Der nächste Tag ist ein Samstag. Ich verlasse das Hotel früh und kaufe ein Wegwerftelefon, mit dem ich einige Anrufe tätige. Der erste geht an David Loyd. David ist ein Yachtmakler, mit dem ich in der Vergangenheit den einen oder anderen – ungewöhnlicherweise einvernehmlichen – Deal gemacht habe. »Hast du ein Boot auf deiner Liste, das in der Lage ist, den Weg nach Cornwall zu schaffen?« »Was für eine Frage«, sagt er. »Was selbstverständlich ja heißt. Natürlich habe ich das. Es ist eine Twister, ein wirklich schönes Stück in bestem Zustand.«
»Aber es bedarf noch einiger kosmetischer Handgriffe, um sie für die nächste Saison fit zu machen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Wo ist sie?«
»Swansea Marina.«
»Und wird der Eigner sie nutzen wollen?«
»Nur, falls er von den Toten wiederaufersteht.«
Sie sind nicht sehr kirchlich orientiert, diese walisischen Yachtmakler. Ich sage: »Dann würde ich gern einen kleinen Testtörn mit ihr absolvieren, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Nein, kein bisschen«, sagt er.
Wir leihen uns also Ölzeug, kaufen ein paar Jeans und nehmen den Zug. Während wir die Südküste von Wales entlangrollen, nehme ich mir mein neues Telefon unter besonderer Berücksichtigung der Nachrichten vor. Es müsste eigentlich ein ziemlich großes Aufsehen infolge einiger Morde in der Irischen See gegeben haben. Doch da ist nichts. Auch keine Meldung über einen gestohlenen Morris Minor, was vermutlich keine Überraschung ist, weil der Diebstahl eines Morris Minor nicht besonders schlagzeilenträchtig ist. Das totale Stillschweigen aber bestätigt meine Erkenntnis, dass Charles in etwa so aufrichtig ist wie Wachs in der Sonne. Bei meinen Gedanken daran, mit welchen Mächten er sich zusammengetan hat, bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen. Aber der einzige Weg da raus ist immer noch vorwärts. Wir werden allerdings Beweise sichern müssen.
Also rufe ich die britische Steuerbehörde HMRC an und lasse mich mit dem Zoll verbinden. Als ich endlich eine Frau am Telefon habe, sage ich ihr, dass sie ein Auge auf die KATY JANE haben soll, weil sie zwei Container mit gestohlenem und unverzolltem Whisky an Bord hat. Als die Stimme mich nach meinem Namen fragt, lege ich auf und schalte das Telefon für alle Fälle aus. Der Zug fährt in Swansea ein. Wir steigen aus und in ein Taxi ein. Dem Fahrer sagen wir, dass er zuerst an einem Laden für elektronisches Spielzeug Halt machen und uns dann irgendwo hinfahren soll, wo wir Sandwiches kaufen können. Nach Beendigung unserer Einkäufe fahren wir weiter zur Marina.
