© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1966

Drifter Teil

Model le 207

I Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vermmft 209

II Zeitgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel 293

III Meditationen zur Metaphysik 352

Nadiweise 399

Notiz 407

Obersidit 408

Vorrede

Die Formulierung Negative Dialektik verstoBt gegen die Uber-lieferung. Dialektik will bereits bei Platon, da6 durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich herstelle; die Figur einer Negation der Negation benannte das spater pragnant. Das Buch mochte Dialektik von derlei affirmativem Wesen befreien, ohne an Be-stimmtheit etwas nachzulassen. Die Entfaltung seines paradoxen Titels ist eine seiner Absichten.

Was, nach der herrschenden Vorstellung von Philosophic, Grund-lage ware, entwickelt der Autor erst, nachdem er langst vieles ausgefuhrt hat, wovon jene Vorstellung annimmt, es erhebe sich auf einer Grundlage. Das impliziert ebenso Kritik am Grund-lagenbegrifF, wie den Primat inhaltlichen Denkens. Seine Bewe-gung gewinnt einzig im Vollzug ihr SelbstbewuBtsein. Sie bedarf des nach den stets noch wirksamen Spielregeln des Geistes Sekundaren.

Nicht allein wird eine Methodologie der materialen Arbeiten des Autors gegeben: nach der Theorie negativer Dialektik existiert kein Kontinuum zwischen jenen und dieser. Wohl aber wird solche Diskontinuitat, und was aus ihr an Anweisungen furs Denken herauszulesen ist, behandelt. Das Verfahren wird nicht begriindet sondern gerechtfertigt. Der Autor legt, soweit er es vermag, die Karten auf den Tisch; das ist keineswegs dasselbe wie das Spiel.

Als Benjamin, 1937, den Teil der >Metakritik der Erkenntnis-theorie< las, den der Autor damals abgeschlossen hatte - in jener Publikation das letzte Kapitel -, meinte er dazu, man miisse durch die Eiswiiste der Abstraktion hindurch, um zu konkretem Philosophieren biindig zu gelangen. Die Negative Dialektik nun zeichnet retrospektiv einen solchen Weg auf. Konkretion war in der zeitgenossischen Philosophie meist nur erschlichen. Demgegen-iiber will der weithin abstrakte Text ihrer Authentizitat nicht

Vorrede

weniger dienen als der Erklarung der konkreten Verfahrungsweise des Autors. Spricht man in der jungsten asthetischen Debatte vom Antidrama und vom Antihelden, so ktinnte die Negative Dia-lektik, die von alien asthetischen Themen sich fernhalt, Anti-system heiBen. Mit konsequenzlogischen Mitteln trachtet sie, an-stelle des Einheitsprinzips und der Allherrschaft des iibergeord-neten Begriffs die Idee dessen zu riicken, was auBerhalb des Banns solcher Einheit ware. Seitdem der Autor den eigenen geistigen Impulsen vertraute, empfand er es als seine Aufgabe, mit der Kraft des Subjekts den Trug konsumtiver Subjektivitat zu durch-brechen; nicht langer mochte er diese Aufgabe vor sich herschieben. Stringent iiber die offizielle Trennung von reiner Philosophie und Sachhaltigem oder Formalwissenschaftlichem hinauszugelangen, war dabei eines der bestimmenden Motive. Die Einleitung exponiert den Begriff philosophischer Erfahrung. Der erste Teil geht vom Stand der in Deutschland dominierenden Ontologie aus. Uber sie wird nicht von oben her geurteilt, son-dern sie wird aus dem seinerseits problematischen Bedurfnis ver-standen und immanent kritisiert. Von den Ergebnissen schreitet der zweite Teil fort zur Idee einer negativen Dialektik und ihrer Stellung zu einigen Kategorien, die sie festhalt sowohl wie quali-tativ verandert. Der dritte Teil dann fuhrt Modelle negativer Dialektik aus. Sie sind keine Beispiele; erlautern nicht einfach allgemeine Erwagungen. Indem sie ins Sachhaltige geleiten, mochten sie zugleich der inhaltlichen Intention des zunachst, aus Not, allgemein Behandelten gerecht werden, im Gegensatz zu dem Gebrauch von Beispielen als einem an sich Gleichgultigen, den Piaton einfuhrte und den die Philosophie seitdem wiederholte. Wahrend die Modelle verdeutlichen sollen, was negative Dialektik sei, und diese, ihrem eigenen Begriff gemaB, ins reale Be-reich hineintreiben, erortern sie, nicht unahnlich der sogenannten exemplarischen Methode, Schlusselbegriffe philosophischer Diszi-plinen, um in diese zentral einzugreifen. Fur die Philosophie der Moral will das eine Dialektik der Freiheit leisten; >Weltgeist und Naturgeschichte< fur die der Geschichte; das letzte Kapitel um-kreist tastend die metaphysischen Fragen, im Sinn einer Achsen-drehung der Kopernikanischen Wendung durch kritische Selbst-reflexion.

Vorrede

Ulrich Sonnemann arbeitet an einem Buch, das den Titel Negative Anthropologic tragen soil. Weder er noch der Autor wuBten vor-her etwas von der Ubereinstimmung. Sie verweist auf einen Zwang in der Sache.

Der Autor ist auf den Widerstand gefaBt, dem die Negative Dia-lektik sich aussetzt. Ohne Rancune laBt er all denen, huben und driiben, ihre Freude, die verkiinden werden, sie hatten es immer gesagt und nun sei der Autor gestandig.

Frankfurt, Sommer 1966

Einleitung

Philosophie, die einmal uberholt schien, erhalt sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versaumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloB interpretiert, sei durch Resignation vor der Realitat verkriippelt auch in sich, wird zum Defaitismus der Vernunft, nachdem die Veranderung der Welt miBlang. Sie gewahrt keinen Ort, von dem aus Theorie als solche des Anachronistischen, dessen sie nach wie vor verdachtig ist, konkret zu iiberfiihren ware. Vielleicht langte die Interpretation nicht zu, die den praktischen Ubergang verhieB. Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, laBt nicht theoretisch sich pro-longieren. Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, son-dern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abwiirgen, dessen verandernde Praxis be-diirfte. Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit oder stunde unmittelbar vor deren Herstellung, brach, ist sie genotigt, sich selber riicksichtslos zu kritisieren. Was einst, gegeniiber dem Schein der Sinne und jeglicher nach auBen gewandten Erfahrung, als das schlechthin Unnaive sich fuhlte, ist seinerseits, objektiv, so naiv geworden, wie Goethe schon vor hundertfunfzig Jahren die kummerlichen Kandidaten empfand, die subjektiv an der Spekulation sich gutlich taten. Der introver-tierte Gedankenarchitekt wohnt hinter dem Mond, den die extro-vertierten Techniker beschlagnahmen. Die begrifflichen Gehause, in denen, nach philosophischer Sitte, das Ganze sollte untergebracht werden konnen, gleichen angesichts der unermeBlich expandierten Gesellschaft und der Fortschritte positiver Naturerkenntnis tjber-bleibseln der einfachen Warenwirtschaft inmitten des industriellen Spatkapitalismus. So unmaBig ist das mittlerweile zum Topos herabgesunkene MiBverhaltnis zwischen Macht und jeglichem Geist geworden, daB es die vom eigenen Begriff des Geistes inspi-

Zur Moglichkeit von Philosophie

rierten Versuche, das Ubermachtige zu begreifen, mit Vergeblich-keit schlagt. Der Wille dazu bekundet einen Machtanspruch, den das zu Begreifende widerlegt. Die von den Einzelwissenschaften erzwungene Ruckbildung der Philosophie zu einer Einzelwissen-schaft ist der sinnfalligste Ausdruck ihres historischen Schicksals. Hatte Kant, nach seinen Worten, vom Schulbegriff der Philosophie zu deren Weltbegriff 1 sich befreit, so ist sie, unter Zwang, auf ihren Schulbegriff regrediert. Wo sie inn mit dem Weltbegriff verwechselt, verfallen ihre Pratentionen der Lacherlichkeit. Hegel wuBte, trotz der Lehre vom absoluten Geist, dem er die Philosophie zurechnete, diese als bloBes Moment in der Realitat, als arbeitsteilige Tatigkeit, und schrankte sie damit ein. Daraus ist seitdem ihre eigene Beschranktheit, ihre Disproportion zur Realitat geworden, und zwar desto mehr, je griindlicher sie jene Ein-schrankung vergaB und es als ein ihr Fremdes von sich wies, auf ihre eigene Stellung in einem Ganzen sich zu besinnen, das sie als ihr Objekt monopolisiert, anstatt zu erkennen, wie sehr sie bis in ihre inwendige Zusammensetzung, ihre immanente Wahr-heit hinein davon abhangt. Nur Philosophie, die solcher Naivetat sich entledigt, ist irgend wert, weitergedacht zu werden. Ihre kritische Selbstreflexion darf aber nicht innehalten vor den hoch-sten Erhebungen ihrer Geschichte. An ihr ware, zu fragen, ob und wie sie nach dem Sturz der Hegelschen uberhaupt noch moglich sei, so wie Kant der Moglichkeit von Metaphysik nach der Kritik am Rationalismus nachfragte. Stellt die Hegelsche Lehre von der Dialektik den unerreichten Versuch dar, mit philosophischen Be-griffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen, so ist Rechenschaft am falligen Verhaltnis zur Dialektik zu geben, wo-fern sein Versuch scheiterte.

Dem Markt entgeht keine Theorie mehr: eine jede wird als mog-liche unter den konkurrierenden Meinungen ausgeboten, alle zur Wahl gestellt, alle geschluckt. So wenig indessen der Gedanke dagegen sich Scheuklappen umbinden kann; so gewiB die selbst-gerechte Uberzeugung, die eigene Theorie sei jenem Schicksal ent-hoben, in Anpreisung ihrer selbst ausartet, so wenig braucht Dialektik auf solchen Vorwurf hin und den daran haftenden ihrer Uberflussigkeit, des Beliebigen einer von auBen aufgeklatschten Methode, zu verstummen. Ihr Name sagt zunachst nichts weiter,

Dialektik kein Standpunkt

als daB die Gegenstande in ihrem Begriff nicht aufgehen, daB diese in Widerspruch geraten mit der hergebrachten Norm der adaequatio. Der Widerspruch ist nicht, wozu Hegels absoluter Idealismus unvermeidlich ihn verklaren muBte: kein herakliteisch Wesenhaftes. Er ist Index der Unwahrheit von Identitat, des Auf-gehens des Begriffenen im Begriff. Der Schein von Identitat wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heiBt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ord-nung sich vor das, was Denken begreifen will. Sein Schein und seine Wahrheit verschranken sich. Jener laBt nicht dekretorisch sich beseitigen, etwa durch Beteuerung eines Ansichseienden auBer-halb der Totalitat der Denkbestimmungen. Insgeheim liegt es in Kant, und wurde von Hegel gegen ihn mobilisiert, es sei das dem Begriff jenseitige An sich als ganz Unbestimmtes nichtig. Dem BewuBtsein der Scheinhaftigkeit der begrifflichen Totalitat ist nichts offen, als den Schein totaler Identitat immanent zu durch-brechen: nach ihrem eigenen MaB. Da aber jene Totalitat sich gemaB der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlos-senen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm nicht sich einfiigt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an. Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identitat; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik miBt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, ubersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente BewuBtsein von Nichtidentitat. Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt. Zu ihr treibt den Gedanken seine unvermeidliche Insuffizienz, seine Schuld an dem, was er denkt.Wendet man, wie seit den Aristotelischen Kritikern Hegels repetiert wurde 2 , gegen die Dialektik ein, sie bringe ihrerseits alles, was in ihre Muhle ge-rat, auf die bloB logische Form des Widerspruchs und lasse dariiber-so argumentierte noch Croce 3 - die voile Mannigfaltigkeit des nicht Kontradiktorischen, des einfach Unterschiedenen beiseite, so schiebt man die Schuld der Sache auf die Methode. Das Differen-zierte erscheint so lange divergent, dissonant, negativ, wie das BewuBtsein der eigenen Formation nach auf Einheit drangen muB: solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitats-anspruch miBt. Das halt Dialektik dem BewuBtsein als Widerspruch vor. Widerspruchlichkeit hat vermoge des immanenten

Realitat und Dialektik

Wesens von BewuBtsein selber den Charakter unausweichlicher und verhangnisvoller GesetzmaBigkeit. Identitat und Wider-spruch des Denkens sind aneinandergeschweiBt. Die Totalitat des Widerspruchs ist nichts als die Unwahrheit der totalen Iden-tifikation, so wie sie in dieser sich manifestiert. Widerspruch ist Nichtidentitat im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert.

Dies Gesetz aber ist keines von Denken, sondern real. Wer der dialektischen Disziplin sich beugt, hat fraglos mit bitterem Opfer an der qualitativen Mannigfaltigkeit der Erfahrung zu zahlen. Die Verarmung der Erfahrung durch Dialektik jedoch, iiber welche die gesunden Ansichten sich entriisten, erweist sich in der verwalteten Welt als deren abstraktem Einerlei angemessen. Ihr Schmerzhaftes ist der Schmerz iiber jene, zum Begriff erhoben. Ihr muB Erkenntnis sich fugen, will sie nicht Konkretion noch-mals zu der Ideologie entwiirdigen, die sie real zu werden be-ginnt. Eine andere Version von Dialektik begniigte sich mit deren unkraftiger Renaissance: ihrer geistesgeschichtlichen Ableitung aus den Aporien Kants und dem in den Systemen seiner Nach-folger Programmierten, aber nicht Geleisteten. Zu leisten ist es nur negativ. Dialektik entfaltet die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen. Wahrend sie, der ins BewuBtsein gedrungene Bruch von Subjekt und Objekt, dem Subjekt unentrinnbar ist, alles durchfurcht, was es, auch an Objektivem, denkt, hatte sie ein Ende in der Versohnung. Diese gabe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eroffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, iiber die Dialektik keine Macht mehr hatte. Versohnung ware das Einge-denken des nicht langer feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versohnung dient Dialektik. Sie demontiert den logischen Zwangscharakter, dem sie folgt; des-halb wird sie Panlogismus gescholten. Als idealistische war sie verklammert mit der Vormacht des absoluten Subjekts als der Kraft, welche negativ jede einzelne Bewegung des Begriffs und den Gang insgesamt bewirkt. Solcher Primat des Subjekts ist, auch in der Hegelschen Konzeption, die das einzelmenschliche BewuBtsein und noch das Kantische und Fichtesche transzendentale uberflugelte, geschichtlich verurteilt. Nicht nur wird er verdrangt

Realitat und Dialektik

von der Unkraft des erschlaffenden Gedankens, der vor der Uber-macht des Weltlaufs daran verzagt, diesen zu konstruieren. Keine der Versohnungen vielmehr, die der absolute Idealismus - jeder andere blieb inkonsequent - behauptete, von den logischen bis zu den politisch-historischen, war stichhaltig. DaB der folgerechte Idealismus anders denn als Inbegriff des "Widerspruchs gar nicht sich konstituieren konnte, ist ebenso seine konsequenzlogische Wahrheit wie die Strafe, welche seine Logizitat als Logizitat er-eilt; Schein ebenso wie notwendig. Die Wiederaufnahme des Pro-zesses iiber die Dialektik, deren nicht-idealistische Gestalt unter-dessen zum Dogma verkam wie die idealistische zum Bildungsgut, entscheidet aber nicht einzig iiber die Aktualitat einer historisch tradierten Weise des Philosophierens oder der philosophischen Struktur des Gegenstandes von Erkenntnis. Hegel hatte der Philosophic Recht und Fahigkeit wieder verschafft, inhaltlich zu den-ken, anstatt mit der Analyse leerer und im emphatischen Sinn nichtiger Formen von Erkenntnis sich abspeisen zu lassen. Die gegenwartige fallt entweder, wo iiberhaupt von Inhaltlichem ge-handelt wird, ins Belieben der Weltanschauung zuriick oder in jenen Formalismus, jenes »Gleichgultige«, wogegen Hegel aufge-standen war. Die Entwicklung der Phanomenologie, die einmal vom Bedurfnis nach Inhalt beseelt war, zu einer jeden Inhalt als Verunreinigung fortweisenden Anrufung des Seins belegt das historisch. Hegels inhaltliches Philosophieren hatte zum Fundament und Resultat den Primat des Subjekts oder, nach der be-ruhmten Formulierung aus der Eingangsbetrachtung der Logik, die Identitat von Identitat und Nichtidentitat 4 . Das bestimmte Einzelne war ihm vom Geist bestimmbar, weil seine immanente Bestimmung nichts anderes als Geist sein sollte. Ohne diese Supposition ware Hegel zufolge Philosophic nicht fahig, Inhaltliches und Wesentliches zu erkennen. Birgt der idealistisch gewonnene Begriff der Dialektik nicht Erfahrungen, die, entgegen der Hegel-schen Emphase, unabhangig sind von der idealistischen Apparatus so bleibt der Philosophie eine Entsagung unausweichlich, die inhaltliche Einsicht sich verwehrt, sich auf die Methodik der Wissenschaften einschrankt, diese fur Philosophie erklart und sich virtuell durchstreicht. Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres

Interesse der Philosophie

Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinter-essement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Beson-deren; bei dem, was seit Platon als verganglich und unerheblich angefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Exi-stenz klebte. Ihr Thema waren die von ihr als kontingent zur quantite negligeable degradierten Qualitaten. Dringlich wird, fur den Begriff, woran er nicht heranreicht, was sein Abstraktions-mechanismus ausscheidet, was nicht bereits Exemplar des Begriffs ist. Bergson wie Husserl, Trager philosophischer Moderne, haben das innerviert, wichen aber davor zuriick in traditionelle Meta-physik. Bergson hat dem Nichtbegrifflichen zuliebe, mit einem Gewaltstreich, einen anderen Typus der Erkenntnis kreiert. Das dialektische Salz wird im unterschiedslosen FlieBen von Leben weggeschwemmt; das dinghaft Verfestigte als subaltern abge-fertigt, nicht samt seiner Subalternitat begriffen. HaB gegen den starren Allgemeinbegriff stiftet einen Kultus irrationaler Un-mittelbarkeit, souveraner Freiheit inmitten des Unfreien. Er entwirft seine beiden Weisen von Erkenntnis so dualistisch gegen-einander, wie nur je die von ihm befochtenen Lehren des Descartes und Kant es waren; die kausalmechanische bleibt, als prag-matistisches Wissen, von der intuitiven so unbehelligt wie das burgerliche Gefuge von der gelockerten Unbefangenheit derer, die ihr Privileg jenem Gefuge verdanken. Die gefeierten In-tuitionen erscheinen in Bergsons Philosophie selbst recht abstrakt, gehen kaum hinaus iiber das phanomenale ZeitbewuBtsein, das sogar bei Kant der chronologisch-physikalischen, nach Bergsons Einsicht raumlichen Zeit zugrunde liegt. Wohl existiert die intuitive Verhaltensweise des Geistes tatsachlich, obzwar muhsam zu entwickeln, fort, archaisches Rudiment mimetischen Reagie-rens. Ihr Vorvergangenes verspricht etwas iiber die verhartete Gegenwart hinaus. Nur desultorisch jedoch gelingen Intuitionen. Jede Erkenntnis, auch Bergsons eigene, bedarf der von ihm ver-achteten Rationalitat, gerade wenn sie sich konkretisieren soil. Die zum Absoluten erhobene Dauer, das reine Werden, der actus purus, schluge um in die gleiche Zeitlosigkeit, die Bergson an der Metaphysik seit Piaton und Aristoteles tadelt. Ihn bekummerte nicht, daB, wonach er tastet, soil es nicht Fata Morgana bleiben, einzig mit dem Instrumentarium der Erkenntnis, durch Reflexion

Interesse der Philosophie

ihrer eigenen Mittel, zu visieren ware und zur Willkur ausartet in einem Verfahren, das von vornherein unvermittelt ist zu dem der Erkenntnis. - Der Logiker Husserl dagegen hat zwar den Modus, des Wesens innezuwerden, scharf gegen die generalisie-rende Abstraktion pointiert. Ihm schwebte eine spezifische gei-stige Erfahrung vor, die das Wesen aus dem Besonderen sollte herausschauen konnen. Das Wesen indessen, dem sie gait, unter-schied sich in nichts von den gangigen Allgemeinbegriffen. Krasses MiBverhaltnis waltet zwischen den Veranstaltungen der Wesens-schau und deren terminus ad quem. Beide Ausbruchsversuche ge-langten nicht aus dem Idealismus heraus: Bergson orientierte sich, wie seine positivistischen Erzfeinde, an den donnees immediates de la conscience, Husserl ahnlich an den Phanomenen des Be-wuBtseinsstroms. Dieser wie jener verharrt im Umkreis subjek-tiver Immanenz 5 . Gegen beide ware zu insistieren auf dem, was ihnen vergebens vorschwebt; gegen Wittgenstein zu sagen, was nicht sich sagen laBt. Der einfache Widerspruch dieses Verlangens ist der von Philosophie selbst: er qualifiziert sie als Dialektik, ehe sie nur in ihre einzelnen Widerspriiche sich verwickelt. Die Arbeit philosophischer Selbstreflexion besteht darin, jene Paradoxie aus-einanderzulegen. Alles andere ist Signifikation, Nachkonstruk-tion, heute wie zu Hegels Zeiten vorphilosophisch. Ein wie immer fragwurdiges Vertrauen darauf, daB es der Philosophie doch moglich sei; daB der Begriff den Begriff, das Zuriistende und Ab-schneidende iibersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen konne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivetat, an der sie krankt. Sonst muB sie kapitulieren und mit ihr aller Geist. Nicht die einfachste Operation lieBe sich denken, keine Wahrheit ware, emphatisch ware alles nur nichts. Was aber an Wahrheit durch die Begriffe iiber ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von den Begriffen Unterdriickte, MiBachtete und Weg-geworfene. Die Utopie der Erkenntnis ware, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen. Ein solcher Begriff von Dialektik weckt Zweifel an seiner Mog-lichkeit. Die Antezipation durchgangiger Bewegung in Wider-spriichen scheint, wie immer auch abgewandelt, Totalitat des Geistes zu lehren, eben die auBer Kraft gesetzte Identitatsthese.

Das antagonistische Ganze

Der Geist der unablassig auf den Widerspruch in der Sache reflektiere, miisse diese selbst sein, wenn anders sie sich nach der Form des Widerspruchs organisieren solle. Die Wahrheit, die in der idealistischen Dialektik iiber jedes Partikulare als ein in seiner Einseitigkeit Falsches hinaustreibe, sei die des Ganzen; ware sie nicht vorgedacht, so entrieten die dialektischen Schritte der Motivation und Richtung. Dem ist zu entgegnen, daB das Objekt der geistigen Erfahrung an sich, hochst real, antagonisti-sches System sei, nicht erst vermoge seiner Vermittlung zum er-kennenden Subjekt, das darin sich wiederfindet. Die zwangshafte Verfassung der Realitat, welche der Idealismus in die Region von Subjekt und Geist projiziert hatte, ist aus ihr zuriickzuubersetzen. Ubrig bleibt vom Idealismus, daB die objektive Determinante des Geistes, Gesellschaft, ebenso ein Inbegriff von Subjekten ist wie deren Negation. Sie sind unkenntlich in ihr und entmachtigt; darum ist sie so verzweifelt objektiv und Begriff, wie der Idealismus als Positives es verkennt. Das System ist nicht das des absoluten Geistes, sondern des allerbedingtesten derer, die dar-iiber verfugen und nicht einmal wissen ktinnen, wie sehr es ihr eigener ist. Die subjektive Preformation des materiellen gesell-schaftlichen Produktionsvorgangs, grundverschieden von theo-retischer Konstitution, ist sein Unaufgelostes, den Subjekten Unversohntes. Hire eigene Vernunft, welche, bewuBtlos wie das Transzendentalsubjekt, durch den Tausch Identitat stiftet, bleibt den Subjekten inkommensurabel, die sie auf den gleichen Nenner bringt: Subjekt als Feind des Subjekts. Die vorgangige Allgemein-heit ist wahr sowohl wie unwahr: wahr, weil sie jenen »Ather« bildet, den Hegel Geist nennt; unwahr, weil ihre Vernunft noch keine ist, ihre Allgemeinheit Produkt partikularen Interesses. Darum uberschreitet philosophische Kritik an der Identitat die Philosophic. DaB es aber gleichwohl des nicht unter die Identitat zu Subsumierenden — nach der Marxischen Terminologie des Ge-brauchswerts - bedarf, damit Leben uberhaupt, sogar unter den herrschenden Produktionsverhaltnissen, fortdauere, ist das Ineffa-bile der Utopie. Sie reicht hinein in das, was verschworen ist, daB sie nicht sich realisiere. Angesichts der konkreten Moglichkeit von Utopie ist Dialektik die Ontologie des falschen Zustandes.Von ihr ware ein richtiger befreit, System so wenig wie Widerspruch.

Entzauberung des Begriffs

Philosophie, auch die Hegelsche, exponiert sich dem generellen Einwand, daB sie, indem sie zwangslaufig Begriffe zum Material habe, sich idealistisch vorentscheide. Tatsachlich kann keine, selbst nicht der extreme Empirismus, die facta bruta an den Haaren herbeischleppen und prasentieren wie Falle in der Anatomie oder Experimente in der Physik; keine, wie manche Malerei lockend ihr vorgaukelt, die Einzeldinge in die Texte kleben. Aber das Argument, in seiner formalen Allgemeinheit, nimmt den Begriff so fetischistisch, wie er innerhalb seines Bezirks naiv sich auslegt, als eine sich selbst geniigende Totalitat, iiber die philosophisches Denken nichts vermag. In Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen, auf Nichtbegriffliches, weil sie ihrerseits Mo-mente der Realitat sind, die zu ihrer Bildung - primar zu Zwecken der Naturbeherrschung - notigt. Das, als was die begriffliche Vermittlung sich selbst, von innen her, erscheint, der Vorrang ihrer Sphare, ohne die nichts gewuBt sei, darf nicht mit dem ver-wechselt werden, was sie an sich ist. Solchen Schein des Ansich-seienden verleiht ihr die Bewegung, welche sie aus der Realitat eximiert, in die sie ihrerseits eingespannt ist. Aus der Not der Philosophie, mit Begriffen zu operieren, darf so wenig die Tugend von deren Prioritat gemacht werden, wie umgekehrt aus der Kritik dieser Tugend das summarische Verdikt iiber Philosophie. Die Einsicht indessen, daB deren begriffliches Wesen trotz seiner Unentrinnbarkeit nicht ihr Absolutes sei, ist wieder durch die Be-schaffenheit des Begriffs vermittelt, keine dogmatische, gar naiv realistische These. Begriffe wie der des Seins am Anfang der Hegelschen Logik bedeuten zunachst emphatisch Nichtbegriffliches; sie meinen, mit Lasks Ausdruck, iiber sich hinaus. Zu ihrem Sinn gehort, daB sie in ihrer eigenen Begrifflichkeit nicht sich be-friedigen, obwohl sie dadurch, daB sie das Nichtbegriffliche als ihren Sinn einschlieBen, es tendenziell sich gleichmachen und damit in sich befangen bleiben. Ihr Gehalt ist ihnen sowohl immanent: geistig, wie ontisch: ihnen transzendent. Durchs SelbstbewuBtsein davon vermogen sie ihres Fetischismus ledig zu werden. Philo-sophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff. Sonst ware dieser, nach Kants Diktum, leer, am Ende iiber-haupt nicht mehr der Begriff von etwas und damit nichtig. Philosophie, die das erkennt, die Autarkie des Begriffs tilgt, streift die

»Unendlichkeit«

Binde von den Augen. DaB der Begriff Begriff ist, auch wenn er von Seiendem handelt, andert nichts daran, daB er seinerseits in ein nichtbegriffliches Ganzes verflochten ist, gegen das er durch seine Verdinglichung einzig sich abdichtet, die freilich als Begriff inn stiftet. Der Begriff ist ein Moment wie ein jegliches in dialek-tischer Logik. In ihm uberlebt sein Vermitteltsein durchs Nicht-begriffliche vermoge seiner Bedeutung, die ihrerseits sein Begriff-sein begriindet. Ihn charakterisiert ebenso, auf Nichtbegriffliches sich zu beziehen - so wie schlieBlich nach traditioneller Erkennt-nistheorie jede .Definition von Begriffen nichtbegrifflicher, deikti-scher Momente bedarf -, wie kontrar, als abstrakte Einheit der unter ihm befaBten Onta vom Ontischen sich zu entfernen. Diese Richtung der Begrifflichkeit zu andern, sie dem Nicht-identischen zuzukehren, ist das Scharnier negativer Dialektik. Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter des Nichtbe-grifflichen im Begriff zerginge der Identitatszwang, den der Begriff ohne solche aufhaltende Reflexion mit sich fiihrt. Aus dem Schein des Ansichseins des Begriffs als einer Einheit des Sinns hin-aus fiihrt seine Selbstbesinnung auf den eigenen Sinn. Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie. Es verhindert ihre Wucherung: daB sie sich selbst zum Absoluten werde. Eine Idee ist umzufunktionieren, die vom Idealismus ver-macht ward und mehr als jede andere von ihm verdorben, die des Unendlichen. Nicht ist es an Philosophie, nach wissenschaftlichem Usus zu erschopfen, die Phanomene auf ein Minimum von Satzenzu reduzieren; Hegels Polemik gegen Fichte, der von einem »Spruch« ausgehe, meldet das an. Vielmehr will sie buchstablichin das ihr Heterogene sich versenken, ohne es auf vorgefertigteKategorien zu bringen. Sie mochte ihm so nan sich anschmiegen, wie das Programm der Phanomenologie und das Simmels vergebens es sich wunschten: sie zielt auf ungeschmalerte EntauBerung. Einzig dort ist der philosophische Gehalt zu ergreifen, wo Philosophie ihn nicht oktroyiert. Die Illusion, sie konne das Wesen in die Endlichkeit ihrer Bestimmungen bannen, ist dranzugeben. Vielleicht ging den idealistischen Philosophen das Wort unendlich nur darum so fatal leicht von den Lippen, weil sie den nagenden Zweifel an der kargen Endlichkeit ihrer Begriffsapparatur, trotz seiner Absicht noch der Hegels, beschwichtigen wollten. Die

»Unendlichkeit«

traditionelle Philosophie glaubt, ihren Gegenstand als unend-lichen zu besitzen, und wird dariiber als Philosophie endlich, ab-schluBhaft. Eine veranderte mii6te jenen Anspruch kassieren, nicht langer sich und anderen einreden, sie verfiige iibers Unend-liche. Sie wurde aber statt dessen selber, zart verstanden, unend-lich insofern, als sie verschmaht, in einem Corpus zahlbarer Theo-reme sich zu fixieren. Ihren Gehalt hatte sie in der von keinem Schema zugerichteten Mannigfaltigkeit der Gegenstande, die ihr sich aufdrangen oder die sie sucht; ihnen uberlieBe sie sich wahr-haft, beniitzte sie nicht als Spiegel, aus dem sie wiederum sich herausliest, ihr Abbild verwechselnd mit der Konkretion. Sie ware nichts anderes als die voile, unreduzierte Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion; sogar die »Wissenschaft von der Erfahrung des Bewu6tseins« degradierte die Inhalte solcher Erfahrung zu Exempeln der Kategorien. Was Philosophie zur riskierten Anstrengung ihrer eigenen Unendlichkeit veranlaBt, ist die unverbiirgte Erwartung, jedes Einzelne und Partikulare, das sie entratselt, stelle gleich der Leibniz'schen Monade jenes Ganze in sich vor, das als solches stets wieder ihr entgleitet; freilich nach prastabilierter Disharmonie eher als Harmonie. Die metakritische Wendung gegen prima philosophia ist zugleich die gegen die Endlichkeit einer Philosophie, die liber Unendlichkeit schwadro-niert und sie nicht achtet. Erkenntnis hat keinen ihrer Gegenstande ganz inne. Sie soil nicht das Phantasma eines Ganzen be-reiten. So kann es nicht die Aufgabe einer philosophischen Interpretation von Kunstwerken sein, ihre Identitat mit dem Begriff herzustellen, sie in diesem aufzuzehren; das Werk jedoch entfaltet sich durch sie in seiner Wahrheit. Was dagegen, sei's als geregelter Fortgang der Abstraktion, sei's als Anwendung der Begriffe aufs unter ihrer Definition BefaBte, sich absehen laBt, mag als Technik im weitesten Sinn niitzlich sein: fur Philosophie, die nicht sich einordnet, ist es gleichgultig. Prinzipiell kann sie stets fehlgehen; allein darum etwas gewinnen. Skepsis und Pragmatismus, zuletzt noch dessen uberaus humane Version, die Deweysche, haben das einbekannt; es ware aber als Ferment einer nachdrucklichen Philosophie zuzufuhren, nicht auf diese zugunsten ihrer Bewah-rungsprobe vorweg zu verzichten. Gegeniiber der totalen Herr-schaft von Methode enthalt Philosophie, korrektiv, das Moment

»Unendlichkeit«

des Spiels , das die Tradition ihrer Verwissenschaftlichung ihr aus-treiben mochte. Auch fur Hegel war es ein neuralgischer Punkt, er verwirft »... Arten und Unterschiede, die vom auBerlichen Zu-falle und vom Spiele, nicht durch Vernunft bestimmt sind« 6 . Der unnaive Gedanke weiB, wie wenig er ans Gedachte heranreicht, und muB doch immer so reden, als hatte er es ganz. Das nahert ihn der Clownerie. Er darf deren Ziige um so weniger verleugnen, als sie allein ihm Hoffnung eroffnen auf das ihm Versagte. Philosophic ist das Allerernsteste, aber so ernst wieder auch nicht. Was abzielt auf das, was es nicht a priori schon selber ist und woriiber es keine verbriefte Macht hat, gehort, dem eigenen Begriff nach, zugleich einer Sphare des Ungebandigten an, die vom begrifflichen Wesen tabuiert ward. Nicht anders vermag der Begriff die Sache dessen zu vertreten, was er verdrangte, der Mimesis, als indem er in seinen eigenen Verhaltensweisen etwas von dieser sich zueignet, ohne an sie sich zu verlieren. Insofern ist das asthetische Moment, obgleich aus ganz anderem Grund als bei Schelling, der Philosophic nicht akzidentell. Nicht minder jedoch ist es an ihr, es auf-zuheben in der Verbindlichkeit ihrer Einsichten in Wirkliches. Diese und das Spiel sind ihre Pole. Die Affinitat der Philosophic zur Kunst berechtigt jene nicht zu Anleihen bei dieser, am wenig-sten vermoge der Intuitionen, die Barbaren fur die Prerogative der Kunst halten. Auch in die kunstlerische Arbeit schlagen sie kaum je isoliert, als Blitze von oben ein. Sie sind mit dem Form-gesetz des Gebildes zusammengewachsen; wollte man sie heraus-praparieren, zergingen sie. Denken vollends hutet keine Quellen, deren Frische es vom Denken befreite; kein Typus von Erkenntnis ist verfugbar, der absolut verschieden ware von dem verfugenden, vor dem der Intuitionismus panisch und vergebens flieht. Philosophic, die Kunst nachahmte, von sich aus Kunstwerk werden wollte, durchstriche sich selbst. Sie postulierte den Identitats-anspruch: daB ihr Gegenstand in ihr aufgehe, indem sie ihrer Ver-f ahrungsweise eine Suprematie einraumte, der das Heterogene als Material a priori sich fiigt, wahrend der Philosophic ihr Verhalt-nis zum Heterogenen geradezu thematisch ist. Kunst und Philosophic haben ihr Gemeinsames nicht in Form oder gestaltendem Verfahren, sondern in einer Verhaltensweise, welche Pseudo-morphose verbietet. Beide halten ihrem eigenen Gehalt die Treue

Spekulatives Moment

durch ihren Gegensatz hindurch; Kunst, indem sie sich sprode macht gegen ihre Bedeutungen; Philosophie, indem sie an kein Unmittelbares sich klammert. Der philosophische Begriff laBt nicht ab von der Sehnsucht, welche die Kunst als begriffslose beseelt und deren Erfullung ihrer Unmittelbarkeit als einem Schein entflieht. Organon des Denkens und gleichwohl die Mauer zwischen diesem und dem zu Denkenden, negiert der Begriff jene Sehnsucht. Solche Negation kann Philosophie weder umgehen noch ihr sich beugen. An ihr ist die Anstrengung, iiber den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.

Sie kann, auch nach Absage an den Idealismus, der Spekulation, freilich in weiterem Sinn als dem allzu positiv Hegelschen *, nicht entraten, die der Idealismus zu Ehren brachte und die mit ihm verpont ward. Positivisten fallt es nicht schwer, dem Marxi-schen Materialismus, der von objektiven Wesensgesetzen, keines-wegs von unmittelbaren Daten oder Protokollsatzen ausgeht, Spekulation vorzurechnen. Um sich vom Ideologieverdacht zu reinigen, ist es neuerdings gelegener, Marx einen Metaphysiker zu nennen, als den Klassenfeind. Aber der sichere Boden ist dort ein Phantasma, wo der Wahrheitsanspruch erheischt, daB man dariiber sich erhebt. Philosophie ist nicht abzuspeisen mit Theo-remen, die ihr wesentliches Interesse ihr ausreden wollen, anstatt es, sei es auch durchs Nein, zu befriedigen. Das haben die Gegen-bewegungen gegen Kant seit dem neunzehnten Jahrhundert ge-spiirt, freilich stets wieder durch Obskurantismus kompromittiert. Der Widerstand der Philosophie aber bedarf der Entfaltung. Auch

* »Wenn ubrigens der Skepticismus noch heut zu Tage hauflg als ein unwider-stehlicher Feind alles positiven Wissens iiberhaupt und somit auch der Philosophie, insofern es bei dieser um positive ErkenntniB zu thun ist, betrachtet wird, so ist dagegen zu bemerken, daB es in der That bios das endliche, ab-strakt verstandige Denken ist, welches den Skepticismus zu furchten hat und demselben nicht zu widerstehen vermag, wohingegen die Philosophie das Skeptische als ein Moment in sich enthalt, namlich als das Dialektische. Die Philosophie bleibt dann aber bei dem bios negativen Resultat der Dialektik nicht stehen, wie dieB mit dem Skepticismus der Fall ist. Dieser verkennt sein Resultat, indem er dasselbe als bloBe, d.h. als abstrakte Negation festhalt. Indem die Dialektik zu ihrem Resultat das Negative hat, so ist dieses, eben als Resultat, zugleich das Positive, denn es enthalt dasjenige, woraus es resultirt, als aufgehoben in sich, und ist nicht ohne dasselbe. DieB aber ist die Grundbestimmung der dritten Form des Logischen, namtlich des Spekulativen oder Positiv-Vernunftigen.« (Hegel, WW 8, S. 194 ff.)

Spekulatives Moment

Musik, und wohl jegliche Kunst, findet den Impuls, der jeweils den ersten Takt beseelt, nicht sogleich erfiillt, sondern erst im arti-kulierten Verlauf. Insofern ubt sie, wie sehr auch Schein als Totalitat, durch diese am Schein Kritik, dem der Gegenwart des Gehalts jetzt und hier. Solche Vermittlung ziemt der Philosophie nicht minder. MaBt sie kurzschlussig sich an, es zu sagen, so trifft sie das Hegelsche Verdikt iiber die leere Tiefe. Wer das Tiefe in den Mund nimmt, wird dadurch so wenig tief wie ein Roman metaphysisch, der die metaphysischen Ansichten seiner Person referiert. Von Philosophie zu verlangen, daB sie auf die Seins-frage oder andere Hauptthemen der abendlandischen Metaphysik eingehe, ist primitiv stoffglaubig. Wohl kann sie der objektiven Dignitat jener Themen nicht sich entziehen, kein VerlaB aber ist darauf, daB ihr die Behandlung der groBen Gegenstande ent-sprache. So sehr hat sie die eingeschliffenen Bahnen der philo-sophischen Reflexion zu furchten, daB ihr emphatisches Interesse Zuflucht sucht in ephemeren, noch nicht von Intentionen uberbe-stimmten Objekten. Die uberlieferte philosophische Problematik ist bestimmt zu negieren, gekettet freilich an deren Fragen. Die objektiv zur Totalitat geschurzte Welt gibt das BewuBtsein nicht frei. Unablassig fixiert sie es dort, wovon es wegwill; Denken jedoch, das frisch-frohlich von vorn anfangt, unbekummert um die geschichtliche Gestalt seiner Probleme, wird erst recht deren Beute. An der Idee der Tiefe hat Philosophie teil nur vermoge ihres denkenden Atems. Modell dafiir ist, in neuerer Zeit, die Kantische Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, deren Autor, in abgriindig apologetischer Ironie, sagte, sie sei »etwas tief angelegt« 7 . Auch Tiefe ist, wie Hegel nicht entging, ein Moment der Dialektik, keine isolierte Qualitat. Nach einer abscheulichen deutschen Tradition figurieren als tief die Gedanken, welche auf die Theodizee von Ubel und Tod sich vereidigen lassen. Ver-schwiegen und unterschoben wird ein theologischer terminus ad quern, als ob iiber die Dignitat des Gedankens sein Resultat, die Bestatigung von Transzendenz, entscheide oder die Versenkung in Innerlichkeit, das bloBe Fursichsein; als ob der Riickzug von der Welt umstandslos eins ware mit dem BewuBtsein des Welt-grundes. Den Phantasmen der Tiefe gegeniiber, die in der Ge-schichte des Geistes dem Bestehenden stets wohlgesinnt waren,

Darstellung

das ihnen zu platt ist, ware Widerstand deren wahres MaB. Die Macht des Bestehenden errichtet die Fassaden, auf welche das Be-wuBtsein aufprallt. Sie muB es zu durchschlagen trachten. Das allein entrisse das Postulat von Tiefe der Ideologie. In solchem Widerstand uberlebt das spekulative Moment: was sich sein Ge-setz nicht vorschreiben laBt von den gegebenen Tatsachen, trans-zendiert sie noch in der engsten Fuhlung mit den Gegenstanden und in der Absage an sakrosankte Transzendenz. Worin der Ge-danke hinaus ist iiber das, woran er widerstehend sich bindet, ist seine Freiheit. Sie folgt dem Ausdrucksdrang des Subjekts. Das Bedurfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivitat, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfahrt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.

Das mag erklaren helfen, warum der Philosophie ihre Darstellung nicht gleichgultig und auBerlich ist sondern ihrer Idee immanent. Ihr integrales Ausdrucksmoment, unbegrifflich-mimetisch, wird nur durch Darstellung — die Sprache — objektiviert. Die Freiheit der Philosophie ist nichts anderes als das Vermogen, ihrer Unfreiheit zum Laut zu verhelfen. Wirft das Ausdrucksmoment als mehr sich auf, so artet es in Weltanschauung aus; wo sie des Ausdrucksmoments und der Pflicht zur Darstellung sich begibt, wird sie der Wissenschaft angeglichen. Ausdruck und Stringenz sind ihr keine dichotomischen Moglichkeiten. Sie bediirfen einander, keines ist ohne das andere. Der Ausdruck wird durchs Denken, an dem er sich abmuht wie Denken an ihm, seiner Zufalligkeit enthoben. Denken wird erst als Ausgedriicktes, durch sprachliche Darstellung, biindig; das lax Gesagte ist schlecht gedacht. Durch Ausdruck wird Stringenz dem Ausgedriickten abgezwungen. Er ist kein Selbstzweck auf dessen Kosten, sondern entfuhrt es aus dem dinghaften Unwesen, seinerseits einem Gegenstand philo-sophischer Kritik. Spekulative Philosophie ohne idealistische Substruktion erheischt Treue zur Stringenz, um deren autoritaren Machtanspruch zu brechen. Benjamin, dessen urspriinglicher Pas-sagenentwurf unvergleichlich spekulatives Vermogen mit mikro-logischer Nahe zu den Sachgehalten verband, hat in einer Korre-spondenz iiber die erste, eigentlich metaphysische Schicht jener Arbeit spater geurteilt, sie sei nur als »unerlaubt >dichterische<« 8

Darstellung

zu bewaltigen. Diese Kapitulationserklarung designiert ebenso die Schwierigkeit von Philosophie, die nicht abgleiten will, wie den Punkt, an dem ihr Begriff weiterzutreiben ist. Sie wurde gezeitigt wohl von der gleichsam weltanschaulichen Ubernahme des dialektischen Materialismus mit geschlossenen Augen. DaB aber Benjamin zur endgiiltigen Niederschrift der Passagentheorie nicht sich entschloB, mahnt daran, daB Philosophie nur dort noch mehr als Betrieb ist, wo sie dem totalen MiBlingen sich exponiert, als Antwort auf die traditionell erschlichene absolute Sicherheit. Benjamins Defaitismus dem eigenen Gedanken gegeniiber war bedingt von einem Rest undialektischer Positivitat, den er aus der theologischen Phase, der Form nach unverwandelt, in die materialistische mitschleppte. Demgegeniiber hat Hegels Gleich-setzung von Negativitat mit dem Gedanken, welcher die Philosophie vor der Positivitat der Wissenschaft wie vor amateurhafter Kontingenz behute, ihren Erfahrungsgehalt. Denken ist, an sich schon, vor allem besonderen Inhalt Negieren, Resistenz gegen das ihm Aufgedrangte; das hat Denken vom Verhaltnis der Arbeit zu ihrem Material, seinem Urbild, ererbt. Ermuntert die Ideologie heute mehr denn je den Gedanken zur Positivitat, so registriert sie schlau, daB eben diese dem Denken kontrar sei und daB es des freundlichen Zuspruchs sozialer Autoritat bedarf, um es zur Positivitat zu gewohnen. Die Anstrengung, die im Begriff des Denkens selbst, als Widerpart zur passivischen Anschauung, impliziert wird, ist bereits negativ, Auflehnung gegen die Zumutung jedes Unmit-telbaren, ihm sich zu beugen. Urteil und SchluB, die Denkformen, deren auch Kritik des Denkens nicht entraten kann, enthalten in sich kritische Keime; ihre Bestimmtheit ist allemal zugleich Aus-schluB des von ihnen nicht Erreichten, und die Wahrheit, die sie organisieren wollen, verneint, wenngleich mit fragwurdigem Recht, das nicht von ihnen Gepragte. Das Urteil, etwas sei so, wehrt poten-tiell ab, die Relation seines Subjekts und seines Pradikats sei anders als im Urteil ausgedriickt. Die Denkformen wollen weiter als das, was bloB vorhanden, »gegeben« ist. Die Spitze, die Denken gegen sein Material richtet, ist nicht einzig die spirituell gewordene Naturbeherrschung. Wahrend das Denken dem, woran es seine Synthesen ubt, Gewalt antut, folgt es zugleich einem Potential, das in seinem Gegeniiber wartet, und gehorcht bewuBtlos der

Stellung zum System

Idee, an den Stucken wieder gutzumachen, was es selber ver-ubte; der Philosophie wird dies BewuBtlose bewuBt. Unversohn-lichem Denken ist die Hoffnung auf Versohnung gesellt, weil der Widerstand des Denkens gegen das bloB Seiende, die gebieterische Freiheit des Subjekts, auch das am Objekt intendiert, was durch dessen Zuriistung zum Objekt diesem verloren ging. Die traditionelle Spekulation hat die Synthesis der von ihr, auf Kantischer Basis, als chaotisch vorgestellten Mannigfaltigkeit ent-wickelt, schlieBlich jeglichen Inhalt aus sich herauszuspinnen ge-trachtet. Demgegeniiber ist das Telos der Philosophie, das Offene und Ungedeckte, so antisystematisch wie ihre Freiheit, Phano-mene zu deuten, mit denen sie unbewehrt es aufnimmt. Soviel aber bleibt ihr am System zu achten, wie das ihr Heterogene als System ihr gegenubertritt. Darauf bewegt die verwaltete Welt sich hin. System ist die negative Objektivitat, nicht das positive Subjekt. In einer geschichtlichen Phase, welche die Systeme, so-weit sie ernstlich Inhalten gelten, ins ominose Reich der Gedan-kendichtung relegierte und von ihnen einzig den blassen UmriB des Ordnungsschemas ubrigbehielt, fallt es schwer, lebendig sich vorzustellen, was einmal den philosophischen Geist zum System trieb. Die Tugend der Parteiischkeit darf die Betrachtung der Philosophiegeschichte nicht daran verhindern, zu erkennen, wie uberlegen es mehr als zwei Jahrhunderte hindurch, rationalistisch oder idealistisch, seinen Widersachern war; sie erscheinen, damit verglichen, trivial. Die Systeme fuhren es aus, interpretieren die Welt; die anderen beteuern eigentlich immer nur: es geht nicht; resignieren, versagen im doppelten Sinn. Hatten sie am Ende mehr Wahrheit, so sprache das fur die Verganglichkeit von Philosophie. An ihr ware es jedenfalls, solche Wahrheit der Sub-alternitat zu entreiBen und gegen die Philosophien durch-zufechten, die nicht nur aufgeblasen sich die hoheren nen-nen: zumal dem Materialismus hangt bis heute nach, daB er in Abdera erfunden ward. Nach Nietzsches Kritik dokumen-tierte das System bloB noch die Gelehrtenkleinlichkeit, die fur politische Ohnmacht sich entschadigte durch begriffliche Kon-struktion ihres gleichsam administrativen Verfugungsrechts ubers Seiende. Aber das systematische Bedurfnis; das, nicht mit den membra disiecta des Wissens vorlieb zu nehmen, sondern das

Stellung zum System

absolute zu erlangen, dessen Ansprach unwillentlich bereits in der Bundigkeit eines jeden Einzelurteils erhoben wird, war zuzeiten mehr als Pseudomorphose des Geistes an die unwiderstehlich er-folgreiche mathematisch-naturwissenschaftliche Methode. Ge-schichtsphilosophisch hatten die Systeme zumal des siebzehnten Jahrhunderts kompensatorischen Zweck. Dieselbe ratio, die, im Einklang mit dem Interesse der burgerlichen Klasse, die feudale Ordnung und ihre geistige Reflexionsgestalt, die scholastische Ontologie, zertrummert hatte, fuhlte sogleich den Trummern, ihrem eigenen Werk gegeniiber Angst vor dem Chaos. Sie zittert vor dem, was unterhalb ihres Herrschaftsbereichs drohend fort-dauert und proportional zu ihrer eigenen Gewalt sich verstarkt. Jene Angst pragte in ihren Anfangen die furs burgerliche Denken insgesamt konstitutive Verhaltensweise aus, jeden Schritt hin zur Emanzipation eilends zu neutralisieren durch Bekraftigung von Ordnung. Im Schatten der Unvollstandigkeit seiner Emanzipation muB das burgerliche BewuBtsein fiirchten, von einem fort-geschritteneren kassiert zu werden; es ahnt, daB es, weil es nicht die ganze Freiheit ist, nur deren Zerrbild hervorbringt; darum weitet es seine Autonomie theoretisch zum System aus, das zu-gleich seinen Zwangsmechanismen ahnelt. Burgerliche ratio unter-nahm es, aus sich heraus die Ordnung zu produzieren, die sie drauBen negiert hatte. Jene ist aber als produzierte schon keine mehr; deshalb unersattlich. Solche widersinnig-rational erzeugte Ordnung war das System: Gesetztes, das als Ansichsein auftritt. Seinen Ursprung muBte es in das von seinem Inhalt abgespaltene formale Denken verlegen; nicht anders konnte es seine Herrschaft ubers Material ausiiben. Das philosophische System war von An-beginn antinomisch. In ihm verschrankte sich der Ansatz mit seiner eigenen Unmoglichkeit; sie hat gerade die fruhere Ge-schichte der neuzeitlichen Systeme zur Vernichtung des einen durchs folgende verurteilt. Die ratio, die, um als System sich durchzusetzen, virtuell alle qualitativen Bestimmungen aus-merzte, auf welche sie sich bezog, geriet in unversohnlichen Wi-derspruch zu der Objektivitat, welcher sie Gewalt antat, indem sie sie zu begreifen vorgab. Von ihr entfernte sie sich desto weiter, je vollkommener sie sie ihren Axiomen, schlieBlich dem einen der Identitat, unterwarf. Die Pedanterien aller Systeme, bis zu den

Idealismus als Wut

architektonischen Umstandlichkeiten Kants und, trotz dessen Programm, selbst Hegels, sind Male eines a priori bedingten und in den Briichen des Kantischen Systems mit unvergleichlicher Red-lichkeit aufgezeichneten MiBlingens; bei Moliere bereits ist Pe-danterie ein Hauptstiick der Ontologie biirgerlichen Geistes. Was an dem zu Begreifenden vor der Identitat des Begriffs zuriick-weicht, notigt diesen zur outrierten Veranstaltung, daB nur ja an der unangreifbaren Luckenlosigkeit, Geschlossenheit und Akribie des Denkprodukts kein Zweifel sich rege. GroBe Philosophie war vom paranoischen Eifer begleitet, nichts zu dulden als sie selbst, und es mit aller List ihrer Vernunft zu verfolgen, wahrend es vor der Verfolgung weiter stets sich zuriickzieht. Der geringste Rest von Nichtidentitat geniigte, die Identitat, total ihrem Begriff nach, zu dementieren. Die Auswiichse der Systeme seit der Car-tesianischen Zirbeldriise und den Axiomen und Definitionen Spinozas, in die schon der gesamte Rationalismus hineingepumpt ist, den er dann deduktiv herausholt, bekunden durch ihre Un-wahrheit die der Systeme selbst, ihr Irres.

Das System, in dem der souverane Geist sich verklart wahnte, hat seine Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung. Raubtiere sind hungrig; der Sprung aufs Opfer ist schwierig, oft gefahrlich. Damit das Tier inn wagt, bedarf es wohl zusatzlicher Impulse. Diese fusionieren sich mit der Unlust des Hungers zur Wut aufs Opfer, deren Ausdruck dieses zweckmaBig wiederum schreckt und lahmt. Beim Fortschritt zur Humanitat wird das rationalisiert durch Projektion. Das animal rationale, das Appetit auf seinen Gegner hat, muB, bereits glucklicher Be-sitzer eines Uberichs, einen Grund finden. Je vollstandiger, was es tut, dem Gesetz der Selbsterhaltung folgt, desto weniger darf es deren Primat sich und anderen zugestehen; sonst wurde der miihsam erreichte Status des 3 ww tcoXitixov, wie es neudeutsch heiBt, unglaubwiirdig. Das zu fressende Lebewesen muB bose sein. Dies anthropologische Schema hat sich sublimiert bis in die Erkennt-nistheorie hinein. Im Ideahsmus—am ausdriicklichsten bei Fichte— waltet bewuBtlos die Ideologie, das Nichtich, l'autrui, schlieBlich alles an Natur Mahnende sei minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltenden Gedankens getrost es verschlingen darf. Das rechtfertigt ebenso dessen Prinzip, wie es die Begierde stei-

Idealismus als Wut

gert. Das System ist der Geist gewordene Bauch, Wut die Signatur eines jeglichen Idealismus; sie entstellt noch Kants Humanitat, widerlegt den Nimbus des Hoheren und Edleren, mit dem sie sich zu bekleiden verstand. Die Ansicht vom Menschen in der Mitte ist der Menschenverachtung verschwistert: nichts unange-fochten lassen. Die erhabene Unerbittlichkeit des Sittengesetzes war vom Schlag solcher rationalisierten Wut aufs Nichtidentische, und auch der liberalistische Hegel war nicht besser, als er mit der Superioritat des schlechten Gewissens die abkanzelte, welche dem spekulativen Begriff, der Hypostasis des Geistes sich weigern*. Nietzsches Befreiendes, wahrhaft eine Kehre des abendlandischen Denkens, die Spatere bloB usurpierten, war, daB er derlei Myste-rien aussprach. Geist, der die Rationalisierung - seinen Bann -abwirft, htirt kraft seiner Selbstbesinnung auf, das radikal Btise zu sein, das im Anderen ihn aufreizt. — Der ProzeB jedoch, in dem die Systeme vermoge ihrer eigenen Insuffizienz sich zersetz-ten, kontrapunktiert einen gesellschaftlichen. Die biirgerliche ratio naherte als Tauschprinzip das, was sie sich kommensurabel ma-chen, identifizieren wollte, mit wachsendem, wenngleich poten-tiell morderischen Erfolg real den Systemen an, lieB immer weni-ger drauBen. Was in der Theorie als eitel sich uberfuhrte, ward ironisch von der Praxis bestatigt. Daher ist die Rede von der Krisis des Systems als Ideologie beliebt geworden auch bei all den Typen, die zuvor in rancuneerfullten Brusttonen ubers Apercu, nach dem bereits obsoleten Ideal des Systems, nicht sich genug-tun konnten. Die Realitat soil nicht mehr konstruiert werden, weil sie allzu grundlich zu konstruieren ware. Ihre Irrationalitat, die unterm Druck partikularer Rationalitat sich verstarkt: die Desintegration durch Integration, bietet dafur Vorwande. Ware die Gesellschaft, als geschlossenes und darum den Subjekten un-versohntes System, durchschaut, so wiirde sie den Subjekten, so-lange sie irgend noch welche sind, allzu peinlich. Das angebliche

* »Das Denken oder Vorstellen, dem nur ein bestimmtes Seyn, das Daseyn, vorschwebt, ist zu dem erwahnten Anfange der Wissenschaft zuriick zu weisen, welchen Parmenides gemacht hat, der sein Vorstellen und damit auch das Vorstellen der Folgezeit zu dem reinen Gedanken, dem Seyn als solchem, ge-lautert und erhoben, und damit das Element der Wissenschaft erschaffen hat.« (Hegel, W 4, S. 96.)

Doppelcharakter des Systeme

Existential Angst ist die Klaustrophobie der System gewordenen Gesellschaft. Ihren Systemcharakter, gestern noch das Schibboleth der Schulphilosophie, verleugnen deren Adepten geflissentlich; ungestraft durfen sie sich dabei als Sprecher freien, urspriing-lichen, womoglich unakademischen Denkens aufspielen. Solcher MiBbrauch annulliert nicht die Kritik am System. Aller nach-driicklichen Philosophic war, im Gegensatz zur skeptischen, die dem Nachdruck sich versagte, der Satz gemeinsam, sie sei nur als System moglich. Er hat die Philosophie kaum weniger gelahmt als die empiristischen Richtungen. Woriiber sie erst triftig zu ur-teilen hatte, das wird postuliert, ehe sie anhebt. System, Darstel-lungsform einer Totalitat, der nichts extern bleibt, setzt den Ge-danken gegeniiber jedem seiner Inhalte absolut und verfliichtigt den Inhalt in Gedanken: idealistisch vor aller Argumentation fur den Idealismus.

Kritik liquidiert aber nicht einfach das System. Mit Grund unter-schied, auf der Hohe von Aufklarung, dAlembert zwischen esprit de Systeme und esprit systematique, und die Methode der Encyclopedie trug dem Rechnung. Nicht nur das triviale Motiv einer Verbundenheit, die doch eher im Unverbundenen sich kri-stallisiert, spricht fur den esprit systematique; nicht nur befriedigt er die Burokratengier, alles in ihre Kategorien zu stopfen. Die Form des Systems ist adaquat der Welt, die dem Inhalt nach der Hegemonie des Gedankens sich entzieht; Einheit und Einstim-migkeit aber sind zugleich die schiefe Projektion eines befriede-ten, nicht langer antagonistischen Zustands auf die Koordinaten herrschaftlichen, unterdriickenden Denkens. Der Doppelsinn phi-losophischer Systematik laBt keine Wahl, als die einmal von den Systemen entbundene Kraft des Gedankens in die offene Bestim-mung der Einzelmomente zu transponieren. Der Hegelschen Lo-gik war das nicht durchaus fremd. Die Mikroanalyse der einzel-nen Kategorien, zugleich als deren objektive Selbstreflexion auf-tretend, sollte, ohne Riicksicht auf ein von oben Aufgestulptes, einen jeden Begriff in seinen anderen ubergehen lassen. DieTotalitat dieser Bewegung dann bedeutete ihm das System. Zwischen des-sen Begriff, als abschlieBendem und damit stillstellendem, und dem der Dynamik, als dem der reinen autarkischen Erzeugung aus dem Subjekt, die alle philosophische Systematik konstituiert,

»Naturgeschichte«

Die Objektivitat des geschichtlichen Lebens ist die von Naturge-schichte. Marx hat das gegen Hegel erkannt, und zwar streng im Zusammenhang mit dem iiber die Kopfe der Subjekte sich reali-sierenden Allgemeinen: »Auchwenn eine Gesellschaft dem Natur-gesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist, — und es ist der letzte Endzweck dieses/Werks, das okonomische Bewegungs-gesetz der modernen Gesellschaft zu enthullen - kann sie natur-gemaBe Entwicklungsphasen weder uberspringen noch wegdekre-tieren ... Die Gestalt von Kapitalist und Grundeigentumer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation okonomischer Kategorien sind, Trager von bestimmten Klassenverhaltnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der okonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen ProzeB auffaBt, den einzelnen verant-wortlich machen fur Verhaltnisse, deren Geschopf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv iiber sie erheben mag.« 47 Gemeint ist gewiB nicht der anthropologische Naturbegriff Feuerbachs, gegen den Marx den dialektischen Materialismus pointierte, im Sinn einer Reprise Hegels wider die Linkshegelianer 48 . Das sogenannte Naturgesetz, das doch nur eines der kapitalistischen Gesellschaft sei, wird daher von Marx Mystifikation genannt: »Das in ein Naturgesetz mystifizierte Gesetz der kapitalistischen Akkumu-lation driickt also in der Tat nur aus, daB ihre Natur jede solche Abnahme im Exploitationsgrad der Arbeit oder jede solche Stei-gerung des Arbeitspreises ausschlieBt, welche die stetige Repro-duktion des Kapitalverhaltnisses und seine Reproduktion auf stets erweiterter Stufenleiter ernsthaft gefahrden konnte. Es kann nicht anders sein in einer Produktionsweise, worin der Arbeiter fur die Verwertungsbedurfnisse vorhandener Werte, statt umge-kehrt der gegenstandliche Reichtum fur die Entwicklungsbe-diirfnisse des Arbeiters da ist.« 49 Naturhaft ist jenes Gesetz we-gen des Charakters seiner Unvermeidlichkeit unter den herr-schenden Verhaltnissen der Produktion. Ideologie iiberlagert nicht das gesellschaftliche Sein als ablosbare Schicht, sondern wohnt ihm inne. Sie griindet in der Abstraktion, die zum Tauschvorgang wesentlich rechnet. Ohne Absehen von den lebendigen Menschen ware nicht zu tauschen. Das impliziert im realen LebensprozeB

System antinomisch

wendiges begrenzt, auch nicht durch sogenannte geistige Ord-nung. Attestiert der Idealismus auf all seinen Stufen seinem Prinzip positive Unendlichkeit, so macht er aus der Beschaffen-heit des Denkens, seiner historischen Verselbstandigung, Metaphy-sik. Er eliminiert alles heterogen Seiende. Das bestimmt das System als reines Werden, reinen ProzeB, schlieBlich jenes absolute Er-zeugen, zu welchem Fichte, insofern der authentische Systemati-ker der Philosophie, das Denken erklart. Bereits bei Kant war die emanzipierte ratio, der progressus ad infinitum, aufgehalten einzig noch durch die wenigstens formale Anerkennung von Nichtidentischem. Die Antinomie von Totalitat und Unendlichkeit - denn das ruhelose Ad infinitum sprengt das in sich ruhende System, das doch der Unendlichkeit allein sich verdankt - ist eine des idealistischen Wesens. Sie ahmt eine zentrale der burgerlichen Gesellschaft nach. Auch diese muB, um sich selbst zu erhalten, sich gleichzubleiben, zu »sein«, immerwahrend sich expandieren, wei-tergehen, die Grenzen immer weiter hinausriicken, keine respek-tieren, sich nicht gleich bleiben 9 . Man hat ihr demonstriert, daB sie, sobald sie einen Plafond erreicht, nicht langer iiber nichtkapi-talistische Raume auBerhalb ihrer selbst verfiigt, ihrem Begriff nach sich aufheben miiBte. Das erhellt, warum der Antike, trotz Aristoteles, der neuzeitliche Begriff der Dynamik ebenso wie der des Systems ungemaB war. Auch dem Piaton, von dessen Dialo-gen so viele die aporetische Form wahlen, konnte beides nur retrospektiv imputiert werden. Der Tadel, den Kant deswegen den Alten spendete, ist nicht so schlicht logisch, wie er vorgetra-gen wird, sondern geschichtlich: durch und durch modern. Ande-rerseits ist Systematik dem neuzeitlichen BewuBtsein so einge-fleischt, daB sogar die unter dem Namen Ontologie einsetzenden antisystematischen Bestrebungen Husserls, von denen dann die Fundamentalontologie sich abzweigte, unwiderstehlich, um den Preis ihrer Formalisierung, ins System sich zuriickbildeten. Der-gestalt miteinander verschrankt, liegen statisches und dynamisches Wesen des Systems immer wieder im Streit. Soil das System tat-sachlich geschlossen sein, nichts auBerhalb seines Bannkreises dul-den, so wird es, sei es noch so dynamisch konzipiert, als positive Unendlichkeit endlich, statisch. DaB es so sich selbst tragt, wie Hegel dem seinen nachriihmte, stellt es still. Geschlossene Systeme

System antinomisdi

miissen, grob gesagt, fertig sein. Skurrilitaten wie die Hegel im-mer wieder vorgerechnete, die Weltgeschichte sei im preuBischen Staat vollendet, sind weder bloBe Aberrationen zu ideologischem Zweck noch irrelevant gegenuber dem Ganzen. An ihrem not-wendigen Widersinn zerfallt die beanspruchte Einheit von System und Dynamik. Diese hat, indem sie den Begriff der Grenze negiert und als Theorie dessen sich versichert, daB immer etwas noch drauBen sei, auch die Tendenz, das System, ihr Produkt, zu desavouieren. Nicht unfruchtbar ware es, die Geschichte der neueren Philosophie unter dem Aspekt zu behandeln, wie sie mit dem Antagonismus von Statik und Dynamik im System sich ab-fand. Das Hegelsche war nicht in sich wahrhaft ein Werdendes, sondern implizit in jeder Einzelbestimmung bereits vorgedacht. Solche Sicherung verurteilt es zur Unwahrheit. BewuBtlos gleich-sam muBte BewuBtsein sich versenken in die Phanomene, zu denen es Stellung bezieht. Damit freilich veranderte Dialektik sich qua-litativ. Systematische Einstimmigkeit zerfiele. Das Phanomen bliebe nicht langer, was es bei Hegel trotz aller Gegenerklarungen doch bleibt, Exempel seines Begriffs. Dem Gedanken biirdet das mehr an Arbeit und Anstrengung auf, als was Hegel so nennt, weil bei ihm der Gedanke immer nur das aus seinen Gegenstanden herausholt, was an sich schon Gedanke ist. Er befriedigt sich, trotz des Programms der EntauBerung, in sich selbst, schnurrt ab, so oft er auch das Gegenteil fordert. EntauBerte wirklich der Gedanke sich an die Sache, galte er dieser, nicht ihrer Kategorie, so beganne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden. Hegel hatte gegen die Erkenntnistheorie eingewandt, man werde nur vom Schmieden Schmied, im Vollzug der Er-kenntnis an dem ihr Widerstrebenden, gleichsam Atheoretischen. Darin ist er beim Wort zu nehmen; das allein gabe der Philosophie die von Hegel so genannte Freiheit zum Objekt zuriick, die sie im Bann des Freiheitsbegriffs, der sinnsetzenden Autonomic des Subjekts, eingebuBt hatte. Die spekulative Kraft, das Unauflosliche aufzusprengen, ist aber die der Negation. Ein-zig in ihr lebt der systematische Zug fort. Die Kategorien der Kritik am System sind zugleich die, welche das Besondere begrei-fen. Was einmal am System legitim das Einzelne uberstieg, hat seine Statte auBerhalb des Systems. Der Blick, der deutend am

Argument und Erfahrung

Phanomen mehr gewahrt, als es bloB ist, und einzig dadurch, was es ist, sakularisiert die Metaphysik. Erst Fragmente als Form der Philosophie brachten die vom Idealismus illusionar entworfe-nen Monaden zu dem Ihren. Sie waren Vorstellungen der als solche unvorstellbaren Totalitat im Partikularen. Der Gedanke, der nichts positiv hypostasieren darf auBerhalb des dialektischen Vollzugs, schieBt iiber den Gegenstand hinaus, mit dem eins zu sein er nicht langer vortauscht; er wird unab-hangiger als in der Konzeption seiner Absolutheit, in der das Souverane und das Willfahrige sich vermengen, eines vom ande-ren in sich abhangig. Vielleicht zielte darauf die Kantische Exemtion der intelligibeln Sphare von jeglichem Immanenten. Versenkung ins Einzelne, die zum Extrem gesteigerte dialektische Immanenz, bedarf als ihres Moments auch der Freiheit, aus dem Gegenstand herauszutreten, die der Identitatsanspruch abschneidet. Hegel hatte sie geriigt: er verlieB sich auf die vollstandige Vermittlung in den Gegenstanden. In der Erkenntnispraxis, der Auflosung des Unaufloslichen, kommt das Moment solcher Transzendenz des Gedankens daran zutage, daB sie als Mikrologie einzig iiber makrologische Mittel verfugt. