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De Lemmer. Mittwoch, 6. August

06:40 Uhr

I ska fröstelte. Die Temperaturen waren seit dem Wochenende gefallen, und an diesem Morgen zog ein frischer Wind von Westen über das IJ sselmeer und über den Hafen. Am Ende der linken Mole entdeckte sie das Zelt, dass der Suchtrupp aufgebaut hatte. Der helle Scheinwerfer beleuchtete noch immer das Quadrat, das sie die ganze Nacht bearbeitet hatten. Wahrscheinlich bis zu hundert Mal, mit Sieb und Schaufel und mit endloser Geduld. Sie wusste, sie war den Jungs etwas schuldig.

Sie begrüßte den Leiter der Einheit, der sich als Bert vorstellte. Er war bestimmt zwei Meter groß, trug die Haare kurz geschnitten, aber auch einen aus der Zeit gefallenen Schnauzbart. Er führte sie zu einem Tisch, auf dem die Fundstücke aufgereiht waren. Leere Getränkedosen, Anglerhaken, ein linker Turnschuh, eine noch geschlossene Fischkonserve. »Aber deswegen hatte ich nicht angerufen. Das hier. Das ist uns da gerade ins Netz gegangen.«

Auf einem Teller am Ende des Tisches entdeckte sie ein flaches Metallstück. Nicht eingerostet, sondern blinkend neu. Ein einzelner einfacher Schlüssel, oben glatt, unten ein gezackter Bart. Sie erinnerte sich an die Flugbahn des Gegenstandes, den Anna vor ihrer Festnahme weggeworfen hatte. Ja. Das könnte es gewesen sein.

»Für ein Schließfach?«, vermutete Bert.

»Der könnte für alles sein.« Keine Markierungen, nichts, das auf Herkunft oder Verwendung hindeutete.

Nein, Anna hatte nicht irgendeinen Schlüssel weggeworfen. Genauso wenig, wie sie die Frau nicht zufällig im Hafen aufgegriffen hatten. Sie war sich des Risikos bewusst gewesen, das sie beim Verlassen ihres Verstecks eingegangen war. Vielleicht hatte sie im Hafen jemanden besucht, den sie nicht verraten wollte. Oder sie hatte selbst irgendwo dort einen Unterschlupf, auf einem der Schiffe.

Sie dachte an das Boot ihres Opas. Auch das war nicht sonderlich gut gegen Einbruch gesichert gewesen, nur ein einfaches Vorhängeschloss hatte das Eingangsschott zur Kajüte gesichert.

Der Schlüssel, davon war sie überzeugt, gehörte zu einer der Jachten. Und über die Jacht, das wurde ihr schlagartig klar, würden sie auch an Anna herankommen. Durchbruch, dachte sie.

So gut wie, aber noch nicht ganz. Noch immer war der Hafen wegen Skûtsjesilen beinahe voll belegt, teilweise machten die Jachten sogar aneinander fest. Hunderte Schiffe hatten dort ihren Liegeplatz. Sie mussten die Suche priorisieren. Zuerst die Gastlieger, die Schiffe mit einem anderen Heimathafen, und die gecharterten Schiffe. Und als Anhaltspunkt hatten sie nur einen Schlüssel. Es würde verdammt lange dauern, ihn an jedem Schiff im Hafen auszuprobieren.

Sie forderte bei Malin eine Streife an, die diese Arbeit erledigen musste. Ja, sie würde für die Vorgehensweise die Verantwortung tragen, beruhigte sie ihn. Sie wusste, was er meinte. Wenn es gut ging und tatsächlich eines der Schiffe der Unterschlupf war, dann würden sie sich gegenseitig auf die Schulter klopfen. Aber wenn sie keinen Treffer erzielten, dann würde man ihnen die Hölle heißmachen. Das war dann wie Hausfriedensbruch im großen Stil. Egal. Sie dachte an das Verhalten von Anna. Jede Minute zählte.

Auf der Wache traf sie Marten. Der Kollege war nicht an das Handy gegangen, als sie ihn wegen des Schlüssels angerufen hatte. Wer nicht will … hatte sie gedacht. Wenigstens hatte sich Marten mal wieder rasiert, ansonsten wirkte er allerdings genauso zerknittert wie in den letzten Tagen. Wieder einmal ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass der junge Kollege diesem Mordfall nicht gewachsen sein könnte. Kein Wunder, sein erster Mordfall und dann gleich so was. Wie war er überhaupt so früh zu seiner hohen Stellung gekommen?

»Ich habe eine schlechte Nachricht.« Er schlurfte zur Kaffeemaschine, die gerade durchgelaufen war, und entsorgte den Filter. »Zucker? Milch?«

»Schwarz. Was ist denn los?«

Müde füllte er die beiden Kaffeebecher, seinen fast bis zum Rand. »Ein Anruf aus Sylt, von der Leiterin der Wache dort, Hauptkommissarin Pløen. Sie hat Walther von den Ermittlungen entbunden.«

»Was, warum denn das? Er hat doch gute Arbeit geleistet, oder?« Sie nippte am Kaffee. Frisch gebrüht und heiß. So wie sie ihn mochte.

»Hm, das wissen wir jetzt nicht mehr so genau.« Auch Marten nahm einen Schluck. »Max Walther hatte ein Verhältnis mit Veronika Seidel. Es ist wohl zufällig rausgekommen, weil er offensichtlich die Liste der Handyverbindungen der Ex-Frau manipuliert hat, die er danach dem Analystenteam hatte zukommen lassen. Denen sind dann Unstimmigkeiten aufgefallen, und dann hat Pløen die Orginalliste eingesehen, da ist es rausgekommen.«

»Und?«

»Na ja, noch nichts. Aber wir können uns auf nichts verlassen, was Walther ermittelt hat. Der Fall muss komplett neu aufgerollt werden. Pløen hat das jetzt zur Chefsache erklärt und Walther sogar vorläufig unter Arrest gestellt.«

»Was für eine Sch…«

»Walther beteuert seine Unschuld und dass er nur die Beziehung verstecken wollte, wegen seiner eigenen Ehe.«

Iska dachte an den untersetzten Mann mit den Koteletten, der ihr immer etwas ungelenk, aber doch so grundehrlich vorgekommen war. Hätten sie es selbst bemerken müssen, dass er sie hinterging? »Meinst du, er hat was mit dem Mord zu tun?«

Marten zuckte mit den Schultern. »Pløen schließt nichts aus. Es gab wohl schon öfters Gerüchte um Veronika Seidel, und angeblich war er nicht ihre erste Affäre. Wie auch immer, bisher hat Pløen keine anderen unterschlagenen Spuren gefunden. Aber die Ermittlungen fangen noch einmal bei null an. Und haben natürlich einen Beigeschmack.«

Mussten sie nun auch ganz von vorne anfangen? Nein, erst einmal nicht. Die Ergebnisse aus Sylt passten weiterhin zu den anderen Fakten. Vielleicht war das nur ein Zufall. Sie glaubte nicht an eine Beziehungstat.

»Ich habe eine gute Nachricht.« Sie berichtete vom Fund am Hafen.

»Wenigstens etwas. Hoffentlich sind die Kollegen im Hafen schnell genug.«

Dann klingelte ihr Handy. Als sie wieder auflegte, musste sie ihrem deutschen Kollegen sagen, dass die Hoffnung vergebens gewesen war.