D ie Büros der Geschäftsführung der GreenVision GmbH waren in der obersten Etage eines Bürokomplexes direkt neben einer Produktionshalle.
»Gerade ist Frau Janssen noch im Gespräch, es wird nicht lange dauern.« Ein freundlicher junger Mann bot ihnen für die Wartezeit einen Espresso an. Er servierte ihn an einem weißen Stehtisch und zog sich dann wieder hinter seinen äußerst aufgeräumten Schreibtisch zurück.
»Als ob man auf eine Audienz wartet«, bemerkte Gudrun süffisant.
»Bei den neuen Grafen von Ostfriesland?« Der Espresso war vorzüglich. Bodentiefe Fenster boten beste Aussicht über die Stadt.
»Ach, es wären ganz gute Grafen, oder?«
GreenVision war das neue wirtschaftliche Aushängeschild der Stadt, vielleicht sogar der ganzen Region. Ein Windkraftanlagenhersteller von Weltgeltung, das hatte viele zukunftssichere Arbeitsplätze gebracht. Bevor das Unternehmen seinen Sitz hierherverlegt hatte, galt Aurich eher als eine reine Verwaltungs- und Beamtenstadt. Eala Frya Fresena . GreenVision. Eine Anspielung? Na ja, das wäre schon ziemlich konstruiert.
Die schlichte weiße Bürotür schwang auf, eine Dame in schwarzem Kleid und schwarzer Strumpfhose, blonde Haare, vielleicht Ende vierzig, verabschiedete per Handschlag zwei Männer mit Anzug und Krawatte. Irgendwie hatte Marten erwartet, dass die beiden noch eine Verbeugung machen würden, was natürlich nicht geschah. Die Geschäftsführerin wandte sich ihnen zu. »Kommen Sie doch rein.«
Das Büro war überraschend klein. Janssen bot ihnen einen Platz an dem runden Besprechungstisch. Der Assistent stellte von einem Tablett Gläser und eine mit Wasser gefüllte Glaskaraffe in die Mitte des Tisches und schloss leise die Tür hinter sich.
»Leider ist es im Moment ein wenig unorganisiert. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wie gesagt, es geht um einen Todesfall, den wir untersuchen. Ein Mitarbeiter Ihres Unternehmens. Herr Jonathan Winkler, vielleicht …«
»Wie bitte? Haben Sie … sind Sie sich sicher?«
Marten zeigte ihr eine Vergrößerung des Personalausweisbildes von Winkler. »Ich nehme an, Sie kennen diesen Mann? Wir würden gerne Kollegen, die …«
»Jonathan!« Die Geschäftsführerin schlug erschrocken eine Hand vor das Gesicht. Unruhig wanderte ihr Blick zwischen ihm und dem Foto hin und her. Sie griff nach einem der Wassergläser, hielt es fest. Dann nickte sie. »Ja.« Sie nahm einen Schluck. »Jonathan Winkler ist, äh, einer unserer … er ist Assistent der Geschäftsführung. Entschuldigen Sie kurz.«
Frau Janssen stand auf, machte ein paar Schritte, wandte sich ab, als ob sie aus dem Fenster schauen würde, trank einen weiteren Schluck, dann kam sie zu ihnen zurück. »Wir haben sehr eng zusammengearbeitet. Das ist gerade ein Schock, bitte entschuldigen Sie. Ich habe heute Morgen schon gesehen, dass der Wagen nicht auf dem Parkplatz stand, da habe ich noch nicht …« Sie brach ab. »Was … was ist passiert?«
»Es tut uns sehr leid. Wir müssen davon ausgehen, dass Herr Winkler ermordet wurde.« Ruhig atmete Marten aus. In knappen Worten, ohne ins Detail zu gehen, skizzierte er, was ihnen bekannt war. Seine Frage, ob sie bereit für ein paar Fragen sei, bejahte sie zum Glück. »Frau Janssen, wie würden Sie Herrn Winkler beschreiben?«
»Jonathan, also er war – das mit dem war fällt mir schwer, er war ein Glücksfall für diese Firma. Ein toller Mensch, herzlich und freundlich zu jedem, aber auch überaus professionell und vorausschauend. Mitdenkend und mitfühlend, verstehen Sie?«
»Also war er nicht jemand, der polarisiert hat? Der, na ja, den Konflikt gesucht hat?«
»Auf gar keinen Fall.«
Marten nickte. »Wir sind noch ganz am Anfang. Ist Ihnen bekannt, ob Herr Winkler in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte? Hatte er sich vielleicht außerhalb der Firma Feinde gemacht? Oder gab es vielleicht mal Reibungspunkte mit Kolleginnen und Kollegen?«
