A ls Marten die Tür aufschloss, konnte er Katharina schon hören. Sie kochte.
»Du bist noch wach?« Er legte seine Arme von hinten um ihre Taille. Warum trug sie ein schwarzes Cocktailkleid? Ungläubig sah er zur Küchenuhr, die kurz nach Mitternacht anzeigte. »Süße, was machst du?«
»Bratpaprika.« Katharina lächelte über ihre Antwort, klang aber genervt. »Ich hab uns für den Abend einen guten Wein besorgt und dazu einen kleinen Snack. Etwas Leichtes, dachte ich. Und das ziehe ich jetzt auch durch, egal wie spät es ist. Du willst doch auch?«
Gemütliche Tapas-Abende, dazu etwas Unterhaltung nebenbei im Fernsehen, das war in den letzten Jahren zu einer Art Hobby von ihnen geworden. Aber jetzt … Er entschied sich, ihr nicht zu sagen, welche Bilder ihm gerade noch durch den Kopf spukten. Und der Bratgeruch tat auch nicht gerade gut. Nein, er wusste genau, dass er jetzt nichts runterkriegen würde. »Ein Glas von dem Wein kann ich jetzt gut gebrauchen.«
»Sehr charmant von dir.« Etwas zischte am Herd. Mit dem Pfannenwender schabte sie hektisch am Boden der Pfanne. »Verdammt, jetzt ist das doch angebrannt!«
»Ich hab mich entschieden, ich möchte wirklich nichts«, zog er sie auf.
»Blödmann.« Resigniert beobachtete sie die Rauchentwicklung. »Ich bemerke da gerade ernsthafte Risse in unserer Traumbeziehung.«
»Ich begrüße mal Youri.«
»Aber weck ihn nicht!«
Marten schloss die Küchentür hinter sich. Ihre vorletzte Bemerkung hatte ihm doch einen Stich versetzt. Sie waren schon seit der Oberstufe ein Paar, genau genommen seit der Stufenfahrt nach Florenz, und lebten seit fünf Jahren zusammen, nachdem sie sich vorher eigene Wohnungen geleistet hatten. Er hatte sie damals zum Zusammenziehen überredet, nachdem sein Vater ihm einen guten Batzen Geld geschenkt hatte, als vorzeitiges Erbe und Startkapital fürs Leben. Es wäre doch blöd, sich weiter gegenseitig zu besuchen und eine Wohnung immer ungenutzt zu lassen. Machen wir ein Projekt daraus, eine Traumwohnung für ein Traumpaar mit Traumbeziehung. Aber seitdem ging es nicht mehr weiter.
Die Lockerheit, die immer den Reiz ihrer Beziehung ausgemacht hatte, sie fehlte, immer wieder bemerkte er, wie er ihre Worte auf die Goldwaage legte. Obwohl er doch wusste, dass sie sich nur gegenseitig aufzogen, so wie früher – nur dass ihre Bemerkungen ihm plötzlich nahegingen. Vor einem halben Jahr hatte er einen Ring gekauft, der Stein darin war zu einem Schmetterling geschliffen worden. Ein wirklich schönes Schmuckstück, ein Monatsgehalt hatte es ihn gekostet. Seitdem wartete er auf eine Gelegenheit, die aber bisher nicht gekommen war. Vielleicht, weil es sich nicht mehr richtig anfühlte. Und der Ring wartete noch immer in der Kommode neben dem Bett.
Auf dem Tisch brannten zwei rote, langstielige Kerzen, da standen zwei Rotweingläser, die großen, besonders bauchigen. Youri, Katharinas Barsoi, lag hinten in der Fernsehecke, sie hatte ihn vor zwei Jahren aus einem Tierheim befreit. Da sie als selbstständige Immobilienmaklerin viel Zeit im Homeoffice verbrachte, konnte sie gut für ihn sorgen. Der Windhund hatte leider die gleiche Couchecke wie Marten zu seinem Lieblingsplatz erkoren, und Marten hatte ihm inzwischen den Vortritt gelassen. Der alte Hund tat ihm leid. Der Tierarzt hatte eine kleine, aber inzwischen wohl schmerzhafte Fehlstellung im rechten Hinterlauf festgestellt, verursacht durch lange Zwingerhaltung beim Vorbesitzer. Zu wenig Bewegung.
Er kraulte durch das weiße Fell an seinem Hals, Youri legte den Kopf in den Nacken. Er war als Kind im Umgang mit Hunden immer unsicher gewesen, aber Youri … an ihn hatte er sich schnell gewöhnen können. Der Hund grinste zurück. »Na, dann warten wir mal, Youri, oder?« Der Hund legte gemütlich seinen Kopf auf Martens Bein. Ja, ich bin auch müde, dachte Marten.
