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In erster Linie ist es die Absicht des Disziplinarsystems der Academy, die Schüler zu erziehen und gerecht zu behandeln, wenn gegen Regeln verstoßen wird. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Academy als Privatschule nicht verpflichtet ist, sich an dieselben Regeln zu halten wie öffentliche Schulen, unser Disziplinarsystem ist weder ein »Prozess« im juristischen Sinne, noch werden Regeln der Beweisführung angewendet …

Schwere Verstöße:

Ein Schüler/eine Schülerin kann jederzeit von der Academy verwiesen werden, wenn er/sie einen der folgenden Regelverstöße begeht oder sich anschickt, einen solchen zu begehen:

  1. Schikanieren von Mitschülern. Unter Schikanieren ist zu verstehen das Bedrängen, Einschüchtern, Mobben oder die Ausübung von Zwang auf einen anderen Schüler mit dem Ziel oder dem Ergebnis, diesen zu beschämen, zu verstören oder zu erniedrigen.
  2. Unehrliche Handlungen – ganz gleich welcher Art, akademische Unehrlichkeit inbegriffen. Unter akademischer Unehrlichkeit ist zu verstehen Plagiat, Betrug, Diebstahl und/oder Sabotage der Arbeitsergebnisse eines anderen Schülers mit der Absicht, besagtem Schüler zu schaden und/oder das eigene akademische Ansehen zu verbessern. Derartige Handlungen führen zum umgehenden, unverzüglichen Verweis von der Academy.

Aus dem Handbuch für Schülerrichtlinien
der Academy 355

Kris klappte das Schülerhandbuch zu und seufzte tief. Das waren also zwei Vergehen, ironischerweise war das eine gegen und das andere für dasselbe Mädchen begangen worden.

»Du bist ein blöder Idiot, Condos!« Er schlug ein Mal heftig auf den Schreibtisch. Blöde, blöde, blöde.

Irgendwie schien er auf Selbstzerstörung programmiert zu sein. Das Paradebeispiel dafür war der letzte Sommer in Nepal und China. Sechs Wochen freiwillige Knochenarbeit, Trümmer wegschaufeln, Wiederaufbau einer Schule und Brunnen graben in einem Land, in dem er keinen kannte, krank wurde, auf der Matratze eines Fremden geschlafen und insgesamt zwei Mal geduscht hatte, nur um wieder nach Hause zu kommen, Spenden für die Organisation zu sammeln und die Andover zu verlassen, weil er mit den Heuchlern da nicht klarkam.

Du hättest dich doch einfach bei denen einschleimen können.

Wenn er das getan hätte, würde jetzt sein Abschlussjahr beginnen, nicht das zweite Halbjahr der Vorbereitungsstufe. Und warum hinkte er hinterher? Weil, als er nach Betteln und Flehen schließlich in die Academy aufgenommen worden war, wieder jemand diesen Knopf bei ihm gedrückt hatte, sodass er an der Laboraktion teilnahm – mit dem Ergebnis, dass ihm in der Woche vor den Prüfungen alles um die Ohren geflogen war.

Und jetzt, an genau dem Tag, an dem Foy ihn für seine harte Arbeit und die Wiedergutmachung der Vergehen vergangener Tag gelobt hatte, beschloss er, einen weiteren »schweren Verstoß« zu begehen.

Selbstzerstörerisch. Absolut. Vielleicht sollte er sich Hilfe holen.

Kris stand auf und schaltete das Licht aus, vielleicht würde dieser Wandschrank von einem Zimmer dadurch irgendwie kühler. Als Kris an die Academy zurückgekommen war, hatte er feststellen müssen, dass zwei Sommerschüler sein eigentliches Zimmer in Jay Hall belegt hatten. Er hatte also die Wahl gehabt zwischen einem Hausmeisterzimmer neben dem Heizungsraum oder einem ehemaligen Dienstmädchenzimmer unter dem Dach. Er hatte sich für das Dachzimmer entschieden, weil es da weniger Spinnen gab. Großer Fehler. Er hätte wissen sollen, dass ein Raum von 3 x 3 Metern unter dem Dach eines fünfzig Jahre alten Holzhauses praktisch eine Sauna war. Nur schliefen die meisten Leute nicht in der Sauna, es sei denn, sie hatten Todessehnsucht.

