verloren, ob einem das Tae-Bo-Body-Fit eigentlich wirklich Spaß macht und man Leinsamen wirklich so bekömmlich findet - oder ob einen nicht ein schlechtes Gewissen, der Gruppenzwang, der Zeitgeist dazu nötigt. In diesem permanenten Streben nach vollkommener Gesundheit geht nämlich eines verloren: der Zustand einer gewissen Selbstvergessenheit, das Lockerbleiben. Es gehört zum Leben dazu, Makel zu haben, Fehler zu begehen, eben nicht perfekt zu sein. Und fieserweise kommt zu dieser Verunsicherung im Umgang mit sich selbst noch eines hinzu: Noch nie war es so einfach wie heute, sich krank zu fühlen: 40 000 Störungen und Krankheiten meinen Ärzte inzwischen beim Menschen ausgemacht zu haben, da ist also für jeden Hypochonder etwas dabei. Selbst für so krude Bezeichnungen wie das „Käfig-Tiger-Syndrom“(gestresster Familienvater fühlt sich entscheidungsunfähig) und „Sisi-Syndrom“(Betroffene leiden an der gleichen krankhaften Niedergeschlagenheit wie die Prinzessin) gibt es in der Apotheke die passende Pille; was früher einfach ein schüchterner Mensch war, ist heute jemand, der unter einer sozialen Phobie leidet und behandelt gehört. In diesem Maßnahmenwahn wird eines zunehmend schwieriger: sich einfach richtig gesund zu fühlen.
Übrigens ist eines inzwischen zweifelsfrei erwiesen: Diejenigen, die geringes bis mittleres Übergewicht auf die Waage bringen, sind am wenigsten anfällig für Krankheiten und leben am längsten. Vielleicht könnte diese Information den Arzt von Tim Russert interessieren - der ja angeblich „zu viel gewogen“hat. Und für die Leser der New York Times wäre vielleicht diese Zahl interessant: 300 Einflüsse und Gewohnheiten zählen emsige Forscher inzwischen zu den Risikofaktoren für Herzkrankheiten. Ein paar von denen einzuschränken ist eine gute Idee - sie alle auszuschalten unmöglich. Der Mann, dem dies gelänge, sähe nämlich laut dem amerikanischen Mediziner G. S. Myers, den Jörg Blech in seinem Buch zitiert, so aus:
„Er wäre ein verweichlichter städtischer Angestellter oder Leichenbestatter … ein Mann ohne Appetit, der sich von Obst und Gemüse ernährt, das er mit Maisöl und Walfischtran anmacht; ein Nichtraucher, der den Besitz von Radio, Fernseher oder Auto verschmäht, mit vollem Haarschopf, aber dürr und unathletisch, doch ständig bestrebt, seine kümmerlichen Muskeln zu trainieren. Mit niedrigem Einkommen, Blutdruck, Blutzucker, Harnsäurespiegel und Cholesterin, hat er seit seiner prophylaktischen Kastration Vitamin B2 und B6 eingenommen und über längere Zeit Blutverdünnungsmittel.“Bitte … will irgendwer diesem Rollenmodel nachstreben? (Die äquivalente Beschreibung für Frauen fängt übrigens so an: Eine Fahrrad fahrende, untergewichtige Zwergin …)
„Das ist bei uns in der ganzen Familie so.“So lautet der perfekte Satz, um sich überhaupt nicht um das eigene Wohlergehen kümmern zu müssen - was soll ich schon machen, meine Mutter hatte ab 40 Osteoporose, also morsche Knochen. Dazu passen auch die aufgeregten Schlagzeilen, die mit schöner Regelmäßigkeit die Verkäufe von Zeitungen und Zeitschriften nach oben treiben: „Brustkrebs - Mediziner auf der Spur des gefährlichen Gens“, „Fettleibigkeit genetisch bedingt”, „Gott auf der Spur - ist der Tod des Menschen in der Erbmasse programmiert?”. Und als im Juni 2000 der damalige US-amerikanische Präsident Bill Clinton bekanntgab, das menschliche Genom sei entschlüsselt, wählte er große Worte:
„Wir sind hier, um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu feiern. Kein Zweifel, das ist die bedeutendste und wunderbarste Karte, die die Menschheit je produziert hat. … Mit diesem profunden neuen Wissen gewinnt die Menschheit neue Kraft zum Heilen. Die Genetik wird Einfluss auf unser und das Leben unserer Kinder haben. Sie wird die Diagnostik, Vorbeugung und Behandlung der meisten, wenn nicht aller Krankheiten revolutionieren… Vielleicht werden zukünftige Generationen mit Krebs nur noch ein Sternzeichen, aber keine Krankheit mehr verbinden.“