Katharina kam aus der Küche, auf einem Teller waren die grün-schwarzen Paprika zu einem Haufen aufgeschichtet.
»Du siehst fantastisch aus.« Katharinas blonde Haare umspielten die nackten Schultern. Schmetterlinge, dachte er, sie sind wieder da. Er nahm den Platz ihr gegenüber ein. Wow, sie hatte sich sogar geschminkt. Warum trug sie ein schwarzes Cocktailkleid?
»Das war es, was ich eben hatte hören wollen.«
»Tut mir leid, dass ich heute so schlecht zu erreichen war. Der Tote, es war ein Mord. Er wurde erschossen, keine Ahnung, warum. Das hat mich echt mehr mitgenommen, als ich zuerst gedacht habe …« Er wollte von dem Toten erzählen, machte es dann aber doch nicht. Später, überlegte er. Mord passte nicht zur Stimmung. »Jedenfalls … ich werde da voll mitgerissen.«
»Mordermittlung? Und, behältst du den Fall?«
»Ich war für die Einsatzbereitschaft im Kriminalkommissariat eingeteilt, und Gudrun und ich haben heute schon viel erreicht. Kupernik kann mir den Fall nicht einfach so wieder wegnehmen.« Er sah zu seiner wunderschönen Freundin. »Das wird noch heftig werden, das fängt alles erst an. Eher die Vierzehn-, Fünfzehn-Stunden-Tage …« Das war auch schon bei den Tötungsdelikten so gewesen, als er noch nicht den Hut dafür aufgehabt hatte.
»Das ist doch klar. Du leitest eine Mordkommission. Zum ersten Mal. Du hast es dir verdient! Die letzten Male haben andere deine Lorbeeren geerntet.« Sie sah ihn verlegen an. »Auch wenn es mir irgendwie immer noch unheimlich ist, dass du solche Menschen jagst.«
»Mach dir keine Gedanken.« Er lächelte sie an, wollte das Thema wechseln. »Ich hoffe, wir haben schnell Erfolg. Wer weiß, letzten Endes ist es für mich auch eine gute Möglichkeit für den nächsten Schritt.« Er dachte an die Ratschläge von seinem Vater. Wer nach oben kommen wollte, musste sich zeigen. Das tat er gerade, er führte nun die Ermittlungen bei dem wahrscheinlich spektakulärsten Mordfall der letzten zehn Jahre. Wenn er erfolgreich war, könnte das der nächste Schritt sein. Ein Schritt, den er ohne Papa gemacht haben würde und mit dem er hoffentlich endlich aus seinem Schatten heraustreten könnte. Wohin auch immer.
»Okay.« Sie lächelte zurück. »Übrigens, es sieht bei uns beiden so aus, als ob wir beruflich eine ziemliche Chance haben. Ich habe auch Neuigkeiten, ich wollte es dir nicht in einer Nachricht schreiben und dich zu sehr ablenken.«
»Was denn?«
»Es ist einfach großartig!« Es platzte förmlich aus ihr heraus, als sie anfing zu erzählen. Er beobachtete ihre kleinen Lachfältchen, während sie über ein neues Projekt sprach, ein riesiges Neubauprojekt im Einzugsgebiet von London, das sie nun mitvermarkten sollte. Steffen, ein alter Bekannter, hatte sie dort ins Spiel gebracht, erklärte sie so nebenbei. Sie hatte ja vor einem halben Jahr dieses Projekt in Frankfurt betreut, und in der Zielgruppe wären durchaus auch wieder Banker aus Deutschland.
»Das musst du dir wie so eine Art Villen-Park vorstellen, nur mit guter Verbindung in die Innenstadt. Alles wahnsinnig hochwertig. Ein perfektes Projekt für die ganzen Anfang Dreißiger, die schon fettes Geld verdienen und keine Lust mehr auf die Mieten im Bankenviertel haben oder vielleicht sogar eine Familie gründen wollen. Das ist der Glücksgriff!«
»Super! Das freut mich total für dich! Du hast es dir verdient!« Er kramte in seinen Erinnerungen. Steffen, so hieß doch dieser Typ damals in ihrem Fechtverein, wo es diese Gerüchte gab, dass die beiden … Katharina hatte es immer abgestritten. In Gedanken versunken, angelte er nun doch nach den grün-schwarzen Paprika, schüttelte etwas von dem groben Salz ab.