Der Gärtnertrupp hatte Mitleid gezeigt und ihm einen Plastikventilator besorgt, der in das kleine Fenster passte. Das war eindeutig ein Fortschritt, in den ersten Tagen bei der Arbeit waren seine Kollegen ihm nämlich aus dem Weg gegangen, weil er ein Schüler war. Oder – Gerüchten zufolge – ein total verwöhnter, reicher Schüler, der die Wände vom Labor beschmiert hatte, um es irgendeinem Mädchen heimzuzahlen.

Zum Glück hatte Don, der Wachmann, der immer mit Buster rauchen ging, das eines Tages während der Mittagspause richtiggestellt.

»Nee, nee, er war das nicht, der die Wand angesprayt hat, er war der, der versucht hat, die Graffitis zu übermalen«, hatte Don gesagt und mit seinem Feuerzeug auf Kris gezeigt. »Ich hab ihn dabei erwischt, mit der schwarzen Farbe in der Hand, als er die Wörter übersprüht hat. Ich wollte ihn davon abhalten, aber er hat darauf bestanden, die Sache zu Ende zu bringen. Keiner soll sehen, was die geschrieben haben, hat er gesagt. Trotzdem musste ich ja meine Arbeit machen, also …«

Nachdem die Männer zu dem Schluss gekommen waren, dass Kris von einem Mädchen manipuliert worden war (nicht ganz unwahr), weichte der harte Kurs des Trupps langsam auf, sie boten ihm sogar was zu rauchen an – was er dankend ablehnte. Und dann hatten sie ihn mit dem Ventilator überrascht. Das war echt süß gewesen.

Vielleicht wäre es noch süßer gewesen, wenn der Ventilator die Luft tatsächlich gekühlt hätte, statt nur noch mehr Heißluft in den Raum zu pusten, aber einem geschenkten Gaul …

»Ich sag dir was, Condos«, hatte sein Aufseher Robert (nicht Bob – niemals!) erst heute Nachmittag bei Arbeitsschluss gesagt, »wenn du so gut weiterarbeitest, dann schreib ich dir persönlich eine Empfehlung für den Verwaltungsrat. Allein für diese Sache mit den Hornissen hast du einen Orden verdient.«

Eine Empfehlung, die wertlos werden würde, sobald sein jüngstes Verbrechen entdeckt wurde, was bei Dexters erhöhtem IQ und seiner Rachsucht innerhalb der nächsten Stunden der Fall wäre. Daraufhin würde Kris aller Voraussicht nach von der Schule fliegen und umgehend auf die Militärakademie in Colorado geschickt werden, ganz ohne über Los zu gehen und 200 Dollar zu kassieren.

Zögernd öffnete er die E-Mail, die seine Mutter an ihn weitergeleitet hatte – mit der Betreffzeile: Bitte lesen. Wichtig!

Dann folgten einige Fotos von seinen Schwestern, die am Strand lagen, auf den Wellen surften und Hummer aßen, braun gebrannt und lächelnd an einem Picknicktisch mit Blick aufs Meer.

Danke für die moralische Unterstützung, Mom.

Kris wischte sich den Schweiß von der Stirn und klickte auf den Anhang, den sie an ihn weitergeleitet hatte. Sie war eine Erinnerung der Militärschule, die darüber informierte, dass die Einschreibung für die Kurse in zwei Wochen beginnen würde. Als Vorbereitung auf den potenziell anstehenden Schuleintritt wurde ihm empfohlen, sich schon mal mit den Schulregeln vertraut zu machen. Handbuch im Anhang.

Weil er nicht schlafen konnte, ging er ins Bad eine Etage tiefer und duschte so kalt, wie es ohne Muskelkrämpfe zu ertragen war. Auf dem Rückweg in sein Dachgefängnis begegnete ihm Ed, der in Unterhosen die Treppe runterkam.

»Tess muss mit dir reden.« Ed reichte ihm sein Handy. »Es ist ein Notfall.«

Addie, dachte er sofort.

»Entschuldige, dass ich dich wecke, Kris, aber kannst du rüberkommen?« Tess klang panisch. »Ich brauche deine Hilfe, ganz dringend

Kris nahm zwei Treppenstufen auf einmal. »Ich muss mich nur anziehen, dann komm ich. Was ist denn los?«

»Sag ich dir, wenn du da bist. Komm an die Eingangstür vom Wohnheim. Die ist gleich neben meinem Zimmer. Beeil dich!«

Er schaltete das Handy aus und warf es Ed zu, dann steckte er seine Schlüsselkarte in die Tür. »Hast du irgendeine Ahnung, was das Problem ist?« Er zog sich Shorts über und schnappte sich ein T-Shirt von dem Klamottenhaufen auf dem Fußboden.