Sie blickte kurz nach links oben. »Nein, nein, davon ist mir nichts bekannt. Er war zwar immer für ein Wort zu haben, aber er erzählte so gut wie nie etwas Privates. Da war er sehr drauf bedacht.«
»Eala Frya Fresena . Sagt Ihnen das was? Hat Winkler den Spruch mal irgendwie erwähnt?«
»Natürlich sagt mir das etwas, aber …« Sie sah ihn verständnislos an. »Worauf wollen Sie hinaus?«
Marten beschloss, das Thema nicht weiterzuverfolgen. »Wir suchen nach möglichen Motiven für seinen Tod. Die Position, die er hatte, Assistent der Geschäftsführung. Hatte er da auch Zugang zu Betriebsgeheimnissen? Themen, bei denen viel auf dem Spiel steht?«
Die Geschäftsführerin sah sie prüfend an. »Ja.« Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. »Er hat ja Zugriff auf mein E-Mail-Postfach, wie alle aus dem Team der Assistenten, sie koordinieren unter anderem die Termine der Geschäftsführung, er bekommt da sicher einiges mit. Aber zurzeit gibt es keine kritischen Themen. Die Energiewende spielt uns in die Karten, vielleicht haben Sie von den beiden neuen Windparks westlich von Emden gehört, wir sind bei einem der beiden mit dabei, Projekt Rysum IX . Jonathan hat das Projekt intensiv begleitet. Sicherlich interessant, aber nicht außergewöhnlich. Ich würde sagen, es ist gut gehendes business as usual .«
»Trotzdem benötigen wir Zugang zu seiner beruflichen Kommunikation. E-Mails, Unterlagen …«
»Ja. Sie erhalten alles sofort. Ich will, dass dieser Tod schnellstmöglich aufgeklärt wird, was immer Sie brauchen, Sie werden es von uns bekommen.« Sie räusperte sich. »Bitte beachten Sie nur, dass wir Ihnen damit Zugriff auf Firmengeheimnisse geben, ich darf erwarten, dass Sie entsprechend damit umgehen.«
Marten ärgerte sich über die Belehrung, aber es brachte jetzt ja nichts, sich darüber aufzuregen. »Natürlich.«
»Was mir gerade einfällt«, schaltete sich Gudrun in das Gespräch ein. »Sie sagten, Ihnen sei aufgefallen, dass der Wagen von Herrn Winkler nicht an seinem Platz stand …«
»Ja, das war schon ungewöhnlich. Also, es ist nicht direkt sein Wagen, sondern ein Wagen aus unserem Fahrzeugpool, aus dem er sich aber auch privat bedienen darf, auch am Wochenende. Normalerweise fährt er damit am Freitagabend nach Münster, pendelt am Sonntagabend zurück nach Aurich und stellt den Wagen dann hier in der Tiefgarage ab. Unter der Woche wohnte er in einem Appartement, das wir ihm besorgt hatten, nicht weit weg von hier.«
»Jeden Sonntagabend parkte er den Wagen hier, sagten Sie?« Marten überlegte. »Ist diese Tiefgarage denn verschlossen? Ich meine, kommt man da einfach so rein?«
»Im Unternehmensausweis ist ein Chip, mit dem Mitarbeiter mit einer besonderen Zugangsberechtigung das Rolltor öffnen können. Alle anderen dürfen die Parkplätze dort auch benutzen, aber erst, wenn der Empfang besetzt ist und es zentral für sie öffnet, sofern noch Plätze frei sind.«
Ja, so hatte er sich das vorgestellt, das hatte er bei vielen Unternehmen gesehen. Über elektronische Zugangssysteme konnte man einzelne sensible Gebäudebereiche gegen unbefugten Zutritt schützen. Und vor allem auch nachverfolgen, wann wer wo gewesen war. »Werden die Ein- und Ausfahrten eigentlich gespeichert?«
»Ich denke mal schon. Es gibt eine Kamera, die alle einfahrenden Autos erfasst. So kann der Empfang auch sehen, wem er das Tor öffnet. Ich frage in der IT nach, wir lassen Ihnen gerne die Systemprotokolle und die Videos zukommen.«
Marten überlegte, wie er weiter vorgehen könnte. Es blieben noch immer grundsätzliche Fragen offen. Weiterhin hatte er kein Bild von Winkler vor Augen, was er für ein Mensch gewesen war, normalerweise war niemand einfach nur nett. Aber es sah so aus, als könnte es noch länger dauern, bis sie Verwandte oder Freunde ermittelt hätten, die sie befragen konnten.
»Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?«, fragte Frau Janssen in seine Denkpause hinein. Warum nicht direkt hier anfangen?
»Ja, das können Sie.« Im Zweifel kann alles von Interesse sein. »Wir würden gerne Herrn Winklers Arbeitsplatz in Augenschein nehmen und mit seinen Kollegen sprechen. Wäre das möglich?«
»Aber natürlich.« Sie schlug vor, dass sie ihnen für den Nachmittag einen Meetingraum zur Verfügung stellen und bei der Organisation der Termine mit den Mitarbeitern behilflich sein könnte. Marten nahm das Angebot dankend an.
Als sie das Büro verließen, wartete ein Mann Mitte vierzig im Vorzimmer. Sie verabschiedeten sich von Frau Janssen und gingen in Richtung Fahrstuhl.
»Wir brauchen Jonathan. Ist er inzwischen aufgetaucht?«, hörten sie den Mann aufgeregt fragen.
»Komm rein. Ich muss dir was erzählen«, antwortete ihm die Geschäftsführerin und zog die Tür hinter dem Mann und sich zu.
»Und, was meinst du?«, fragte Marten seine Kollegin, als sie im Fahrstuhl nach unten fuhren.
»Wir sind dem Motiv noch nicht nähergekommen. Warum Winkler?«
»Und warum diese Inszenierung?«
Er dachte an das blutige Bild, das sich ihnen am Morgen geboten hatte. Die Schnitte auf dem Körper des Toten sahen schrecklich aus, aber vermutlich war er mit einem einzelnen, gezielten Schuss getötet worden. Eine grausame und doch seltsam rationale Tat. Er konnte sich noch keinen Reim drauf machen. Sie brauchten mehr Anhaltspunkte. »Vielleicht ergibt sich etwas aus seiner Korrespondenz. Energiewende, es ist wirklich viel Geld im Spiel …«
»Wir sollten ein paar Kollegen miteinbeziehen, die etwas mehr von der Materie verstehen.«
»Ich frage mal im Wirtschaftsdezernat nach. Vielleicht kann ich Unterstützung freischaufeln.«
»Es sollte dir doch gelingen.« Sie zwinkerte ihm zu, als Zeichen, dass er das nicht negativ auffassen sollte. Trotzdem gingen ihm die Andeutungen auf die Nerven. Er nutzte doch nur die Möglichkeiten, die ihm dank Papa nun einmal offenstanden.
»Schauen wir erst mal, was die Kollegen so über Herrn Winkler zu erzählen haben.«
Der Fahrstuhl hielt nach einer Etage bereits wieder an. Ein Mann im Anzug, hellblaues Hemd, oberster Knopf offen, Bürstenschnitt, stieg zu. Gemeinsam fuhren sie nach unten, im Flur im Erdgeschoss wandte sich ihr Mitfahrer in die entgegengesetzte Richtung.
Als sie nach draußen traten, vibrierte Martens Smartphone, ein verpasster Anruf von Katharina. Und eine Textnachricht von ihr, es wäre ihr nur danach gewesen, kurz seine Stimme zu hören, und sie wünsche ihm viel Erfolg bei den Ermittlungen.
Während Marten eine kurze Antwort eintippte, wurde er vom Anruf des Staatsanwalts unterbrochen. Er habe die Leiche bereits in die Gerichtsmedizin bringen lassen, die Obduktion sei schon für den Abend angesetzt.