14

»Das nehme ich«, sagte Carl, der Lauren das Seil aus den Händen zog. »Ihr geht jetzt am besten. Meine Gruppe kommt gleich.«

Ungläubig sah Lauren zu, wie Dex und Addie Laptop und Aufzeichnungen nahmen und mit Dr. Brooks um die Ecke verschwanden. »Hey! Was ist nun mit meinen Extra-Punkten?«, rief sie.

Zu spät. Sie waren außer Hörweite. Oder sie ignorierten sie einfach. »Ist das zu glauben?«, kreischte sie. »Wir willigen ein, an ihrem bescheuerten Experiment teilzunehmen – und die hauen einfach ab und lassen uns stehen wie die Blöden. Totale Missachtung.«

Kris setzte sich auf den Boden und zog die Kletterschuhe aus, Laurens Gezicke hörte er nur mit halbem Ohr. Wow, ging die ab.

»Ich wäre die Wand hochgeklettert. Echt, hätte ich gemacht. Aber erst sollten die wissen, wie das ist. Oh, hi, Alex!«

Die Transformation der Lippen vom Schmollmodus zum strahlenden Lächeln vollzog sich blitzartig, als ein Typ Marke Sportskanone die Halle betrat. Alex war ungefähr so groß wie Lauren – und das war ziemlich groß –, hatte schwarze Haare und eine intensive Sonnenbräune. Sein großspurig wiegender Gang ließ darauf schließen, dass er entweder Fußball spielte oder Lacrosse. Er musste sein Pendant in Laurens anderem Experiment sein.

»Boah, hey!« Alex erwiderte Laurens strahlendes Lächeln. »Was machst du denn hier?«

»Ich lass mich gewaltig verarschen.« Daraufhin brach sie in eine Tirade über das bescheuerte Experiment, Dex und Addie aus, die ja »so was von gelogen« hätten, als sie behauptet hatten, es würde dabei um einen Vergleich männlicher und weiblicher Reaktionen auf bestimmte Situationen gehen, weil sie »Psychos« seien, die Leute Sachen machen ließen wie zum Beispiel gebratene mexikanische Würmer essen. Echt jetzt.

»Moment mal … wollten sie dich etwa zwingen, da hochzuklettern?« Alex’ Kinn ruckte Richtung Ungeheuer. »Geht ja gar nicht. Ohne Hilfe? Du hättest dich ernsthaft verletzen können.«

»Genau das hab ich ihnen auch gesagt, aber es war ihnen egal, sogar dann noch, als ich ihnen erklärt hab, dass ich darauf achten muss, mich nicht zu verletzen, bevor die Hockeysaison beginnt – wegen des Stipendiums und so.«

»Solche Sachen lassen sie uns bei den Versuchen mit uns beiden nie machen.« Alex streckte die Hand nach Lauren aus und nutzte das als Vorwand, sie zu berühren. »Also, was läuft da?«

»Komisch, nicht?« Lauren strich sich eine lose blonde Strähne hinters Ohr. »Wir gucken uns nur in die Augen und schreiben unsere Beobachtungen auf. Keine Ahnung, warum sie mich mit … oh, sorry Kris, hab ganz vergessen, dass du noch da bist.«

Kris hatte das auch vergessen. Er hatte einige Minuten zurückgespult und beobachtete Addie in seinem persönlichen Kopfkino, wie sie total konzentriert an ihrer Unterlippe nagte und sich tapfer dazu zwang, die Kletterpartie zu beenden. Er war mehr um sie als um sich selbst besorgt gewesen, obwohl er der Nichtangeseilte war.

Und dennoch war die Situation von heute nur eine in einer Serie von Krisen, die er und Addie in weniger als einer Woche überstanden hatten. Angefangen hatte alles mit den magenverdrehenden Turbulenzen, dann kam die Haiattacke – und jetzt das hier. Dabei war Addie immer guter Laune gewesen, zuversichtlich und nach dem Zwischenfall mit dem Hai sogar ausgelassen. Jetzt fragte er sich, ob es sie wohl enttäuschen würde, wenn sie erfuhr, dass sie den Nervenkitzel nur einer Theaterrequisite zu verdanken hatten.

»Kris?« Lauren schnippte mit ihren Fingern vor seinem Gesicht. »Komm zurück. Das ist Alex. Dein Gegenstück.«

Er stand auf und begrüßte Alex mit einem Nicken. »Hey.«

»Hey.« Alex nickte zurück. »Gehst du hier zur Schule?«

»Im Moment ist das eine Frage, die sich nicht ohne Weiteres beantworten lässt«, sagte Kris. »Das wird sich in ein paar Wochen zeigen.«

Lauren schnappte sich ihren Rucksack. »Muss los. Kursbeginn in zwanzig Minuten. Machst du dich auch auf die Socken, Al?«

Alex hatte eigentlich nichts dergleichen vor. Er war gerade erst mit seiner Sporttasche in die Halle gekommen. Aber er zögerte keine Sekunde.