Ed stand in der Tür, nicht so ganz wach. »Weiß nicht. Aber sie hätte sich bei mir entschuldigen müssen. Ich war derjenige, den sie geweckt hat.«

Abgesehen von den Lampen am Rand der Fußwege, lag der Campus pechschwarz und leer da. Das Meer röhrte, die Brecher schlugen in gleichmäßigem Rhythmus an die Felsen, ein Krachen und Seufzen, unheimlich und immerwährend. Vielleicht wirkte der Geruch der salzigen Seeluft besonders stark, weil es keine anderen Sinnesreize gab. Als Kris das Wohnheim erreichte, war sein Gesicht nass vom Nebel.

Er drückte auf den Summer an der Tür und wurde sofort von einem kleinen, dunklen Mädchen in einem rosafarbenen Pyjama in Empfang genommen, die aussah wie ein Kind. »Da rein.« Sie zeigte auf eine Tür links, die halb geöffnet war.

Das Zimmer war doppelt so groß wie seines und total durchgestylt mit Wandbehängen, einer abgefahrenen bunten Stehlampe, einem pinken Flokati und Kissen, die für den Harem eines Scheichs ausgereicht hätten. Dazu schleierartige Gardinen, die zu dem schleierartigen Bettüberwurf passten, auf dem im Schneidersitz Tess, Mindy und Fiona saßen – und Addie.

Addie lächelte ihm kurz zu, dann versenkte sie den Blick in der Teetasse, die sie in den Händen hielt.

»Danke, Shreya«, sagte Tess und bedeutete dem Mädchen, die Tür zu schließen, nachdem sie alles neugierig in Augenschein genommen hatte. »Kris, schnapp dir lieber einen Stuhl. Das hier könnte länger dauern.«

Kris setzte sich vor den Mädchen rittlings auf einen Stuhl.

Tess sagte: »Tut mir wirklich leid, dass ich dich aus dem Bett geholt habe …«

»Schon okay. Ich hab nicht geschlafen.« Er riskierte einen Blick auf Addie, die auf die Teetasse fixiert zu sein schien. »Ist irre heiß in meinem Zimmer.«

»Oh, das ist gut. Nun ja, wir haben hier eine Art Krise und brauchen deine Fähigkeiten als Übersetzer.« Tess nahm Mindys Hand. »Heute haben wir einen Ausflug nach Harvard gemacht und Mindy hat ihren Freund von zu Hause gesehen …«

Eine große Träne rollte Mindy die Wange runter.

»Und, na ja, es lief nicht gut. Sie ist am Boden zerstört.«

»Nach allem, was sie für ihn getan hat!«, platzte es aus Fiona heraus.

Kris fragte Mindy auf Mandarin, was passiert sei. Sie antwortete zu schnell, und er musste ihre Hand nehmen und sanft um eine langsamere Wiederholung ihrer Worte bitten, um mitzubekommen, worum es überhaupt ging.

Mindy strich sich die Haare aus dem Gesicht und zum Vorschein kamen vom Weinen geschwollene Augen. »Er hat mir gesagt, er wünschte, ich wäre ihm nicht aus China gefolgt. Und wenn wir nach Hause kommen, will er mich nie wiedersehen.« Immer wieder schluchzte sie dabei fast tonlos. »Er sagte, ich sei peinlich.«

Kris übersetzte das für die Gruppe.

Tess ließ sich auf ein Kissen fallen. »Das ist widerlich. Es war sein Plan hierherzukommen, damit sie sich treffen können, weißt du«, sagte sie, als ob Kris das aus wundersamen Gründen wissen müsste.

»Die Eltern von Mindy und David haben den beiden zu Hause verboten, sich zu treffen«, sagte Addie, die schließlich doch Blickkontakt aufnahm.

Kris mochte sich irren, aber Mindy schien nicht die Einzige gewesen zu sein, die geweint hatte. Addie ebenfalls. Jedenfalls deuteten die roten Ränder unter ihren verschwollenen Augen darauf hin. Dexter, dieser Arsch. Er hatte sie unglücklich gemacht, indem er ihren Athenian-Award versenkt hatte. Mann, was würde er für zehn Minuten allein mit dem geben.