»Danke.« Sie sah ihn ernst an. »Das bedeutet mir viel.«
»Wir sollten darauf anstoßen.« Hm, London. Das würde sie nicht nur von Aurich aus bearbeiten können. Ja, Katharina hatte gute Kontakte nach Frankfurt, aber warum nahm man nicht direkt jemanden, der in Frankfurt wohnte?
»Ja.« Sie atmete tief ein, bevor sie das Glas hob. »Ich werde einige Zeit vor Ort sein. Da geht viel über die persönliche Schiene, ist ja klar. Die Preise haben nach der letzten Krise noch einmal angezogen.«
»Natürlich.« Die Gläser klirrten, als sie einander zuprosteten. »Auf dich.«
»Auf uns!« Sie nahm einen tiefen Schluck. »Demnächst fliege ich zum ersten Mal rüber. Den Vertrag unterschreiben, Leute kennenlernen, das Konzept den Vertriebspartnern vorstellen.«
»Okay.« Er probierte ebenfalls den Wein. Trocken, beinahe staubtrocken. »Weißt du schon, wie oft du drüben sein wirst?«
»Könnte zumindest sein, dass ich demnächst öfters werde da sein müssen.« Sie zuckte mit den Schultern, nahm einen weiteren Schluck. Er wich ihrem Blick aus, sah zur Balkontür auf den Marktplatz und die große gläserne Markthalle hinaus. Er liebte es, samstagmorgens mit einem Kaffee auf dem Balkon zu sitzen, Zeitung zu lesen und gemeinsam mit der schönsten Frau der Stadt auf den Trubel zwischen den bunten Ständen zu ihren Füßen zu schauen.
Jetzt war die Welt grauschwarz und nur punktuell von den Laternen ausgeleuchtet. Im Schatten auf der anderen Seite des Platzes glomm ein roter Lichtpunkt auf. Bestimmt das Teenie-Pärchen aus der Nachbarschaft, sie teilten sich da unten oft eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen. Ihre Eltern hatten ihm wohl verboten, die ganze Nacht zu bleiben. Genau wie Katharinas Eltern damals, ganz am Anfang. Auf dem Heimweg hatte er immer noch einmal bei ihr angerufen, einfach nur, um die gemeinsame Zeit zu verlängern.
»Wir haben beide Chancen, die wir nutzen werden.«
»Du wirst mir fehlen.« Sie atmete tief ein, dann legte sie ihre Hand auf den Tisch, Marten legte seine hinein. Sie sah ihn lange an. Ihr Lächeln war wie eingefroren, irgendwie gewollt. »Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch. Es ist schön mit dir.« Seine Zunge war schwer.
Katharina schob die Teller mit den Essensresten zur Seite und beugte sich fordernd zu ihm hinüber. Der Kuss schmeckte warm und salzig. Er fragte sich, ob sie sich gegenseitig etwas vormachten.
Eine Stunde später, Katharina hatte schon längst wieder ihre Stupsnase in ihr Kissen hineingekuschelt und atmete ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem, da kamen die Bilder wieder. Ich habe auf euch gewartet, dachte Marten. Das kleine Loch in der Stirn, die blutigen Schnitte über der Brust, das Foto von Jonathan mit der unbekannten Frau im schulterfreien Kleid, die Moorlandschaft auf der Leinwand. Es war klar, dass das passieren würde.
Diesen Erinnerungen konnte er nicht entkommen, er würde sie durchleben müssen, immer wieder. Der Upstalsboom, ein grünes Gewölbe aus Blättern der weit verzweigten Bäume, wie ein Dom aus alten Zeiten. Warum dort? Jonathans leere Augen. Die blutigen Buchstaben. Alles verschwamm miteinander.
Ein Wispern, zuerst ganz leise. Immer wieder der gleiche Rhythmus, der gleiche Klang. Die gleichen Worte. Er schloss die Augen. Eine dunkle Stimme, von weit her. Sie kam näher. Er erkannte einzelne Silben, Wortfetzen … Eala Frya Fresena, ja, ganz sicher. Immer und immer wieder. Er spürte eine Nähe, jemand war bei ihm, streckte seine Hand nach ihm aus, wollte ihn berühren. Die geflüsterten Worte kratzten an seiner Haut, drangen durch sie hindurch, bohrten sich tief in ihn hinein. Er wagte es kaum zu atmen. Endlich wurde die Stimme wieder leiser, die Worte zogen sich zurück, er war wieder allein.
Marten schnappte nach Luft. Sein T-Shirt klebte schweißnass an ihm. Ich hab ihn gehört, wusste er. Ich hab den Mörder gehört. Er hat zu mir gesprochen.