Die Marina von Swansea ist gar nicht mal so übel. Wie so viele Marinas dieser Tage ist auch sie in eine Reihe mäßig malerischer viktorianischer Docks hineingebaut worden. Zwischen dicht gedrängten Reihen von Booten gehen wir einen Ponton runter. Die Boote sind alle leer. Der Himmel ist so grau wie die Streifen Wasser, die zwischen den Rümpfen zu sehen sind. Unser Boot ist etwa auf halbem Weg den Ponton runter festgemacht. Es heißt HERCULES und ist eine Twister. Eine Twister ist eine charmante Segelyacht. Ihr Design entstammt einem früheren und eleganteren Zeitalter, aber sie kann es immer noch mit den modernen weißen Plastikwohnwagen mit Kiel darunter aufnehmen. Mein Maklerkollege hat sie als in gutem Zustand beschrieben. Das ist eine Stufe besser als »braucht Liebe und Zuneigung« und bedeutet, dass aktuell zwar nichts wirklich verrottet, sie aber eben auch nicht in großartigem Zustand ist. Die Teile der Decksausrüstung, die nicht grau sind, sind grün. Das Gleiche gilt für die Fallen und Leinen, die von der Rollreffanlage nach hinten laufen. Aber als Bettler hat man schließlich keine Wahl. Wir gehen an Bord und schieben die Luke des Niedergangs auf. Eine Wolke aus Dieselgestank und Schimmelmuff kommt uns entgegen. Der Schlüssel ist rostig, lässt sich aber mithilfe von etwas WD-40 ins Schloss stecken. Der Motor keucht wie ein Asthmatiker, springt dann an und stößt eine graue Rauchwolke aus. Ich sage: »Nicht schlecht.«
Tamara sagt: »Was ist nicht schlecht?«
»Lass es doch einfach.«
»Was lassen?«
»Ach, egal.« Ich löse die Springe, steige dann auf den Ponton und mache auch die Bug- und die Heckleine los, gebe mittels Gashebel achteraus und fahre rückwärts in freies Wasser. Dann gebe ich ein bisschen Gas voraus, drehe das Ruder hart Steuerbord, und schon gleiten wir durch die von parkenden Booten und dem Kai gesäumte Wasserallee. Dann fahren wir in die Schleuse ein, und das Wasser wird abgelassen. Die Tore öffnen sich, und wir düsen die lange Reihe der Bojen entlang, die den ausgebaggerten Kanal über die khakifarbene Swansea-Bucht markieren. Der Wind kommt aus Süden, und der Tidenstrom fließt nach Westen. Ich übergebe Tamara die Pinne. »Ich ziehe ein paar Segel hoch«, sage ich.
»Ist Motor kaputt?«
»Das hier ist ein Segelboot«, sage ich. »Der Motor ist klein. Und das gilt auch für den Tank. Der Motor wird nur dafür genutzt, in Häfen einzulaufen oder sie wieder zu verlassen. Ansonsten segeln wir.«
Tamara schaut mich mürrisch an und sagt: »Primitiv.«
»Tut mir leid, dass du so denkst«, sage ich, »und jetzt steuere.«
Zuerst schwoit das Boot auf den Wellen hin und her, dann aber kriegt sie es in den Griff, und ich gehe zum Mast und setze das Großsegel, das einen Hang zu Schimmel, aber trotzdem noch Ansätze seines ursprünglichen Profils aufweist. Ich belege das Großfall, gehe nach achtern, löse die Kontrollleine für die Rollreffanlage und ziehe die Schot an. Die Genua rollt mit einem Knall aus. Ich kurbele sie dicht, nehme auch die Großschot dicht und unterbreche die Dieselzufuhr. Es wird still, abgesehen vom Gurgeln der Heckwelle. Das Deck holt über, als der Segeldruck zunimmt, und das Gegurgel wird lauter. Tamara sieht nervös aus und krallt sich am Süllrand fest. »Warum liegt Boot so schief?«, fragt sie.
»Weil Segelboote das nun einmal so machen«, sage ich.
»Mir das nicht gut gefallen.«
Ich nicke. Es ist fast eine Erleichterung, etwas gefunden zu haben, das sie einschüchtert. Wir kommen jetzt stärker in den Tidenstrom, während das Land hinter uns langsam verschwindet. Das Wasser im Bristolkanal ist wie üblich schlammig braun. Als der Strom gegen den Wind läuft, entstehen kleine, steile Wellen. Der Bug erhebt sich auf der ersten von ihnen, knallt ins Wellental und schickt einen Schwall Dreckwasser übers Deck. Tamara ist blass geworden. »Ich gehe unter Deck«, sagt sie und verschwindet im Niedergang. Ich richte mich im Cockpit ein, klemme mir die Pinne unter den Arm und beobachte, wie die flache Küstenlinie von Ex- moor über den Bug ansteigt. Es wird eine lange harte Nacht werden.
