A n der roten, altehrwürdig wirkenden Backsteinfassade des Polizeireviers fiel Marten auf der Höhe seines Parkplatzes ein altes Steinrelief auf. Es zeigte den traditionellen Hirsebreitopf für die Puken, die friesischen Hausgeister – die Kollegen wollten offensichtlich auf Nummer sicher gehen und sich mit ihnen gutstellen. Im Inneren des Gebäudes jedoch befanden sich hochmoderne Büroetagen. Walther holte ihn ab und führte ihn in einen Besprechungsraum, um ihm die Mordkommission vorzustellen. Er hatte bereits zehn Leute für die Ermittlungen freigeschaufelt, morgen sollte Verstärkung vom Festland kommen. Alle Altersgruppen, alle Dienstgrade.
An den Wänden des Besprechungszimmers waren auf Whiteboards und Flipcharts die wichtigsten Ermittlungsergebnisse festgehalten, mit roter Schrift waren To-dos, mit blauer Tatsachen, mit grüner Schrift zentrale Zeugenaussagen festgehalten. Klassische, bewährte Vorgehensweise. »Zusätzlich«, erklärte Walther, »führt ein Kollege die elektronische Akte, für die Kollegen im Außeneinsatz, und kopiert auch deren Ergebnisse auf die Whiteboards. Alle sind immer up to date.«
»Respekt.« Marten musste zugeben, dass sein Kollege besser organisiert war als er. Na ja, zugegebenermaßen hatte er ohnehin fast nichts organisiert, sondern die Koordination der Detailarbeiten größtenteils Gudrun überlassen.
Nach dem Händeschütteln folgte er Walther zur Leiterin des Polizeireviers. »Hauptkommissarin Pløen. Prima, dann sind wir ja vollständig.« Ihr Büro war gerade mal zehn Quadratmeter groß, sie schien weniger Wert auf Status zu legen als Kupernik. Der sah bereits von einem an der Wand befestigten Bildschirm auf sie herab.
Marten ließ Walther den Vortritt, die Fakten zu präsentieren. »Es könnte sein, dass eine Beziehungstat dahintersteckt. Dazu passen aber nicht die Ritzereien in der Brust des Toten«, schloss er.
»Was ist Ihre Einschätzung, Herr Jaspari?«
»Ich stimme zu, eine Beziehungstat ist nicht auszuschließen. Es könnte aber durchaus sein, dass die allseits bekannte Eifersucht von Joost Seidel sozusagen ein Werkzeug war, um den Mord zu begehen. Dadurch konnte der Täter ihn manipulieren. Seidel war letztlich ein berechenbares Opfer, ähnlich wie auch Herr Winkler in Aurich.« Jetzt nicht überreizen. Lass den wichtigen Teil die Chefs erledigen. »Der Schuss in die Stirn, beinahe identisch. Es ist naheliegend, dass der Mörder genau sein Tun beobachten wollte, das Sterben, den Tod. Ich halte es für sehr plausibel, dass die beiden Fälle zusammenhängen.«
Dann war es nur logisch, die Ermittlungen unter eine gemeinsame Leitung zu stellen. Er wartete, aber es kam keine Reaktion von Pløen, auch nicht von Kupernik. Vielleicht musste er nachlegen. Er dachte an die Theorie von seinem Vater. »Ich würde sogar sagen, der oder die Täter wollen, dass die Morde miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Schnittwunden. Wir … ich denke, sie bauen aufeinander auf.«
»Wie wollen Sie also weiter vorgehen?«, fragte Kupernik.
»Zwei Ansätze«, improvisierte Marten. »Zum einen sollten wir versuchen, Querverbindungen zwischen beiden Fällen auszumachen. Zwischen Personen, Ereignissen, was auch immer, irgendwie müssen die ganz praktisch zusammenhängen. Und zum anderen – eben diese Schnittverletzungen.«
»Haben Sie eine Vermutung?«
»Sie sind nicht einfach nur die Signatur des Täters, sondern sie enthalten Botschaften, die die Morde rechtfertigen sollen.« Glaubte er an das, was er gleich sagen wollte? Er horchte in sich hinein. Ja, das tat er. »Botschaften an uns. Die erste Botschaft konnten wir nicht verstehen, vielleicht, weil sie unvollständig war. Vielleicht ergeben sie aber gemeinsam einen Sinn. Mehrere Morde, aber eine Botschaft. Darum geht es dem Täter, wir sollen seine Botschaft entschlüsseln. Über sie kommen wir zum Mörder. Er gibt sie uns ja sozusagen an die Hand, es wäre sogar nicht abwegig, wenn er darüber erkannt werden will. Es würde sogar passen.«
Pløen sah zum Bildschirm hinüber, zu Kupernik. Als dieser nickte, wandte sie sich wieder an Walther und Marten: »Sie sind tiefer drin als wir alle. Der Polizeidirektor und ich sind uns einig. Koordinieren Sie bitte die Ermittlungen, die Oberkommissar Walther hier auf Sylt führt, mit Ihren.«
»Okay …«
Fragend blickte Marten zu Kupernik.