Und dann gratulierte der ergriffene Präsident noch dem damaligen britischen Premierminister Tony Blair zu dessen neugeborenem Sohn Leo, der nun eine um „25 Jahre längere Lebenserwartung habe als wir selbst“. Schwer zu sagen, welche Worte der gute Bill Clinton, jetzt, fast zehn Jahre später, wählen würde. Aber vermutlich wäre er doch etwas weniger euphorisch - um nicht zu sagen ernüchtert. Ja natürlich: Heute lässt sich eine Vielzahl von genetisch bedingten Krankheiten schon im Mutterleib bestimmen - diese Krankheiten sind aber insgesamt wiederum so selten, dass sie nur einen sehr geringen Anteil der Bevölkerung betreffen. Sie werden in Zukunft auch noch weniger werden, denn die meisten der für krank befundenen Embryos werden abgetrieben. Für die Erforschung der großen Leiden - Krebs, Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Parkinson, Diabetes - ist das entschlüsselte Genom noch überhaupt nicht der erhoffte Segensbringer geworden. Denn man kennt nun unsere Gene, die zu 98 Prozent mit denen eines Schimpansen übereinstimmen, aber wie interagieren sie? „Im Vergleich zu dem, was noch vor uns liegt, war die Entschlüsselung der DNS einfach“, sagt der deutsche Genforscher Bernd Rautenstrauß. „Das wird uns die nächsten 100 Jahre beschäftigen.“
GESUNDHEITSCHECK
UNNÜTZES WISSEN? VON WEGEN
Es gibt viele Fakten, die Gesundheits-Treibenlasser in ihrer Haltung bestätigen. Leider gibt’s ebenso viele Argumente gegen sie.
BEUNRUHIGEND | BERUHIGEND |
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Die zehn größten Pharma- unternehmen geben mehr Geld für Marketing als für die Forschung aus. | Häufiges Masturbieren in der Pubertät schützt vor Prostatakrebs. |
Die meisten Herztrans- plantationen bei unter 40-Jährigen resultieren aus Herzmuskelentzün- dungen, die größtenteils nach einer verschleppten Grippe entstehen. | Wer 25 Zigaretten am Tag raucht, hat ein um 25 Prozent erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Aber wer mit dem Rauchen aufhört, dessen Risiko ist nach 15 Jahren nur noch so hoch wie bei einem Nicht raucher. |
Weltweit fühlen sich Menschen mit 44 Jahren am schlechtesten, das Risiko für Depression und Unzufriedenheit ist dann am größten. |
Jetzt Neugeborene haben eine 50-prozentige Chance, 100 Jahre alt zu werden. |
Weniger als 20 Prozent der Männer nutzen Vorsorgeuntersuchungen, sie sterben im Schnitt 5,7 Jahre früher als Frauen. | Seit es in Deutschland den Abstrich zur Früherken nung von Gebärmutter halskrebs gibt, ist die Krankheit um die Hälfte zurückgegangen. |
40 000 Menschen sterben jährlich in Deutschland an Infektionen, die sie sich im Krankenhaus zugezogen haben. | Wer ein Haustier besitzt, hat ein stärkeres Immunsystem und muss seltener zum Arzt. |
Das eigentlich Interessante an Bill Clintons Rede ist noch etwas ganz anderes: Sein Glaube, der Mensch komme sozusagen schon mit einer programmierten Festplatte auf die Welt, auf der sein Schicksal unumkehrbar vorgezeichnet ist. Es sei also nicht nur genetisch bedingt, ob man blaue oder braune Augen bekomme, lockige oder gerade Haare habe, sondern eben auch, ob man Alkoholiker werde oder depressiv, ob man zur Fettsucht neige oder zu Brustkrebs, ob man alt werde oder jung sterbe. Es ist eine fatalistische Weltsicht, der aber erstaunlich viele anhängen, verfolgt man die Debatte um die Genforschung: Für die einen ist sie der pure Horror, für die anderen eine große Hoffnung - zugrunde liegt aber beiden Meinungen die Ansicht, wir seien der Macht dieser Gene ausgeliefert. Mit diesem Glauben kann man gutes Geld verdienen: Für nur 400 bis 1000 Dollar bieten inzwischen Firmen wie „DeCode“oder „23andMe“an, das Erbgut eines jeden Menschen zu entschlüsseln. Ein simpler Deal, ein fast teuflischer Pakt: Ich schabe ein bisschen mit einem Röhrchen an meiner Wangeninnenseite und gebe dir meine DNA, dafür gewährst du mir einen Blick in die Zukunft. Ein paar Erkenntnisse gibt es ja schon - welche Genbeschaffenheiten die Gefährdung für Prostatakrebs erhöhen, welche Konstellationen dafür sorgen könnten, dass man an Alzheimer erkrankt. Und dann kriegt man irgendwann ein Passwort zugeschickt, loggt sich auf den entsprechenden Webseiten der Firmen ein - und dann? Bekommt man krudes Zahlenwerk, ein Sammelsurium an Wahrscheinlichkeiten, das einen im besten Fall beruhigt und im schlimmsten Fall in Panik versetzt - so erging es beispielsweise vielen Amerikanerinnen, die sich in den vergangenen Jahren vorsorglich die Brüste amputieren ließen, nachdem bei ihnen in einem speziellen Testverfahren die sogenannten Brustkrebsgene BRCA1 und BRCA2 entdeckt wurden. Dabei wären 40 bis 50 Prozent dieser Genträgerinnen überhaupt nie daran erkrankt.