Und das wird sie tatsächlich. Tamara scheint keinen Appetit auf Sandwiches zu haben, was mir eine große und höchst attraktive Auswahl beschert. Sie bleibt unter Deck, und ihre einzige Störung besteht darin, dass sie in den Eimer kotzt, den ich ihr neben die Koje gestellt habe. Der Wind dreht auf Südost. Die Sonne geht unter, und am Himmel erscheinen die Sterne. Das weiße Blinken des Leuchtturms von Lundy kommt und geht. Die Tide kippt, aber so weit unten im Kanal sind die Strömungen nicht mehr so stark und störend. Das Boot segelt wunderbar, und die saubere Heckwelle entfernt sich flüsternd, während wir Meile um Meile inhalieren. Wir erleben das, was irgendwelche Idioten vielleicht Champagnersegeln nennen würden. Oder vielleicht wären es auch gar keine Idioten, sondern bloß jemand, der nicht gerade vorhat, einen gemeingefährlichen und gut bewaffneten Oligarchen zu besuchen und ihm ein paar rüde Fragen zu stellen.
Die Brise ist jetzt moderat. Die Dämmerung erhebt sich blass und unschuldig über meine linke Schulter. Ich bin müde, was sehr schade ist. Denn mit dem zunehmenden Licht sehe ich, dass sich die Farbe der See vom Braun des Bristolkanals in ein sauberes und transparentes Grün verwandelt. Um 9 Uhr morgens schält sich, noch etwas verschwommen, der Buckel von Gulland Rock vor uns über die Kimm.
Ich rufe den Niedergang runter: »Wir sind bald da!«
Tamara stöhnt und bewegt sich nicht. Ich gehe unter Deck, mache mir auf dem kleinen Gaskocher einen Kaffee und flüchte wieder ins Cockpit, weil der Gestank nach Erbrochenem doch heftig ist.
Der Wind zeigt keinerlei Anzeichen für ein Auffrischen. Ich steuere uns unter Land. Bis Hochwasser sind es noch drei Stunden. Das ist praktisch für die Passage über die Sandbank Doom Bar und in den Hafen von Padstow. Sanft bewegen wir uns zwischen den Rayner Rocks und Pentire Point, passieren dabei einige Stecknadelköpfe der Surfer von Polzeath, die außerhalb der Brandung in den Wellen spielen, und segeln weiter bis zur Ansteuerungstonne in der Kanalmündung, die sich rot vor dem frischen Grün der See abzeichnet. Dann erreicht uns der übliche Geruch von Land mit Noten von Honig, Rauch aus der Holzverbrennung und den Abgasen der Autos. Ich rolle das Vorsegel ein, und wir fahren die Flussmündung hoch, die auf den Hängen auf beiden Seiten von Häuserreihen besetzt ist. Ich sage: »Tamara?«
Sie kommt an Deck, ist immer noch blass, aber nicht mehr grün. »Die Wellen sind weg«, sage ich.
»Gut«, sagt sie. »Hast du Sandwich?«
Ich gebe ihr ein Sandwich. Langsam bewegen wir uns auf die Schleusentore des Hafens von Padstow zu, ankern eine Weile, fahren rein und machen längsseits des Kais fest. »Ist vorbei«, sagt Tamara, »danke Gott.«
Ich nicke, wenngleich ich nicht mit ihr einer Meinung bin. Denn es ist noch nicht vorbei. In Wirklichkeit fängt es gerade erst an. Ich sage: »Es ist Zeit, dass wir uns vorbereiten.«
Sie geht los und holt die Tüte aus dem Elektronikladen. »Zieh Hemd aus«, sagt sie. Eine halbe Stunde später sitzen wir auf der Fähre, die uns über die Flussmündung bringt.