»Das heißt, Sie bekommen die Gesamtleitung, Jaspari«, sagte dieser. Aus den Augenwinkeln erkannte Marten, dass Pløen kurz zuckte. »Führen Sie die Ermittlungen zum Ziel. Wir vertrauen Ihnen. Viel Erfolg!«
Abends um zehn checkte er bei einer der in die Jahre gekommenen Bettenburgen im Westerländer Zentrum ein, direkt am Strand. Innen war das Hotel deutlich schicker als von draußen. Zu seinem Zimmer gehörte immerhin ein Balkon mit Meerblick. Er trat nach draußen. Die Nacht hatte eingesetzt, nur in weiter Ferne zog sich noch ein dünner hellgrauer Streifen von Nord nach Süd durch das Halbdunkel. Unter ihm war schwarze See, mehr zu hören, als zu sehen. Westwind, Salz lag in der Luft, sogar in der zehnten Etage.
Er hatte sich in den Fall verbissen, gestand er sich ein. Der Kern war diese Botschaft. Ein Rätsel, das der Mörder ihnen aufgab. Marten betrachtete das Meer, beobachtete, wie das fahle Licht des Mondes auf der Oberfläche tanzte. Eine Botschaft auf Friesisch, sie mussten friesisch denken. Erst der ostfriesische Wahlspruch, dann der nordfriesische. Eine Botschaft aus zwei Teilen.
Zwei Teile … Was, wenn die Botschaft noch immer nicht vollständig war? Bei dem Gedanken lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Erst ost-, dann nordfriesisch. Es gab auch noch Westfriesland, in den Niederlanden. Er rief Kupernik an. Der Chef ging nach dem fünften Klingeln dran.
»Jaspari, es ist halb zwölf. Bitte, sagen Sie nicht, dass es eine weitere Leiche gibt.«
»Das wäre in der Tat gut möglich. Aber vielleicht können wir es noch verhindern.« Er skizzierte seine Idee und bat Kupernik, die Anfrage gleich an die niederländischen Behörden rauszusenden. »Es kann sein, dass das jetzt weit hergeholt ist. Aber falls meine Vermutung stimmt, müssen wir uns, so schnell es geht, mit den Kollegen austauschen.«
»Darf ich fragen, welche Indizien für Ihre Mutmaßung vorliegen, außer Ihrer Intuition?« Marten räusperte sich, Kupernik sprach aber einfach weiter. »Egal, okay. Ich kümmere mich drum. Noch heute Abend. In Ordnung.«
Marten sah auf das Display, Kupernik hatte aufgelegt. Hatte er überstürzt gehandelt? Vielleicht. Aber im Kern, bestätigte er sich, habe ich recht. Ich muss auf mein Gefühl vertrauen, dann bin ich gut.
Er stellte den Koffer in den Wandschrank, unausgepackt. Sachen für drei Tage. Vielleicht würde er erst wieder in Aurich zurück sein, wenn auch Katharina heimkehrte. Bis auf die Nachricht, dass sie gut in London angekommen sei, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Er formulierte erst eine Nachricht an sie, rief dann aber kurz entschlossen an.
»Hey, du.« Ihre Stimme klang gehetzt.
»Hey, Süße. Wie geht es dir?«
Sie fasste sich kurz, ziemlich viel Stress, aber alle seien superfreundlich. »Schon eine Herausforderung, aber ich krieg das hin.«
»Es sieht echt so aus, als ob die beiden Morde zusammengehören. Wir sind ganz nah dran, denke ich. Es gibt da eine gute Spur.«
»Ja.« Vielleicht war sein Themenwechsel zu schnell gekommen. Er hörte ihren Atem. »Hast du gar keine Angst?«, sagte sie dann doch noch nach einer Weile.
»Nein.«
»Du läufst einem Irren hinterher, der kaltblütig Menschen umbringt.«
»Ja.« Er war es Jonathan schuldig. Und jetzt auch Joost Seidel.
»Das ist für mich keine einfache Vorstellung.«
»Ich passe auf, ehrlich.« Wo kam das auf einmal her? Er kannte das gar nicht von Katharina. Sie hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Im Hintergrund hörte er eine fremde Stimme, nur ganz leise.
»Du, ich muss Schluss machen.« Katharina schien abgelenkt. »Wir telefonieren morgen länger, okay? Gute Nacht.«
»Ich liebe dich.« Sie hatte bereits aufgelegt.