DIE ENTSCHLÜSSELUNG DES GENOMS IST NICHT DER ERHOFFTE BLICK IN DIE KRISTALLKUGEL.
Die Entschlüsselung des Genoms ist ganz bestimmt nicht der Blick in die Kristallkugel, den man sich erhofft hat. Weder gibt es ein einzelnes Brustkrebsgen noch ein einzelnes Depressionsgen, wohl aber anscheinend bestimmte Konstellationen, die zu einer dieser Krankheiten führen können - aber, und das ist wichtig, nicht müssen. Wenn bei jemanden in der Familie eben die eine oder andere Krankheit gehäuft auftaucht, sollte er achtsam sein. Aber präventiv irgendwelche DNA-Abstriche in der Mundhöhle zu machen, bringt überhaupt nichts. Sollte diese Technik irgendwann ausgefeilter und die Erkenntnisse insgesamt weitgehender sein, würden also mal aus reinen Vermutungen echte Gewissheiten werden, dann tauchen allerdings die richtig fiesen Gewissensfragen auf: Was stellen wir mit dem neu erworbenen Genwissen an? Was passiert, wenn jede Firma vor der Einstellung von ihren Bewerbern ein Gen-Screening fordert? Wenn Eltern nur noch Kinder in die Welt setzen, die ein super Genprofil haben? So wie in dem Film Gattaca, dieser Zukunfts-Horror-Vision aus Hollywood, in dem ein Arzt zu einem Pärchen sagt: „Sie wollten hellbraune Augen, dunkles Haar und helle Haut. Ich war so frei und habe alle potenziell abträglichen Beschwerden abgeschaltet, Kahlheit, Kurzsichtigkeit, Alkoholismus … Sie könnten tausendmal natürlich empfangen und nie ein solches Ergebnis erzielen.“
Und spätestens dann sollte, zweitens, diese Einschränkung kommen: Wie wir leben und wie wir sterben - dafür sind, wenn überhaupt, sowieso nur zu einem Drittel die Gene verantwortlich, sind sich seriöse Wissenschaftler heute sicher. Es wird also immer nur um Wahrscheinlichkeiten gehen, nie wird jemand einem sagen können: Zwischen 40 und 50 wirst du einen Gehirntumor bekommen, das sehe ich in deinen Genen. Bei der Entschlüsselung des Genoms dachte man, nun habe man bald eine Lebenslandkarte jedes Menschen in der Hand. Das Wissen um die Erbanlagen des Menschen, das weiß man heute, hat einem jedoch nur einen Kompass in die Hand gegeben, mehr nicht. „Früher haben wir geglaubt, dass unser Schicksal in den Sternen steht, heute wissen wir im Großen und Ganzen, dass unser Schicksal in den Genen steht“, sagte der Genforscher James Watson noch 1988. Falsch. Watson irrte. Und das ist, wenn man ehrlich ist, eine sehr gute Nachricht. Der Harvard-Mediziner Nicholas Christakis hat nach langen Forschungen seine Gesundheitsformel gefunden: Wenn wir verstehen wollten, was unsere Gesundheit ausmache, sagt er, dann sei es so: „30 Prozent hängen mit unseren Genen zusammen, 15 Prozent haben mit den sozialen Umständen zu tun, also ob man etwa in armen Verhältnissen aufwächst. Zu fünf Prozent beeinflusst die direkte Umwelt unsere Gesundheit, etwa ob wir Schadstoffen ausgesetzt sind. Nur zehn Prozent gehen auf die Qualität der medizinischen Versorgung zurück.“Und die restlichen 40 Prozent? Das hänge allein von unserem Verhalten ab. Ob wir rauchen oder trinken, falsch essen oder zu viel, gute Freunde haben oder nicht, in einer intakten Familie aufwachsen oder nicht. Von allem Möglichen also.
