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Keitum, Sylt. Mittwoch, 30. Juli

15:00 Uhr

D as ist bestimmt eines dieser ehemaligen Kapitänshäuser, dachte Marten, als er vor dem Anwesen hielt. Gut, Seidel war Immobilienmakler auf Sylt, da musste das eigene Heim schon etwas hermachen. Weiß getünchte Wände, mittiger Eingang unter dem Zwerchgiebel. Großes Grundstück, leicht erhöht gelegen, umgeben von einer Rosenhecke, die in Weiß und Rot blühte. Ein flacher Mähroboter suchte sich seinen Weg über den Rasen, der grün im Sonnenschein leuchtete.

Walther kam nur zwei Minuten nach ihm an, Marten stieg zeitgleich mit ihm aus.

»Ihr gehört jetzt das Anwesen?«

»Ich gehe davon aus. Das Testament ist ja noch nicht geöffnet worden, aber zumindest der gesetzliche Erbteil …«

Marten schüttelte den Kopf. Nein, vergiss das, das hier war kein Mord aus Habgier.

»Veronika Seidel. Was weiß sie bisher über den Mord?«

»Wir haben ihr heute Morgen die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht.« Walther blickte ihn ernst an. »Sie weiß nur, dass er erschossen wurde.«

»Sie kennt ansonsten keine Ermittlungsergebnisse?« Lieber wäre es Marten gewesen, wenn auch das nicht bekannt geworden wäre. Aber gut, Walther hatte natürlich schon vor seiner Ankunft mit den Ermittlungen begonnen.

»Nein.« Er räusperte sich. »Sie betrachten sie offiziell als Tatverdächtige?«

»Nein, als Zeugin.« Nicht dass sie die Befragung verschob, um Rechtsbeistand anzufordern. »Die nette Tour.«

»Einverstanden.« Gemeinsam gingen sie den schmalen Fußweg zum Haus. Walther schnaufte durch. »Sie sollten wissen, dass sie und ich – wir sind befreundet. Nicht ganz dicke, aber wir, also meine Frau und ich, wir waren auch schon mal auf einer von Joosts Gartenpartys eingeladen. Die hat er ein- bis zweimal im Jahr veranstaltet und immer mindestens fünfzig Leute eingeladen. Kein Befangenheitsproblem oder so, ich wollte es nur erwähnt haben. Führen Sie nur das Interview, ich halte mich zurück.«

»Okay.« Stellte das ein Problem dar? Nein, eher nicht, im Gegenteil, so konnte Walther vielleicht ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. »Ganz geradeheraus gefragt: Würden Sie ihr denn zutrauen, in die Sache verwickelt zu sein?«

Walther blieb stehen. »Man sieht immer nur bis vor die Stirn, oder?« Er verzog das Gesicht. »Ich hoffe nicht. Sie ist mit Sicherheit recht … rational. Sie, ähm … sie und Joost waren … sie haben vor sechs oder sieben Jahren geheiratet. Sie werden gleich verstehen, was ich meine.«

Über der Klingel verkündete ein Edelstahlschild Seidel Immobilien . Sie läuteten.

Veronika Seidel öffnete selbst. Marten war überrascht. Vor ihm stand eine attraktive junge Frau, vielleicht so alt wie er selbst. Blonde Haare, dezentes Make-up, das nur unter den Augen etwas verlaufen war, schwarzer Hosenanzug. »Kommen Sie herein.«

Sie folgten ihr in eine getäfelte Diele, die in früheren Zeiten wohl den Wohnbereich vom Wirtschaftsbereich des Hauses getrennt hatte. Frau Seidel wandte sich nach rechts, wo einst die Ställe gewesen sein mussten. Sie traten in einen lichtdurchfluteten saalartigen Raum, der die gesamte Breite des Hauses einnahm. Eine riesige cremefarbene Couch stand in der Mitte, ausgerichtet auf eine weiße Leinwand, an deren rechter und linker Seite jeweils Lautsprecher angebracht waren. An der Decke schwebte ein unscheinbarer Beamer. Auf dem Couchtisch lag ein gerahmtes Hochzeitsfoto, daneben eine Packung Papiertaschentücher.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Marten und fühlte sich sofort unwohl damit, es kam ihm floskelhaft vor. »Schaffen Sie das?«, schob er schnell nach.