Vor langer Zeit war Stone noch als Trebothnan Down bekannt. Damals war es ein eher kahler Hügel, von dem aus man einen schönen Ausblick über einen Teil des wilden Atlantiks hatte. Kaum etwas gedieh auf den wenig fruchtbaren und salzverbrannten Ackerflächen. Die einzigen Besucher waren entweder verrückte Romantiker oder hungrige Ortsansässige, die darauf hofften, dass die regionalen Stürme, die zuerst aus Südwest kamen und dann mit überraschender Gewalt auf Nordwest drehten, ein Schiff auf die harte und brutale Sandbank auflaufen ließen, die ansonsten die Flussmündung schützt. In den 1920er-Jahren errichtete dann eine Gruppe von Vordenkern aus dem Landesinneren etwas außerhalb des Zentrums eine Ferienhaussiedlung. Sie begannen, sich gegenseitig zu Cocktailpartys und anregenden Gesprächen über schöngeistige Themen einzuladen. Diese eher großen und komfortablen Häuser verfügten über einen herrlichen Meerblick. Über die kommenden drei Generationen erwarben sie sich mit ihrer Eleganz einen Ruf, der weder Hochglanzmagazinen noch Immobilienmaklern entging. Beide haben verstanden, dass es nicht Sex oder Geld sind, die den belebenden Impuls für das britische Leben geben, sondern der Snobismus. Schon bald wechselten die Häuser für Millionen von Pfund ihre Besitzer. Womit sie für die Nachkommen der Schöngeister außerhalb jeder Reichweite rückten. Bauunternehmen, die daraus Kapital schlagen wollten, gelang es, die örtliche Gesetzgebung zu umgehen und das zu bauen, was die gierigen Haie an Land in ihren großformatigen Anzeigen im Magazin Country Life als Prestigeresidenzen bezeichneten, die in den ehemaligen Gärten der Ferien-Cottages entstanden. Heutzutage sind die Fuchsienbüsche durch modernen Überwachungskameras ersetzt worden. Rigorose Kindermädchen in Begleitung von Bodyguards und der vornehme Akzent von Geld aus Übersee prägen das Bild. Als wir die Fähre verlassen und die sandige Straße durch die Reihen der pompösen und überdimensionierten Häuser hochgehen, wird mir klar, dass dieser Ort nicht zu meinen Favoriten zählt.
Tamara, die an einem Gebäude aus grünlichem Flachglas mit zu vielen Stockwerken hochschaut, scheint das auch nicht zu gefallen. Doch wie immer kreisen ihre Gedanken um den Job. »Ist alles bereit?«, fragt sie.
»Alles bereit«, sage ich. Und das ist es: Das Mikrofon steckt im Saum meines T-Shirts, sein Kabel überträgt das Signal auf das iPhone in meiner Tasche, und der Hohlraum in meinem Magen hat inzwischen die Ausmaße einer Kohlegrube. »Wohin gehen wir?«
Wir biegen rechts in einen Sandweg ein und kommen an ein eisernes Tor in einer weißen Wand. »Hier.«
Am Torpfeiler befindet sich eine Gegensprechanlage. Ich drücke auf den Klingelknopf. Durch den Lautsprecher sagt eine Stimme: »Ja?«
»Ich bin hier, um Mister Gruskin zu sprechen.«
»Haben Sie Termin?«
»Nein.«
»Warten Sie.« Es entsteht eine kleine Pause, vielleicht zur Rücksprache oder auch, um uns über die Kamera genauer unter die Lupe zu nehmen, was wir nicht erkennen können. Tamara hat ihre Hüfte anmutig in Positur gebracht und lächelt in die Kamera, vibriert aber leicht nervös. Dann sagt die Stimme: »Kommen Sie.« Einer der Torflügel schwingt auf.
Die geteilte Auffahrt führt in einer Richtung zu einigen Garagen und in der anderen zum Eingangsbereich eines Hauses, das wie ein grüner Glaskasten aussieht. Tatsächlich ist es ein Bungalow. Allerdings ein Bungalow, der vor architektonischer Tinte nur so trieft. Ein Surfboard in Kindergröße lehnt an der Glasveranda. Es hätte diesem Ort eine Art heimeliges Gefühl geben können. Doch an diesem Haus ist herzlich wenig heimelig. Und das schon, bevor man berücksichtigt, dass es die Residenz eines Menschen ist, auf dessen Geheiß wir eigentlich, eingesperrt in einen undichten Container, in der Irischen See hatten versenkt werden sollen.