»Ja. Klar. Hast du schon Mittag gegessen?« Alex stiefelte auf den Ausgang zu.

»Nein, und ich bin am Verhungern.« Lauren ließ ihn die Tür öffnen und trat hindurch. »Und du?«

»Nicht so richtig.«

Was in Jungssprache bedeutete, dass er selbstverständlich schon gegessen hatte. Na ja, gut für ihn. Und gut für sie, dachte Kris und warf seine Kletterschuhe in die Tonne. Schön, dass manche Leute glücklich waren.

Er holte sein Handy aus der Ecke, wo es unter seiner Gärtneruniform lag, und zuckte zusammen. Sieben Nachrichten von Kara. Er war gerade dabei, jede einzelne davon zu löschen, als die Gruppe angetrampelt kam, von der Carl gesprochen hatte. Sechs Sommerkursler, angeführt von Ed.

Genau der Mann, den er gesucht hatte.

Ed hörte Carl zu, der seiner Gruppe die Regeln erläuterte. Kris, mit der Uniform im Rucksack und baumelnden Arbeitsschuhen über der Schulter, schlenderte lässig zu ihm rüber und klopfte ihm auf die Schulter.

»Yo. Was läuft?«

Ed drehte sich um und nickte, sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Wachsam hätte Kris gesagt. »Alles klar, alles klar. Wie läuft’s bei dir, Mann?«

»Nicht schlecht.« Mit einer Kopfbewegung forderte Kris ihn auf, ein paar Schritte weiter wegzugehen, damit sie Carls Ausführungen nicht störten. »Hör mal, ich wollte mich nur bei dir bedanken für das, was du gestern getan hast, als du zu Addie und mir zurückgekommen bist. Das war echt stark von dir.«

»Kein Problem. Ein Glück, dass ich in der Nähe war. Wer hätte denn gedacht, dass ein Weißer Hai sich in die Bucht verirrt? Als ich Tess das erzählt hab, ist sie ausgeflippt.«

Kris bohrte den Fuß in den Rand einer Matte. »Ausgeflippt, was?«

»Ja, Mann. Sie hat ja solche Angst vor diesen Dingern. Beachgirl.« Ed verdrehte die Augen.

Er war ein bisschen kleiner und breiter als Kris, mit hellblonden, kurzen Haaren, während die von Kris lang und dunkel waren – und wahrscheinlich war er wesentlich muskelbepackter als er. Trotzdem glaubte Kris, es mit ihm aufnehmen zu können. Wenn es unbedingt nötig sein würde.

»Also, das ist erstaunlich«, sagte Kris und langte in seine Tasche.

»Ja? Warum?«

»Weil ich das hier in deinem Boot gefunden habe, als ich es gestern Abend ausgeräumt habe.« Er legte Ed die schwarze Fernbedienung in die Hand und trat einen Schritt zurück, um seine Reaktion voll im Blick zu haben.

Ed drehte das Ding stirnrunzelnd hin und her. »Was ist das?«

»Eine Fernbedienung. Aber das weißt du ja.«

»Tu ich das?« Er spielte seine Rolle als Verwirrter ganz ausgezeichnet. Tess, die Schauspielerin, hatte ihn anscheinend gut geschult.

»Spiel nicht den Doofen. Ich hab den Hai gefunden.«

Ed blinzelte Kris an, als hätte der den Verstand verloren. »Was redest du da?«

»Der mechanische Hai? Der, den Tess’ Eltern für sie bei Spielberg besorgt haben, als sie letzten Sommer Der weiße Hai inszeniert hat? Nun aber echt, verarsch mich nicht.«

»Letzten Sommer war ich nicht hier. Tess und ich sind erst seit Oktober zusammen.«

Der Schatten eines Zweifels streifte Kris. Aber er ließ sich davon nicht beirren und blieb am Ball. »Der war noch nass, Mann. Der war gestern im Wasser und du hast ihn damit gesteuert. Deshalb warst du zufällig genau da, wo der Hai aufgetaucht ist. Mit Glück hatte das nichts zu tun. Das war die reine Verarsche.«

Die Ränder von Eds Ohren wurden rot, Kris rechnete damit, dass jetzt gleich eine Dampfwolke aus ihnen hervortreten würde. »Guck mal.« Ed sprach leise, sodass Lauschen unmöglich war. »Ich weiß ja nicht, was zum Teufel mit dir nicht stimmt, aber du hast eindeutig Probleme.«

Kris ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe keine …«

Ed hob beide Hände, damit er Abstand hielt. »Tess hat gesagt, ich soll dir eine zweite Chance geben – wegen Addie. Aber eigentlich weiß ich nicht, warum ich das machen sollte, weil du schließlich derjenige warst, der geschrieben hat …«