»Wenn es hilft, will ich mein Bestes geben.« Sie schlug die Augen nieder, streckte den Rücken durch, schluckte und sah ihn dann geradeheraus an. »Fragen Sie!«

»Ganz geradeheraus. Liewer düd aß Slaawe . Im Zusammenhang mit ihrem Mann – könnte es da irgendeine Bedeutung geben?«

»Max hat mich das ja auch schon gefragt, heute Morgen. Nein, tut mir leid. Vielleicht ein Immobiliendeal, den Joost vorhatte? Keine Ahnung, das war jetzt nur geraten. Er hat in den letzten Wochen jedenfalls nichts dazu erwähnt. Mir fällt dazu nur dieses Volksmärchen ein, in dem das zitiert wird, Pidder Lüng oder so. Aber mit Joost – nein.«

Pidder Lüng. Marten kannte auch die Geschichte des armen Hörnumer Fischers, der angeblich den Steuereintreiber des Königs in einem Grünkohleintopf ertränkt hatte. Freiheitskampf, erinnerte an Eala Frya Fresena . Wen sollte Joost Seidel in seiner Freiheit bedrängt haben? Oder Jonathan Winkler?

Frau Seidel antwortete stets schnell, konstruktiv, ohne zu überlegen. Überhaupt war sie ruhig und beherrscht, es wirkte beinahe unheimlich. Keine Spur von Unruhe. Nur Traurigkeit und Bitterkeit blitzten dann auf, wenn das Gespräch die Beziehung zu ihren Mann streifte. Ja, der Altersunterschied sei immer ein Thema gewesen. Und ja, sie habe ihn auch wegen des Geldes geheiratet, aber das sei für Joost in Ordnung gewesen, und er hätte ihr auch gar nicht geglaubt, wenn sie etwas anderes behauptet hätte. Aber sie habe ihn trotzdem geliebt. Sie war ehrlich, überlegte Marten. Nein, sie machte ihm nichts vor.

»Ihr Mann hat gestern Abend noch versucht, Sie zu erreichen, vergeblich. Wissen Sie noch, wann Sie gestern das letzte Mal Ihr Handy benutzt haben?«

»Wollen Sie etwa …?« Veronika sah ihn entgeistert an.

»Nein«, versuchte er sie zu beruhigen. »Es könnte sein, dass jemand an ihr Handy gekommen ist, es abgeschaltet hat, absichtlich, unabsichtlich, was auch immer. Vielleicht jemand, der mit dem Mörder zusammenarbeitet. Es geht nur darum, Möglichkeiten auszuschließen.«

Sie atmete tief durch. »Gegen sechs habe ich noch mit Lucy gesprochen. Wir wollten demnächst mal wieder ein Shooting machen. Bademode für die kommende Saison.« Sie erklärte, dass sie gelegentlich noch als Model arbeite, aber eigentlich ein Fernstudium mache. »Danach haben Joost und ich zu Abend gegessen. Gegen acht bin ich mit dem Auto los, zu Lucy. Wie fast jeden Dienstag. Später sind wir dann weiter ins Pesel

»Ein Restaurant?« Marten kannte den Begriff Pesel , die »gute Stube« der alten Bauernhäuser.

»Eine Kneipe in Westerland«, erklärte Walther. »Und Lucy Rabenstein ist die Inhaberin eines eigenen Labels, das sie letztes Jahr gegründet hat. Nordsonne heißt es, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Mode von und für Sylt«, ergänzte Frau Seidel. »Jedenfalls, als ich mir ein Taxi rufen wollte, fiel mir auf, dass das Display den unbeantworteten Anruf anzeigte. Das war kurz vor eins.«

Marten rief sich die Anrufliste auf Seidels Handy in Erinnerung. Er hatte nicht versucht, eine Lucy anzurufen, nur Veronika.

»Lucy schaltet ihr Telefon ab zwanzig Uhr aus.« Veronika schien seine Gedanken erraten zu haben. »Immer. Sie hat ein Smartphone, das sie für ihre Firma nutzt, aber eigentlich lehnt sie Handys ab. Mit den ganzen sozialen Medien rauben wir uns Lebensqualität, sagt sie.«

»Also wusste Ihr Mann nicht, dass Sie im Pesel waren?«

»Nein.« Sie atmete tief durch. »Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Waren Sie zwischen dem Besuch bei Frau Rabenstein und dem Pesel noch irgendwo?«

»Nein.«

»Wann sind Sie im Pesel angekommen?«

»So gegen halb zehn. Wir haben noch ein paar Freunde von mir getroffen.« Sie zählte ein paar Frauennamen auf, im Hintergrund hob Walther die Augenbrauen.

