»E ine Kollegin wollte Mika Gronsteden heute Morgen zur Arbeit abholen. Sie hat nicht aufgemacht, und sie ist nicht ans Handy gegangen, obwohl man es sogar von draußen hören konnte. Sie hat sich Sorgen gemacht und schließlich die Polizei gerufen. Die Kollegen haben sich sofort an die Warnung erinnert, die sie ihr gestern überbracht hatten, und uns Bescheid gegeben.«
Dijkstra, die Ermittlungsleiterin, führte sie ins Wohnzimmer. Iska sah auf den leblosen Körper hinab. Der ganze Raum roch nach altem Blut. Tod durch Kopfschuss, It hert sûnder ferrie , sorgfältig in den Oberkörper geritzt. Noch immer saß Gronsteden dort auf dem Sofa. Sie hatte den Tod erwartet. Ein Glas war aus ihrer Hand gerutscht, ein Teil des Drinks hatte sich über ihre Hose verteilt, aber es hatte sie wohl nicht mehr gestört.
»Keine Gegenwehr«, bestätigte Marten ihre Vermutungen. »Als hätte sie gewusst, dass sie keine Chance haben würde.«
»Wie die anderen Opfer auch«, stimmte sie ihm zu. »Gibt es Einbruchspuren?«
»Keine.« Die Leeuwardener Kollegin ging zu der Kommode, auf der ein dreckiger, rötlich grauer Kieselstein und ein silberner Sicherheitsschlüssel lagen. Zwei lange Rillen mit punktförmigen Vertiefungen, ein ganz anderer Schlüssel als der, den Bert aus dem Wasser gezogen hatte. »Aber das war vielleicht auch gar nicht nötig. Wir gehen davon aus, dass der Mörder sich hiermit Zutritt verschafft hat.«
»Klingt nach sehr gut ausgekundschaftet?«, vermutete Marten.
»Vielleicht. Oder aus dem engeren Umfeld«, antwortete ihm Iska. Die vorschnellen Vermutungen ihres Kollegen gingen ihr mal wieder auf die Nerven. Sie wandte sich an die Kollegin. »Gibt es bisher irgendwelche Besonderheiten?«
»Wir sind noch dabei, den Tathergang und ihre letzten vierundzwanzig Stunden zu rekonstruieren. Es war wohl alles ganz normal, wie es scheint.« Sie zögerte kurz. »Was vielleicht interessant ist: Bei ihrem Handy ist zwar die Bildschirmsperre aktiviert, aber wir haben schon den Verbindungsnachweis vom Provider erhalten. Eine knappe Stunde vor ihrem Tod wurde sie noch einmal angerufen. Wir analysieren das.«
»Danke.« Iska musste an die Kontakte zu Prepaidhandys denken, die auch Joost Seidel und Duuk Mulder kurz vor ihrem Tod gehabt hatten.
»Was wissen wir eigentlich über das Opfer?«, fragte Marten leise.
»Mika Gronsteden ist hier in Fryslân eine Bekanntheit. Sie hatte den Vorsitz im Interfriesischen Rat inne, eine Art länderübergreifende Interessenvertretung der Friesen in Deutschland und den Niederlanden. Außerdem stand sie der Sektion West vor, dem Rat der westlauwersschen Friesen, im Kern die Friesen der Provinz Fryslân.«
»Hatte sie Feinde?«, fragte Marten.
»Feinde? Na ja. Es ist ein wenig komplizierter. Ich erkläre es dir gleich.« Iska wandte sich wieder Dijkstra zu, die unruhig ihrer Diskussion gelauscht hatte. »Gibt es denn irgendwelche anderen Spuren?«
»Nein. Nichts. Sobald wir etwas wissen, gebe ich Ihnen Bescheid.«
»Okay, danke. Wir sehen uns mal um.«
Das ganze Haus war klein, behaglich, heimelig. In der oberen Etage befand sich ein großes Bad, ein Schlafzimmer und das Arbeitszimmer. Iska setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Durch das Mansardenfenster konnte sie den Oldehove sehen, der unvollendete massive Kirchturm war das bekannteste Wahrzeichen Leeuwardens, auch weil er sich ähnlich neigte wie der Schiefe Turm in Pisa. Mika hatte bestimmt gerne hier gesessen. Sie hatte das Friesischsein gelebt.