»Die beiden haben sich für verschiedene Schüleraustauschprogramme in Amerika beworben, nur um irgendwie zusammen sein zu können«, sagte Tess. »Die Programme der beiden überschnitten sich nur ein Mal – diese Woche, als Mindy nach Boston gekommen ist –, und sie hatten geplant, sich zu treffen. Selbst wenn das ein Verstoß gegen alle Regeln der Sommerkurse ist. Mindy hat sogar riskiert, direkt zurück nach China geschickt zu werden, nur um ihn zu sehen.«

Kris sagte: »Das ist verdammt romantisch.«

»So verdammt romantisch nun auch wieder nicht«, sagte Addie, »da er sie peinlich genannt hat.«

Kris biss sich auf die Wange, damit er nicht lächelte. »Ihr scheint doch alles im Griff zu haben, also was mach ich hier?«

»Ich hab dich angerufen, weil Addie versucht hat, Mindy was über das Gehirn zu erklären, wie das so läuft beim Schlussmachen und wie Neurohormone funktionieren und blablabla. Das kam nicht an, also dachten wir, du könntest es für sie übersetzen, aber jetzt langweilst du dich und willst gehen«, sagte Tess und unterstrich dies mit einem Schmollen.

»Ich bin nicht gelangweilt. Aber nicht mal auf Englisch bin ich in der Lage, irgendjemandem Neurohormone zu erklären«, sagte Kris belustigt. »Und auf Mandarin? Vergiss es.«

»Spaß beiseite, ich weiß wirklich nicht, was leichter zu entschlüsseln ist. Mandarin oder Addie-Sprech? Ich glaube, ich würde mich für Mandarin entscheiden.«

Addie runzelte die Stirn. »Meine Ausdrucksweise ist völlig normal. Ist schließlich nicht meine Schuld, dass dir grundlegende neurologische Begriffe nicht geläufig sind.«

»Wir machen dir Komplimente, Addie«, sagte Kris, »auf scherzhafte Art. Wenn man geneckt wird, ist das nicht immer böse gemeint.«

Addie zog eine Augenbraue hoch. So sicher war sie sich da nicht.

»Mindy braucht Hilfe«, sagte Fiona, die sie zu Recht wieder an den Grund ihres Zusammentreffens erinnerte. »Sie braucht …«

»Bestätigung«, schlug Tess vor.

Addie sagte: »Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass Liebe im Hirn eine plötzliche Flutung mit angenehmen Chemikalien bewirkt – und beim Schlussmachen fließen diese genauso plötzlich ab – das ist wie bei Ebbe und Flut. Einfacher kann ich das nicht erklären.«

Kris googelte auf seinem Handy die Wörter, die er auf Mandarin nicht kannte. Dànao hieß Gehirn. Huàxué zhípin waren Chemikalien. Natürlich gab es Trillionen verschiedene Arten von Chemikalien – und was wusste er denn, vielleicht erzählte er diesem armen Mädchen, dass sich ihr Gehirn gerade von unterdosiertem Nagellackentferner erholte.

Als er fertig war, drehte Mindy sich zu Fiona um und rasselte in rasender Geschwindigkeit eine Folge von Sätzen herunter. Kris konnte nicht mal das Wesentliche verstehen. Er hörte heraus: sinnlos, wovon redet sie? und hilft nicht.

»Mindy braucht mehr Erklärungen«, sagte Fiona. »Sie ist zu niedergeschlagen, um zu verstehen.«

Tess stand auf und schenkte allen Tee nach aus der elektrischen – und nicht zulässigen – Kanne auf ihrem Schreibtisch. »Vielleicht würde es helfen, wenn du ihr von deinen Datingkatastrophen erzählen würdest, Addie. Du weißt schon, um eine Verbindung herzustellen.«

Kris sagte: »Ja, die Geschichten würde ich auch gern hören.« Er grinste, Addie wurde rot.

»Ich glaub nicht, dass das hilft. Mit so vielen Jungs war ich ja noch nicht verabredet.«

Sein Herz wurde ein bisschen weich, und er begriff, was Ed vorhin vermutlich sagen wollte, als er von dem Bedürfnis gesprochen hatte, Addie und ihre Unschuld zu beschützen.

Addie meldete sich zu Wort: »Was ist mit dir, Tess? Du bist doch in einer wackligen Beziehung.«

Jetzt war Tess an der Reihe, schamrot zu werden. »Ahem, Diskretion?«

»Du bist es, die immer so versessen auf menschliche Kommunikation ist«, erwiderte Addie. »Über meine Datingkatastrophen zu reden, ist total in Ordnung, aber wenn du dir Sorgen machst, Ed könnte das Interesse verlieren, weil er nächsten Monat an die Uni geht, ist reden nicht in Ordnung?«

Tess schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Können wir das bitte lassen?«

»Also, Mindy, ich denke, du und Tess habt viel gemeinsam. Ihr habt beide das Gefühl, von euren Freunden weggestoßen zu werden, und Tess’ Mütter würden sterben, wenn sie mitkriegten, dass ihre Tochter bis über beide Ohren in einen konservativen Typen verliebt ist, der aufs Militär steht und …«

»Das reicht!«, verkündete Tess und sprang vom Bett.

»Wen kratzt denn, was meine Mütter oder Eds superstrenge Eltern denken? Für Mindy und mich zählt doch nur, dass wir einfach nicht anders können. Wir sind verliebt.«

Addie stöhnte. »Oh, bitte. Zum hunderttausendsten Mal, so was wie Liebe gibt es nicht!«

Kris sah sie fragend an. »Das glaubst du wirklich, oder?«

»Ich glaube gar nichts. Ich weiß. Liebe existiert nicht. Nur Chemie.« Sie erwiderte seinen Blick unbeirrt, ihre hellgrauen Augen wirkten so intelligent – und hoffnungsvoll. »Die Gesellschaft wäre besser dran, wenn sie ihre romantischen Vorstellungen von Liebe aufgeben und stattdessen die Wissenschaft anerkennen würde: Das Überleben der Spezies ist abhängig von Reproduktion, und um dahin gehende Bemühungen voranzutreiben, machen unsere Gehirne beim Eintritt in die Geschlechtsreife eine Phase gesteigerter neurohormoneller Produktion durch, die man auch als Adoleszenz oder Pubertät bezeichnet. Wenn wir noch im Dschungel wären, würden wir uns jetzt schon fortpflanzen. Da wir nicht mehr dort sind, sitzen wir auf Tess’ Bett und versuchen einem Mädchen mit schlimmstem Dopaminentzug zu erklären, warum sie nicht mehr von dieser Droge haben kann, nach der ihr Gehirn süchtig geworden ist.«

Addie weiß es vielleicht nicht, dachte er, aber sie will das Gleiche.

»Leute«, sagte Tess leise, »ihr glaubt doch nicht wirklich, dass Ed mit mir Schluss macht, wenn er zur Uni geht, oder?«

Und Tess will die Antwort darauf gar nicht wissen, dachte Kris, der den Verdacht hatte, dass Fiona und Mindy zu demselben Schluss gekommen waren, denn die beiden blieben auch stumm.

Schließlich sagte Addie voller Zuversicht: »Machst du Witze? Du und Ed, ihr seid doch so!«, und sie schlang Zeige- und Mittelfinger umeinander.

»Echt?«, fragte Tess. »Wie kommt es dann, dass er in letzter Zeit immer wieder verschwindet und total vage Antworten gibt, wenn ich ihn frage, was er gemacht hat?«

Jungs sind eben Abschaum, wollte Kris sagen. Die Hälfte von ihnen ist ständig auf der Suche nach dem nächstbesten Ding.

»Du machst aus kleinsten Kleinigkeiten eine große Sache«, sagte Addie. »Gib ihm den Raum, den er braucht. Und wenn er mit dir Schluss macht …« – sie zuckte mit den Schultern – »… na und? In elf Wochen, zwei Tagen und drei Stunden bist du drüber weg. Studien haben gezeigt, dass es genau so lange dauert, bis dein Neurohormonspiegel sich wieder normalisiert hat.«

»Vorausgesetzt«, fügte Tess hinzu, »dass man nicht wieder zurück zu seinem Ex geht. Denn was passiert, wenn man das macht, Addie?«

Sie seufzte. »Dann fängt alles noch mal von vorn an und es dauert wieder elf Wochen, zwei Tage und drei Stunden.«

Mindy schnappte nach Luft. »Aber elf Wochen sind fast drei ganze Monate!«

»Nein, drei ganze Monate sind zwölf Wochen«, berichtigte Addie sie.