»Hab ich nicht …«

»Halt die Klappe.« Eds Fass war eindeutig am Überlaufen und er war nun nicht mehr zu bremsen. »Lass mich ausreden. Ich mache dich nur aus einem einzigen Grund nicht platt. Und der ist, dass Tess mich umbringen würde, wenn ich es täte. Aber ich sag dir eines: Ich habe keinen Hai ins Wasser gesetzt, das hätte ich Addie nie angetan. Und Tess würde mich dafür umbringen.«

So wie Ed es formulierte, wirkte das durchaus einleuchtend. Selbstverständlich hätte er Addie nicht mit dem Hai veralbert. Er und Tess behandelten sie wie eine kleine Schwester, als seien sie ihre selbst ernannten Bodyguards. Kris kapierte nun, dass er einen schrecklichen Fehler begangen hatte – einen, den man ihm wahrscheinlich nie verzeihen würde.

Einen, durch den er Addie womöglich für immer gegen sich aufbringen würde. Er musste die Dinge geraderücken – und zwar schnell, ehe es zu spät war.

»Warte«, sagte Kris, als Ed ihn stehen lassen wollte.

Der wirbelte herum, immer noch mit geballten Fäusten.

»Du sollst nur wissen, dass ich mir um Addie Sorgen gemacht hatte. Mir ist es egal, ob sich einer mit mir einen Scherz erlaubt. Was soll’s, nach dem, was ich getan hab, verdiene ich nichts anderes.«

»Du hast es endlich kapiert.« Ed streckte die Finger.

»Es ist nur so, dass … ich Addie mag. Ziemlich gern. Und … wenn du mir eins auswischen wolltest – egal. Aber sie …« Gott, was rede ich da?

Ed stand einfach nur da und musterte ihn. Kris machte sich auf den unvermeidlichen Schlag in die Magengrube gefasst, auf den folgend Carl sie trennen und ihnen eine strenge Predigt halten würde, und als Finale dann die Zusammenkunft mit Rektor Foy, der ihm einen Busfahrschein nach Boston und die Warnung, sich nie wieder an der Schule blicken zu lassen, verpassen würde.

Und alles, weil er sich Sorgen um Addie gemacht hatte.

»Hör mal, Mann, es tut mir leid.« Ed entspannte seine Fäuste.

Kris schüttelte den Kopf. »Hä?«

»Ich kann verstehen, dass du gedacht hast, ich hätte das Ding mit dem Hai getürkt, hab ich aber nicht. Ich schwöre, dass ich es nicht war.«

»Okay. Gut zu wissen.«

»Die Sache ist die, wenn es um Addie geht, wird bei mir irgendwie so eine Art Beschützerinstinkt wach – wegen Tess. Das ist wie …« Er kratzte sich am militärisch kurz geschorenen Kopf und sagte gequält: »Keine Ahnung. Ich kann’s nicht erklären. Ist kompliziert.«

Ooookay, dachte Kris. »Nicht so schlimm. Mit uns ist alles klar.«

»Hör mal, ich frage Tess, ob es eine Ausleihliste für Requisiten gibt, in die man sich eintragen muss. Dann kann sie rauskriegen, wer sich den Hai geholt hat. Aber diese Fernbedienung hab ich noch nie im Leben gesehen, ich weiß also überhaupt nicht, wo die hergekommen ist.«

Aus dem Requisitenraum, dachte Kris. Liegt doch auf der Hand.

»Aber du solltest Addie vielleicht warnen. Ich glaube, meine Jungs wollen sich rächen für den Schmetterball, der dich umgehauen hat. Sie behaupten immer noch, sie hätten gewinnen müssen – als Wiedergutmachung sozusagen.« Ed nickte seiner Gruppe zu, die sich gerade zum Klettern umzog. »Wäre vielleicht nicht unklug, wenn sie die nächsten paar Nächte mit einem offenen Auge schlafen würde. Ich mein ja nur …«

Kris fühlte sich mies. Er wollte nicht, dass Addie für seine erbärmlichen Reflexe bezahlen musste. »Sie sollten es nicht an ihr auslassen. Sie hatte keine Schuld, ich war nicht schnell genug aus dem Weg.«

»Was auch immer.« Ed zuckte mit den Schultern. »Für einen guten Streich hat doch jeder was übrig. Bis dann.«

Kris warf einen Blick auf sein Handy. Er hatte zehn Minuten Zeit, um die Fernbedienung wieder in die Requisite zu schmuggeln, dann musste er sich zur Arbeit im Labor melden, wo er einen lustigen Nachmittag mit dem Säubern von Springmauskäfigen, Aquarien und Toiletten verbringen durfte – und natürlich sämtlichen Fußböden.

Die reine Hölle … hätte nicht die Aussicht bestanden, Addie über den Weg zu laufen.