HIRSCHHAUSEN-CHECK, TEIL 1
DER HYPOCHONDER-SCHNELLTEST
Erkennst du eins der folgenden Zeichen an dir? Oder alle? Lies nicht weiter, du musst zum Arzt! Und zwar zum Facharzt für psychosomatische Medizin
KÖRPERTEMPERATUR: Ich messe mehrmals am Tag an jeder Körperöffnung. Erst im Mund. Abweichungen der Messergebnisse um 0,1 Grad sind höchst alarmierend. Ist die Temperatur nicht erhöht, trinke ich etwas Heißes und messe noch mal.
KÖRPERMASSE: Wenn ich morgens beim dritten Gewichtscheck 100 Gramm weniger wiege als bei den beiden zuvor, kann ein Tumor dahinter stecken. Könnte auch daran liegen, dass ich zwischendurch auf der Toilette war, scheint mir aber unplausibel.
SCHMERZEN: Jeder Schmerz ist ein Hilferuf meines Körpers. Hinter jedem Kopfschmerz kann sich eine neurologische Krankheit verbergen. Egal was das Computertomogramm letzte Woche ergeben hat.
KEINE SCHMERZEN: Ich spüre gerade nichts Alarmierendes - nichts wie zum Arzt! Gefühlslosigkeit ist oft Zeichen einer Depression, oder, wie ich aus dem Internetforum weiß, einer „Polyneuropathie“.
HUSTEN: Die Gefahr der Vogelgrippe ist vernachlässigt worden. Ich habe die Pflicht, meine typischen Symptome der Fachwelt zu präsentieren. Auch wenn die ersten drei Ärzte meine Diagnose nicht anerkennen, ich gebe nicht auf!
HERZ: Mein Puls wechselt mehrfach über den Tag die Geschwindigkeit. Schon fast eine Herzrhythmusstörung, ich gehe sofort in Behandlung, damit der plötzliche Herztod in einer Arztpraxis eintritt, wo fachgerecht reanimiert werden kann.
HIRN: Wie hieß der Typ, den ich vor einem halben Jahr mal auf einer Party flüchtig kennengelernt habe? So beginnt die Demenz. Ich rufe die Feuerwehr. Verdammt - wie war gleich die Nummer?
HIRSCHHAUSEN-CHECK, TEIL 2 DER ARZTVERWEIGERER-SCHNELLTEST
Kannst du eines der folgenden Zeichen oder Verhalten an dir feststellen? Dann musst du jetzt stark sein: Du musst zum Arzt! Noch in diesem Jahr!
KÖRPERTEMPERATUR: Die Skala deines Fieberthermometers reicht nicht aus, um die Temperatur anzuzeigen? Du spielst mit dem Gedanken, dich in den Kühlschrank zu setzen und nach zwei Stunden noch mal zu messen? Geh lieber zum Arzt.
KÖRPERMASSE: Dein Bauchumfang hat seit 9 Monaten zugenommen, außerdem sind deine Brüste größer geworden? Als Frau: Keine Panik, der Bauch geht wieder weg, im nächsten Monat bist du spontan um mehrere Kilo leichter. Tipp: Frauenarzt! Als Mann: Grund zur Panik - der Bauch bleibt, deine Frau ist bald weg. Tipp: Plastischer Chirurg.
SCHMERZEN: Du hast so starke Schmerzen, dass du nicht mal mehr fernsehen kannst? Sofortmaßnahme: zwei Aspirin und RTL 2 - das lenkt ab. Wenn nach einer halben Stunde das Programm nicht besser ist: zum Arzt.
KEINE SCHMERZEN: Du hast keine Schmerzen, bist aber über 50 Jahre alt? Diagnose: du bist bewusstlos oder tot. Abwarten. Zweite Meinung einholen.
HUSTEN: Nach einem Hustenanfall befindet sich mehr Lunge außerhalb als innerhalb des Körpers? Zum Lungenfacharzt, sprich Pneumologe/Pulmologe.
HAUT: Deine Haut ist so komisch? Veränderungen der Farbe sind nicht normal. Rot ist weniger schlimm als Blau oder Grün. Bei Schwarz musst du nicht zum Arzt, der Teil fällt von alleine ab.
HIRN: Du weißt nicht, woher du kommst und wer du bist? Grobe zeitliche und räumliche Orientierung sollte zwei Tage nach einer Party wiederhergestellt sein. Falls nicht: Besuche an der Vhs das Seminar Existenzialphilosophie. Wird dein Zustand nicht besser, besuche einen Neurologen oder Psychiater.
GEHÖR: Du hörst Stimmen, obwohl keiner sonst im Raum ist? Stell den Fernseher leiser.Verfolgen die Stimmen dich weiter, gehe zum Psychiater. Auch wenn die Stimmen dir abraten. Das gehört dazu.
ECKART VON HIRSCHHAUSEN ist Arzt, Kabartettist und Autor (‚Die Leber wächst mit ihren Aufgaben‘, ‚Glück kommt selten allein …‘). Er gründete außerdem die Stiftung „Humor hilft heilen“.