»Ich glaube, Mindy will damit sagen«, warf Kris ein, »in ihrem Fall wird es lange dauern, bis sie wieder ganz sie selbst ist.«

»Ehrlich gesagt, wird sie nie wieder sie selbst sein«, sagte Addie. »Es ist kernspintomografisch nachgewiesen, dass dieser Prozess namens Liebe permanent Nervenbahnen im Gehirn verändert, sodass nach Ablauf der elf Wochen gedankliche Prozesse völlig und unwiederbringlich verändert sind.«

»In der Therapie sprechen wir da von persönlichem Ballast«, ergänzte Tess.

Kris fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, er erinnerte sich an die Freundinnen seiner Vergangenheit. Da war Lisa, die Erste, die er geküsst hatte, in der achten Klasse. Von ihr hatte er gelernt, Brote mit Erdnussbutter und Pickles zu lieben. Er konnte kein Glas Erdnussbutter aufmachen, ohne an sie zu denken. Sophie, mit der mehr gewesen war als ein Kuss und der er ewig dankbar sein würde – und Kara.

Was hatte Tess von Ballast gesagt? Tja. Das war dann wohl Kara.

Fiona warf einen Blick auf ihr Handy. »Es ist spät. Halb zwei. Wir reisen morgen ab.«

»Ich dachte, Sonntag«, sagte Tess.

»Heute ist Samstag.« Fiona zeigte auf das Display. »Mindy sieht David nicht mehr, bis im September die Schule wieder anfängt.«

»Ab da noch fünf Wochen. Und danach ist wieder alles okay mit mir, oder?« Mindy sah schrecklich traurig aus, aber doch um einiges besser, fand Kris. Beherrschter und nicht mehr so weinerlich. Eher schicksalsergeben.

»Nun, die Reise war nicht total überflüssig«, sagte Fiona hoffnungsvoll. »Wir hatten eine Führung durch Harvard.«

»Und alles, was wir gekriegt haben, war ein lausiges T-Shirt.« Mindy lächelte.

»Das ist es!«, sagte Tess. »Es geht dir schon besser. Nur noch elf Wochen, zwei Tage und zweieinhalb Stunden!«

»Hast du eine Freundin?«, fragte Fiona flirtend, als Kris die beiden chinesischen Mädchen zur Tür begleitete.

Kris grinste. »Wo xiwàng«, sagte er und winkte den Mädchen einen Gutenachtgruß zu. Er schloss die Tür und sagte: »Glaubst du, dass sie es packt? Sie schien ziemlich durch den Wind zu sein.«

»Die wird schon wieder«, sagte Addie. »Aber ich werde ein Wrack sein. Mit fünf Stunden Schlaf komme ich einfach nicht aus.«

Tess gähnte. »Doch, das schaffst du. Ich mach das immerzu. Sei dankbar, dass du dich nicht hin und her wälzen musst vor Sorge, weil die Liebe deines Lebens dich vielleicht abserviert.«

»Man soll sich nicht die Sorgen anderer aufladen, Tess«, sagte Addie. »Nimm den Rat an, den du mir immer gibst. Entspann dich und lass es laufen.«

»Pah. Als ob ich das könnte.« Sie drückten sich kurz, dann schloss Tess die Tür, und Addie und Kris standen plötzlich allein auf dem Flur.

Da fiel ihm erst auf, dass Addie ihr Hello-Kitty-Nachthemd trug und frisch geschrubbt und rosa aussah. Er konnte kaum an sich halten, am liebsten hätte er ihr den Pferdeschwanz aufgemacht.

»Am besten verschwindest du, ehe ein Mädchen aus dem Sommerkurs hier so spät noch einen Jungen zu sehen kriegt«, sagte sie und schob die Eingangstür auf.

»Kannst du nicht mitkommen?«, fragte Kris und folgte ihr nach draußen.

Geschockt riss sie die Augen auf. »Mitkommen? Mit dir? Wohin?«

»In mein Zimmer. Keiner sieht uns. Keinen kratzt es. Das ist ein Jungswohnheim. Wir können … reden.« Schwacher Versuch. »Sorry. Ich meine, ich würde gern reden. Ehrlich. Aber auch …« Halt bloß die Klappe, sonst verlierst du noch den letzten Fetzen Würde.

Sie nahm seine Hand und führte ihn hinter einen Baum. Dort war es so dunkel, dass er ihren Gesichtsausdruck kaum erkennen konnte, abgesehen vom Anflug eines Lächelns und einem erwartungsvollen Blick.

»Was ist denn?«, flüsterte er. »Warum stehen wir hier?«

Stille. Dann sagte Addie: »Kris, ich bedauere, dir mitteilen zu müssen, dass wir jeden weiteren Kontakt abbrechen müssen.«

Zuerst hielt er das für einen Witz, aber dann, als er die Falten auf ihrer Stirn sah, begriff er, dass es vielleicht doch keiner gewesen war.

»Meinst du das ernst?«

»Ja.«

Das traf ihn. Er hatte noch gar nichts gemacht – und schon wurde er zurückgewiesen. »Sag jetzt nicht, dass du noch immer sauer bist wegen der Sache vom Frühling.«

»Nein. Na gut, ja, aber das ist es nicht. Das hier hat eigentlich nichts mit dir zu tun. Eher mit mir.«

Er kicherte zynisch. »Bitte, sei einfach ehrlich. Was ist die Wahrheit? Solltest du dir Sorgen machen wegen mir und Kara – kannst du vergessen. Wir sind fertig miteinander. Eigentlich sind wir das schon lange.«

Sie sagte nichts, es war, als würde sie diese Meldung verarbeiten. Wenn er doch ihr Gesicht sehen könnte. Es machte ihn fertig, nicht zu wissen, was sie tatsächlich fühlte.

»Das Diktat der wissenschaftlichen Methode, fürchte ich«, sagte sie schließlich. »Nicht meine Schuld. Bedank dich bei Roger Bacon.«

»Roger Bacon? Wer zum Geier ist das denn?«

»Der Vater der wissenschaftlichen Vorgehensweise. Einer seiner wichtigsten Glaubenssätze war, dass ich als Forschende keinerlei Beziehung zu meinem Forschungsobjekt haben darf, wenn ich das mal so ausdrücken darf.«

Eine Welle der Erleichterung spülte über Kris hinweg. Sie hatte wirklich nicht gelogen, als sie gesagt hatte, es habe mit ihr zu tun. »Wissenschaftliche Vorgehensweise. Aha

»Ja. Es ist äußerst wichtig für das Ergebnis eines Experiments. Wenn man es nicht wie vorgeschrieben durchführt, hält das Projekt keiner Untersuchung stand.«

»Oh, okay.« Er war froh, dass sie nicht sehen konnte, wie breit sein Grinsen war, denn wie er Addie kannte, würde sie wahrscheinlich daran Anstoß nehmen. »Puh. Und ich hatte mir eben schon Sorgen gemacht, ob ich vielleicht vergessen hatte Deo zu benutzen oder so.«

»Nein. Du riechst eigentlich ziemlich gut. So als ob du gerade geduscht hättest.«

»Hab ich auch.«

Sie schlug nach einer Mücke. »Na, egal, ich hab schon gegen Bacons Regeln verstoßen, als ich mit dir paddeln war, und dann an diesem Abend in meinem Zimmer – und nun das hier mit Mindy. Wenn das Athenian-Komitee das herauskriegt …«

»Werden sie nicht. Ich könnte das Experiment verlassen.«

»Oh, bitte tu das nicht.« Sie griff nach seinem Arm. »Das wird alles kaputtmachen. Wenn mein Experiment fehlschlägt, reicht Dr. Brooks Dexters Projekt ein, und meine Chancen, ein Stipendium zu bekommen, verringern sich um zweiundzwanzig Komma sechs Prozent.«

»Zweiundzwanzig Komma sechs Prozent, aha

»Nur nicht so gönnerhaft. Ich habe die Statistik analysiert und alles berechnet.«

»Okay. Sorry. Ja, ich sehe ein, dass das blöd wäre.«

»Es wäre mehr als blöd. Es wäre mein Ruin. Im Gegensatz zu Dexter habe ich keinen Unifonds mit Tausenden von Dollar. Mein Vater hat alles für die Schuhe seiner neuen Frau ausgegeben.«