Wir stehen an der Tür, die sich nun öffnet. Ein großer Mann versperrt uns den Eingang. Es ist die übliche Sorte von großem Mann mit schwarzem Anzug, schwarzem Haar und den dazu passenden Augen. Tamara sagt etwas zu ihm in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Der Mann gibt etwas zurück und nimmt plötzlich einen respektvollen Ausdruck an. »Ich ihm erzählt«, sagt Tamara, »dass du mein Freund bist und ich enge Partnerin von Mister Yusupov, der ist Feind, aber reicher Feind, also verdient Respekt. Und was kann schon passieren hier in England?«
»Ja, was nur«, sage ich und denke dabei an Container.
Der Mann führt uns durch eine Art gewölbte Konstruktion, die von einer Pflanze überwuchert wird. Während Tamara hindurchgeht, erkenne ich mit zunehmend flauem Gefühl im Magen, dass es sich um einen Metalldetektor wie auf einem Flughafen handelt. Ich gebe dem Schläger mein Messer und mein Telefon, gehe durch und warte auf den Alarm. Aber nichts passiert. Der Detektor muss außer Betrieb sein. »Kommen«, sagt der Schläger, gibt mir das Telefon zurück und vollführt eine »Da-geht’s-lang«-Geste, die wirkt, als hätte er sie bei einem zweistündigen Butlerkurs erlernt. Wir verlassen die Halle und kommen in einen großen Raum, auf dessen einer Seite sich ein Fenster befindet. Ich fummle in meiner Tasche rum, um den Stöpsel vom Mikrofon wieder ins Telefon zu bekommen. Es stehen ein paar Möbelstücke im Raum, von denen die meisten mit weißem Leder gepolstert sind. An den Wänden hängen gewaltige Gemälde mit trostlosen platten Landschaften, die vermutlich Russland darstellen. In einem der Stühle sitzt Mister Gruskin, den die Gemälde und auch die meisten Möbelstücke wie einen Zwerg wirken lassen.
Mister Gruskin trägt sein schwarzes Haar kurz geschnitten. Nahtlos geht es in die Stoppeln seines Dreitagebarts über. Sein Gesicht ist von schwarzen Mitessern übersät, als hätte ihn jemand mit Schießpulver gepfeffert. Seine Augen sind stumpf und schwarz wie Klumpen minderwertiger Kohle. Er trägt ein Tennisshirt und Shorts, die seine Knie entblößen. Sie sind so stämmig wie sein Kinn. Er schaut uns interessiert an, dreht sich dann weg und blickt aus dem Fenster auf ein Stück Rasen, auf dem Pampagras wächst. »Was wollen Sie?«, sagt er. Dieser Oligarch scheint nicht gerade von der charmanten Sorte zu sein.
Nun ist es an der Zeit für den Mitschnitt der Aufzählung seiner Taten, der mich bei der Polizei und auch bei Yusupov entlasten wird. Ich hole tief Luft und fange an. »Ihre Leute haben eine Menge Whisky gestohlen«, sage ich. »Ich will, dass Sie ihn zurückgeben.«
»Oh«, sagt er.
»Ich habe erkannt«, sage ich, »dass sie eine geschäftliche Auseinandersetzung mit Mister Yusupov ausfechten. Und dass der Whisky nur das ist, was Sie vielleicht als Gegenleistung empfinden. Ich würde allerdings gern darauf hinweisen wollen, dass ihre Aktionen bereits den gewünschten Effekt hatten und die Rückgabe des Whiskys für sie ohnehin bedeutungslos ist.«
»Oh«, sagt er und schaut auf seine Uhr. »Ich muss meine Tochter vom Strand abholen. Sie können mitkommen.«
Das entspricht in keiner Weise den Plänen, die ich gemacht habe. Gruskin zieht sich eine Windjacke über, und der Blödmann von Butler bringt uns raus zu einem Range Rover mit schwarzen Fenstern. Wir steigen alle ein, fahren die Auffahrt runter und weiter nach Polzeath. Der Strand ist voller Surfer. Südwind sorgt dafür, dass die Wellen hübsch hochschlagen. »Möchten Sie ein Eis?«, fragt Gruskin.