»Sie ist das erste weibliche Opfer«, stellte Marten fest. »Bisher waren es ausschließlich Männer. Ich hatte mir schon so etwas wie einen ehrenhaften Kampf oder so als Motiv vorgestellt. Die Täter verschonen absichtlich Frauen und Kinder, aber Männer gelten als feindliche Kämpfer.«
»Ja, hätte sein können. Aber ich denke, in der Logik der Täter war sie ein legitimes Ziel.«
»Das musst du mir jetzt erklären.«
»It hert sûnder ferrie . Das ist es. Ganz grob kann man politisch zwei friesische Strömungen unterscheiden. Eine große Mehrheit der Friesen sieht sich als Niederländer beziehungsweise Deutsche oder Dänen, je nachdem, wo sie wohnen, mit zusätzlich friesischen Wurzeln.«
»So wie die Bayern oder die Sachsen in Deutschland, meinst du?«
»So ähnlich. Und dann gibt es eben noch die Nationalfriesen, die das eher andersherum sehen. In Nordfriesland sind das die Nationalen Friesen, hier in Fryslân die Fryske Nasjonale Partij , die für mehr friesische Autonomie eintritt. Oder die Groep fan Auwerk, die sogar Abspaltungsbestrebungen hat.«
»Und Mika Gronsteden?«
»Ganz klar auf der Seite der Mehrheit.« Sie räusperte sich. »Aber sie gilt wohl einigen als zu angepasst, zu modern. Ich habe das nicht immer ganz verfolgt, aber die wenigen Separatisten haben ihr das durchaus übel genommen.«
»Sie sahen sie als eine Verräterin?« Langsam schien Marten die Dimension des Mordes zu erkennen. »Das ist nicht gut.«
»Das ist eine politische Bombe«, verbesserte sie ihn bitter. Erst recht, wenn die fünfte Zeile von Radbods fjoer in die Brust geritzt war.
Müde wippte sie im Stuhl. Hinter dem massiven Oldehove lachte die Sonne über blauem Himmel. Es war, als würde sie sie auslachen. Hinter dem Oldehove lag ein Polizeirevier. Da mussten sie jetzt als Nächstes hin.
Als sie das Haus verließen, lagen bereits die ersten Blumengestecke neben dem Eingang, Grablichter flackerten in ihren roten Behältern. Menschen standen schweigend auf der Straße. Langsam bahnten sie sich mit Marten einen Weg durch die Trauernden.
»Wir haben fünf Morde in fünf unterschiedlichen friesischen Regionen und keine Verbindung zwischen den Opfern oder möglichen Tätern. Wahrscheinlich wurde jedes der Mordopfer durch eine Person in ihrem unmittelbaren Umfeld getötet. Die Mörder hinterlassen eingeritzte Botschaften, die zusammen eine Art Gedicht ergeben, das zumindest an einen alten friesischen Aufstand erinnert oder sogar zu einem neuen aufruft. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja, das sind die wesentlichen Punkte«, antwortete Marten seinem auf dem zweigeteilten Bildschirm zugeschalteten Chef. Ihm war anzumerken, wie sehr ihm das alles zusetzte. Er tat Iska irgendwie leid. »Es fällt schwer, das zu glauben, aber so sieht es aus.«
»Insgesamt spricht alles für ein politisches Motiv«, ergänzte sie. »Was genau ihr Vorhaben ist, wissen wir nicht, auch nicht, wie sie sich gefunden haben. Vielleicht über die sozialen Medien, vielleicht kennen sie sich schon länger. Das könnte man vermuten, wenn man sich die Liste mit den alten Familien anschaut. Ich denke, es sind dezentrale Zellen, die ihre Aktionen für diese Mordserie koordinieren. Jede der Zellen ist äußerst gut organisiert und schlägt in der ihr bekannten Umgebung zu. Wegen Radbods fjoer gehen wir davon aus, dass es mindestens zwei weitere Zellen gibt, die weitere Morde geplant haben. Nummer sechs und sieben. Aber wer weiß …« Marten zuckte ein weiteres Mal zusammen. »… Wer weiß, wie viele es tatsächlich am Ende sein werden. Was passiert, wenn die letzte Zeile … zitiert wird. Wenn Radbods fjoer brennt.«
»Mein Gott«, kommentierte Kupernik. »Das darf doch nicht wahr sein.« Sie sah, wie er sich zurücklehnte, mit der Hand imaginären Schweiß von der Stirn wischte. Dann sprach er endlich die Worte aus, die er schon längst hätte sagen sollen: »Frau van Loon, Sie haben recht, wir haben keine Wahl. Wir müssen die Situation so annehmen, wie sie ist, alles andere wäre fahrlässig.«
Dirk auf der anderen Seite des Bildschirms blickte düster in die Kamera. Anders als Kupernik trug er kein Hemd, sondern ein schwarzes Poloshirt. »Wir müssen die Bevölkerung warnen. Können wir Ziel, Ort oder Zeit des nächsten Mordes irgendwie eingrenzen? Und so, dass wir nicht ganz Friesland in Panik versetzen?«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Zeit. Ich gehe davon aus, dass wir noch etwas Zeit haben. Mit etwas Glück.« Marten sprach sehr leise. »Es ist nur eine Vermutung. Aber bisher sind zwischen den einzelnen Morden mindestens sechzig Stunden vergangen. Dann haben wir noch etwas mehr als einen Tag, bevor … Wir haben Ansätze, vielleicht gelingt es uns noch, etwas durch Anna zu erfahren. Äh, ich meine die unbekannte Frau, die wir in De Lemmer festnehmen konnten. Wir vermuten, dass sie uns zu den anderen Zellen führen könnte.«
»Okay. Jede Organisation hat einen Kopf, der die anderen Zellen koordiniert. Den müssen wir finden. Dann finden wir auch den Rest.« Dirk schwitzte. »Nutzen wir die Zeit, versuchen wir es zumindest. Was tut sich mit der Frau?«
»Wir arbeiten dran. Wir wissen nicht, was das bringen wird.« Iska passte Martens Lavieren nicht. Sie ließen wertvolle Zeit verstreichen. Es wäre besser gewesen, die Öffentlichkeit jetzt schon zu informieren. »Sie verweigert weiterhin jede Kooperation. Ihre Identität ist noch nicht geklärt. Polizeilich ist sie nicht erfasst.«
»Haarprobe und DNA -Test?«
»Sind gemacht, Auswertung steht noch aus. Vielleicht finden wir etwas darüber. Ich fürchte aber, unsere beste Chance ist, dass dieser Schlüssel uns weiterbringt.«
»Gut. Bitte halten Sie sich ran.« Er wischte sich über die Stirn. »Ich werde schon mal das Ministerium über unseren Verdacht vorwarnen. In spätestens vierundzwanzig Stunden müssen wir die Öffentlichkeit darüber informieren. Ich will mir gar nicht ausmalen, was da auf uns zukommmt. Aber bis dahin halten Sie, wenn es irgendwie geht, die Presse von dem Fall fern. Und wie gesagt, jede Sekunde zählt.«
»Gibt es eigentlich noch irgendwelche Indizien, die für Ihre Serienmörder-Theorie sprechen, Herr Jaspari?«, fragte Kupernik Marten mit trockener Kehle.
»Nein.«
»Es tut mir leid, auch ich muss jetzt handeln«, schloss Kupernik. »Ich schalte gleich nach diesem Gespräch das Bundeskriminalamt ein. Das ist leider überfällig. Informieren Sie Ihre Kollegen, Jaspari, und bereiten Sie eine geordnete Übergabe vor. Ich gehe davon aus, dass das BKA den Fall übernimmt.«
»Natürlich.« Marten hatte mit lauter und fester Stimme gesprochen, aber Iska kam es so vor, als ob er dafür seine letzte Kraft gebraucht hatte.