»Schuhe?«

»Das waren sehr teure Schuhe. Aus Paris und Mailand. Und dann besteht sie auch darauf, Land Rover zu fahren, ganz schreckliche Benzinfresser. Mit dem Ergebnis, dass ich es mir nicht leisten kann, irgendein Risiko einzugehen und den Wettbewerb zu verlieren.«

»Aber du hast was riskiert. Und das ist gut«, sagte er. Wenn sie sich doch ein Mal entspannen würde! Einfach lockerlassen und ihren Leidenschaften nachgeben, statt sich ständig auf Auszeichnungen und Zensuren zu fixieren. »Das Leben ist zu kurz, um immer auf Nummer sicher zu gehen.«

»Es ist sogar noch kürzer, wenn man das nicht macht.«

Er zog sie an sich. »Tja, aber langweiliger ist es dann auch.« Er widerstand dem Drang, es einfach hinter sich zu bringen und sie zu küssen, damit klar wurde, was er meinte.

»Was machst du da?«

»Ich hab gerade überlegt, ob ich dich küssen soll.«

Wieder Pause. »Ich hätte keine Einwände.« Sie hob den Kopf.

Okay, das war seltsam, aber er wollte jetzt nicht schon wieder Diskussionen. Er beugte sich runter und legte seine Lippen auf ihre, ganz sanft, ganz zärtlich. Bei einem Mädchen, das nicht an Jungs gewöhnt war, musste man vorsichtig sein, damit nicht …

Was?

Ehe er sich aufrichten und Luft holen konnte, zog Addie Emerson ihn wieder an sich und küsste ihn intensiv – und lange.

Kein Vergleich zu dem, was sie im Flugzeug gemacht hatten.

»Wow, äh … Wo kam das denn her?«, fragte er – ihm war ganz schwindelig.

»Hab ich dir doch gesagt. Ich lese viel.« Mit dem Arm wischte sie sich den Mund ab. »In dieser Beziehung ist die Zeitschrift Cosmopolitan sehr hilfreich, aber die Models auf dem Cover stehen in einem starken Missverhältnis zur Realität.«

Er spielte mit ihrem Pferdeschwanz. »Addie, ich kann nur sagen: Das war umwerfend. Jemand wie du ist mir noch nie begegnet. Du bist so …«

»Komisch?«, fragte sie. »Normalerweise verwenden Leute dieses Wort, wenn sie von mir sprechen.«

»Komisch ist nicht richtig. Wie wäre es mit einzigartig? Schlau. Cool.«

»Cool ist neu.« Sie lachte und er auch.

»Gut. Ich bin froh, dass ich der Erste bin, der da draufgekommen ist.

Sie wand sich aus seinen Armen und trat unvermittelt einen Schritt zurück. »Hör mal, ich muss gehen, bevor wir erwischt werden. Bitte, tu einfach, worum ich dich bitte, und mach nichts kaputt. Wenn Dexter … das hier spitzkriegt, hat das für mich enorme Konsequenzen.«

»Scheiß auf Dexter. Was kann der uns schon tun?«

»Du würdest staunen. Das CT von seinem Gehirn weist ein signifikant reduziertes Volumen der grauen Hirnmasse im anterioren präfrontalen Cortex.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Ein Soziopath wie aus dem Lehrbuch.«

Kris unterdrückte den Impuls, ihr sein letztes Verbrechen zu gestehen, obwohl es gar nicht infrage kam, ihr davon zu erzählen. Das würde alte Wunden aufreißen, die noch nicht völlig verheilt waren, besonders nachdem er geschworen hatte, dass er einen Neuanfang gemacht hatte. Das bisschen Vertrauen, das er bei ihr gewonnen hätte, wäre sofort wieder zum Teufel.

»Ich mach, was immer du willst«, sagte er. »Wenn ich mich so verhalten soll, als wäre ich nichts weiter als dein Versuchskaninchen – kannst du haben. Aber sobald das Projekt abgeschlossen ist und du diesen Preis gewonnen hast, will ich mit dir ausgehen. Okay?«

»Wir sind doch schon draußen.«

»Nein …« Gott. Diese Beziehung, wenn es denn je so weit kommen würde, wäre nicht frei von Herausforderungen. »Ich will damit sagen: zusammen sein. Miteinander. Wie denkst du darüber?«

Addie umarmte ihn und küsste ihn zärtlich, dann flüsterte sie: »Wo xíwàng.«

Diese Worte trafen ihn mitten ins Herz.

Ich hoffe.