»Wo hatten Sie Ihr Handy, als Sie im Pesel waren? Hätte jemand darauf zugreifen können?«

»Wie immer, in meiner Tasche. Und die hatte ich … hm, die hing über der Stuhllehne. Oder stand die auf dem Boden? Weiß ich jetzt nicht mehr genau. Oder hatte ich es in der Manteltasche? Manchmal lege ich es im ersten Moment auch auf den Tisch. Ich habe da nicht so genau drauf geachtet, wie das halt so ist, ich meine, ich kenne da ja die meisten anderen Gäste. Eigentlich sind alle dort Stammgäste.«

»Das Pesel ist ein Lokal, das vor allem die Sylter selbst besuchen«, erklärte Walther. »Es ist etwas versteckt im Osten von Westerland und nicht auf Touristen ausgelegt. Darauf wird Wert gelegt.«

»Waren Sie für sich, Sie und Ihre Freundinnen, oder hatten Sie auch Kontakt zu anderen Gästen?«

»Na ja, wie gesagt, man kennt sich dort, wie es halt so ist in einer Kneipe. Ja natürlich, es haben einige mal Hallo gesagt.«

»Wir brauchen eine Liste aller Personen, die gestern mit Ihnen in dieser Kneipe waren«, entschied Marten. »Egal wer, egal wie lange, egal, ob Sie mit der Person gesprochen haben oder nicht. Einfach alle, an die Sie sich erinnern können.«

»Ja, natürlich.« Frau Seidel wirkte etwas hilflos. »Das waren aber einige – das kann eine lange Liste werden. Glauben Sie wirklich, dass einer von denen …? Bis wann brauchen Sie die denn?«

»So schnell wie möglich.« In Gedanken war er schon einen Schritt weiter. Sie mussten ins Pesel , die Angaben von ihr überprüfen, Zeugen ausfindig machen und befragen. Übersichten erstellen, wer wann mit wem angekommen und die Kneipe verlassen hatte. Querverbindungen zum Fall in Aurich finden. Eine Explosion von Kleinstarbeit. Er sah Sand zwischen seinen Fingern rieseln. »Sofort, wenn es nichts ausmacht.«

Es schien ihm, als sacke Veronika Seidel in sich zusammen. Auf einmal wirkte sie klein, inmitten dieser riesigen Couch, vor dem Panoramafenster, das einen grandiosen Blick auf den perfekten Garten mit dem gemauerten Grill bot, die benachbarten Häuser, die Dächer von Keitum, das Wattenmeer und den blauen Himmel darüber. Es war nicht die Trauer, es waren Sorgen, die sie erdrückten. »Sie verdächtigen mich, oder? Sie überprüfen mein Alibi?«

»Ich suche nach dem Mörder.«

»Ja, Joost und ich, wir haben uns manchmal gestritten. Aber ich würde ihm nie etwas tun. Sehen Sie, ich hab doch keinen Grund, ich habe doch alles. Joost war eifersüchtig manchmal, ja klar, aber er hätte alles für mich getan. Ich bin keine Mörderin!«

Die Frage schwebte im Raum. Zieh es durch, Marten. »Hatte er denn Grund zur Eifersucht?«

»Sie … Arschloch.« Ihre Augen funkelten. Irgendwie zu übertrieben. Der ganze Körper war angespannt, als wollte sie ihn angreifen. Keine Verletzbarkeit, nur Wut. Dargestellte, gespielte Wut. »Was denken Sie eigentlich, wer Sie sind?«

»Ich glaube Ihnen ja. Aber ich will diesen Fall aufklären. Den Mörder Ihres Mannes finden. Dafür brauche ich Ihre Hilfe.« Sie hatte die Frage nicht beantwortet. »Gab es einen Grund für seine Eifersucht?«

»Nein.« Sie sah ihn fest an. Ein Seitenblick traf Walther. »Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin ihm immer treu gewesen. Egal, was die Leute vielleicht sagen.«

Als er wieder im Auto saß, rief er Kupernik an. Die Assistentin stellte ihn sofort durch, aber der Chef ließ ihn zwei Minuten warten.

»Wie sieht es aus?«, fragte Kupernik ohne Begrüßung. Das kann ich auch, dachte Marten.

»Ich will die Gesamtleitung«, antwortete er.

»Ist es derselbe Mörder?«

»Es ist das gleiche Muster.« Der neue Wahlspruch als Fortsetzung des letzten. Wieder eine Falle. Genau durchgeplant und kaltblütig durchgezogen wie in Aurich. »Wir sind sehr nah dran. Der letzte Mord ist nicht einmal vierundzwanzig Stunden her. Und ich bin als Einziger mit beiden Fällen vertraut. Ich kann die Querverbindungen erkennen. Aber ich brauche die Gesamtleitung, um den Mörder zu finden.«

»Ja, Ihre Botschaft ist angekommen, Jaspari.« Marten schien es fast, als könne er hören, wie sein Chef die Lippen aufeinanderpresste. Er vertraut mir nicht. Aber er musste es, er hing jetzt mit ihm da drin. »Ich hätte mich auch ohne Ihre explizite Forderung dafür eingesetzt.«

»Danke, Chef.«

»Wir sehen uns heute Abend.«