»Nein«, sagt Tamara mit der Stimme einer Unternehmenssprecherin. Das ist sehr bedauerlich, denn ich habe 30 Stunden nicht geschlafen und hätte gern einen doppelten Eiskaffee, um mich wach zu halten.
»Ich werde eins essen«, sagt Gruskin und steigt aus dem Auto. Ich will ihm gerade folgen, als der Schläger meinen Blick auffängt und seinen Kopf etwa einen Millimeter seitlich bewegt. Also bleibe da ich, wo ich bin, und überbrücke die Zeit damit, darüber nachzusinnen, dass es ziemlich schwierig ist, Gruskins Stimme auf Band zu bekommen. Bislang überwiegt das Risiko die Erträge bei Weitem.
Gruskin kommt zurück, lehnt sich an die Kühlerhaube des Wagens und leckt mit weißlicher Zunge an seinem Eis. Es ist ein Erdbeereis. Dann winkt er jemandem zu. Ein Mädchen kommt die Straße hoch. Es ist eher klein und dunkel, ein ganz gewöhnlich aussehendes, etwa zwölf Jahre altes Mädchen in einem sandigen Neoprenanzug. Neben ihm geht ein Mann, der zwei Surfbretter trägt. Es ist ein monströser Mann, etwa 2,13 Meter groß. Auch er trägt einen Neoprenanzug. Die Sonne Cornwalls lässt seinen kahl rasierten eiförmigen Schädel glitzern.
Violentin.
Plötzlich habe ich wieder dieses trockene Gefühl im Mund. Gruskin sagt etwas. Alle quetschen sich ins Auto. Gruskin stellt seine Tochter nicht vor. Violentin starrt aus dem Fenster. Dann schaut er über den Sitz in Tamaras und meine Richtung. Sein Gesicht verzieht sich zu einem einzigen riesigen Lächeln. »Gaviiiiin!«, sagt er. Gruskin sagt etwas auf Russisch. Das Lächeln verschwindet. »Kann nicht sein wahr«, sagt Violentin. Er starrt mich ernst an. »Gaviin? Sage mir, ist nicht wahr?«
»Was ist nicht wahr?«
»Dass du bist verdrahtet?«
Mein Herz macht einen solchen Satz, dass es bis nach Exeter zu hören sein muss. »Verdrahtet?«
»Aufnahmegerät«, sagt Violentin. Also hat der Metalldetektor doch funktioniert. Das Auto fährt den Hügel hoch und biegt rechts in den Sandweg ein, der zum Haustor führt. Draußen hinter den Fenstern des Wagens schnattern die Schulkinder der öffentlichen Schule miteinander. Hübsche Mädchen und surfende Beach Boys necken und jagen sich und genießen ihre Semesterferien. Trotz meiner Panik bemerke ich, dass Gruskins Tochter sie mit einer Verachtung beobachtet, die ihren Neid aber nur beinahe übertüncht. Alles ganz normal und zum Greifen nah. Doch auf unserer Seite der schwarzen Wagenfenster hat sich eine zähe Stille ausgebreitet, die von Salz, Sand und einem bevorstehenden Gewaltausbruch geschwängert ist. »Wir werden prüfen«, sagt Violentin mit neuer tonloser Stimme.
Das Auto nähert sich dem Tor. Es schwingt auf, und wir gleiten hindurch. Die Autoschlösser öffnen sich mit einem Ploppen. Gruskin und seine Tochter steigen aus und gehen ins Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Tamara folgt ihnen, niemand hält sie davon ab. Ich will gerade hinterhergehen, als mich Violentin mit seiner Hand wie eine Baggerschaufel an der Schulter packt. »Einen Moment«, sagt er und reißt mir das T-Shirt runter.
Ich nehme an, dass ich mich dagegen gewehrt habe, denn sein Handrücken wischt mir eine, was eine Art Bombenexplosion in meinem Kopf verursacht. Ich knalle mit dem Gesicht voran auf den Kies.
Violentin wühlt in den Überbleibseln meines T-Shirts. »Ja«, sagt er, »hier ist Draht. So dumm von dir, Gavin. Du bist exzellenter Seemann, aber scheiße mit das hier.«
»Mit was?«
»Gewalt«, sagt Violentin. »Du hast keine Fähigkeiten.« Zerstreut bohrt er seinen Zeh in mich. Als ich wenig später wieder atmen kann, sage ich: »Und ich dachte, dass du für Mister Yusupov arbeitest.«
»Tu mir Gefallen«, sagt Violentin. »Du weißt besser. Ich bin loyale Mensch. Aber nur zu dem, mir bezahlen großes Geld. Wenn er zerstört Mister Yusupov, ich kann als Bonus nehmen Missis Yusupov. Ich sehr lieben Missis Yusupov«, sagt Violentin.
»Und was geschieht jetzt?«, frage ich, nicht sicher, ob ich das wirklich hören will.
»Wassergrab, so sie nennen«, sagt Violentin. »Tut mir so leid.« Er schüttelt den Kopf, und ich erkenne eine Träne. Dann bückt er sich, zieht mich hoch und eine Betontreppe runter in eine Art Keller. Dort schleudert er mich in eine harte Betonecke. Ich krieche zurück und versuche die Tür zu öffnen. Sie scheint aus Stahl gemacht. Der Keller ist so dunkel wie das Innere einer Kuh. Ich lege mich auf den Boden. Violentin geht mit einer Effizienz zu Werk, die wirklich beunruhigend ist. Aber wie ich schon gesagt habe: Ich bin seit 30 Stunden wach. Statt mir Sorgen zu machen, schlafe ich ein.
Einige Zeit später öffnet sich die Tür. Mein Nacken ist steif, aber es zieht mich wie eine Motte zum Licht. Nicht, dass es viel Licht ist, denn Violentin steht im Eingang. Nur ein schwacher Schimmer findet seinen Weg zwischen ihm und dem Türrahmen hindurch in den Raum. »Hoch«, sagt er mit einer Stimme, die keinerlei freundliche Spuren mehr beinhaltet.
Ich komme hoch. Nun, da ich ein paar Stunden geschlafen habe, meldet sich die Todesangst in meinen Gedanken zurück. Heftiger als zuvor. Ich sage: »Wo gehen wir hin?«
»Interview mit Boss«, sagt Violentin. Er umgreift meinen Arm und führt mich die Treppe hinauf durch die Halle in das Wohnzimmer mit dem großen Fenster. Das junge Fräulein Gruskin sitzt an einem Tisch an der Wand und fuchtelt mit ihren Fingern herum. Das mag etwas mit der Virtual-Reality-Brille zu tun haben, die sie aufhat. »Da rein«, sagt Violentin und zeigt auf eine andere Tür. Ich gehe rein.
Es scheint ein Schlafzimmer zu sein. Es ist im Hugh-Hefner-Stil dekoriert, wenn man das denn Dekoration nennen will. In der Mitte befindet sich ein kreisrundes Bett, das möglicherweise sogar rotieren kann, obwohl es momentan stillsteht. Auf dem Bett liegen unter der klischeehaft schwarzen Satinbettdecke Mister Gruskin und Tamara. Gruskin scheint keine Kleidung zu tragen und sieht aus wie eine Kröte, die kürzlich aus dem Kohlenkeller emporgehüpft ist. Tamara hat ebenso wenig an und sieht aus wie ein slawischer Engel. Der Kontrast ist von überraschender Wirkung. Ich empfinde ihn als zutiefst beunruhigend. Meine Gefühle müssen mir ins Gesicht geschrieben stehen. Gruskin lacht und sagt: »Man nehme immer gern das Angebot einer Hure an.«
»Danke für diesen Rat«, sage ich und schaue dabei Tamara und nicht ihn an. Sie scheint leicht zu erröten und vermeidet den Blickkontakt.
»Und nun«, sagt Gruskin, »gehen wir an Bord meiner Yacht. Ich denke allerdings, dass einige von uns es nicht bis zum Ende schaffen werden.«
Tamara lacht über diese Demonstration von Herzlosigkeit, ob künstlich oder ernsthaft, das vermag ich nicht zu sagen. »Sie verstehen sicher, dass ich glaube, dass Sie falsch mit der Annahme lagen, dass diese Frau ihre Freundin ist«, sagt Gruskin. »Im Bett verfügt sie über herausragende Fähigkeiten. Aber im Alltag ist sie weniger zuverlässig. Ich wollte, dass Sie das sehen. Und sie wollte das auch.«
Ich merke, wie ich auf das Bett zugehe, um ihm den Schädel einzuschlagen. Da kommt schon Violentins Hand, und ich lande wieder einmal mit dem Gesicht auf dem Boden. Dieses Mal ist es ein Teppich. »Und nun«, sagt Gruskin, »bringt ihn aufs Boot.« Er langt über die Satinbettdecke und packt eine von Tamaras Brüsten. »Ich bin noch etwa eine Stunde beschäftigt. Dann segeln wir los.«
Ich liege mit klingenden Ohren auf dem Boden. Es besteht kein Zweifel daran, dass ich mich emotional auf diese Geschichte eingelassen habe. Zur Hölle, Tamara, das hättest du mir nicht so reinreiben müssen.
Über Geschmack lässt sich natürlich streiten. Dieser Mann ist ein Milliardär, was hilfreich ist. Vielleicht leidet sie auch an Sehnsucht nach dem einfachen Leben, obwohl ich dafür bislang keine Anzeichen wahrgenommen habe. Vielleicht aber (und das lässt einen winzigen Hoffnungsschimmer in mir aufkeimen, obwohl ich weiß, dass es nur Wunschdenken ist) setzt sie ihre persönlichen Waffen im Bett ein, um Gruskin aus der Deckung zu locken.
Violentin zerrt mich auf die Füße und aus dem Zimmer. »Frauen«, seufzt er und schüttelt den Kopf, während er mich in eine Art Badezimmer verfrachtet. »Schieb Ärmel hoch.«
»Was?«
»Ärmel.« Er zieht eine Spritze mit etwas Flüssigkeit aus einer Ampulle auf.
»Nein«, sage ich.
»Das ist nur ein bisschen Heroin mit Fentanyl«, sagt Violentin. »Hilft dir entspannen.«
»Nein«, sage ich. Er scheint sich zu bewegen, und etwas holt mich von den Füßen. Wieder gehe ich zu Boden, wo mir ein steinhartes Knie in den Nacken drückt und ich mich auf nicht eine Möglichkeit aus dem Nahkampftraining bei der Army besinnen kann, die jetzt hilfreich wäre. Ich spüre, wie er mir den Ärmel hochzieht. Um meinen Arm zieht sich etwas zusammen. Ich versuche mich zu bewegen, aber es scheint sich nicht mehr genügend Blut in meinem Kopf zu befinden. Dann spüre ich den Einstich der Nadel in meiner Armbeuge. Das zugezogene Ding an meinem Arm löst sich wieder, und das Knie wird weggenommen. Das Blut fließt wieder in Richtung Kopf, und mit ihm folgt eine warme Welle, die meine ganze Welt in rosafarbenes Licht taucht. Daraus wird ein Rot, das dunkler und dunkler wird, bis es sich in eine riesige schwarze Grube verwandelt. Ich taumle am Abgrund entlang, bis ich hineinfalle.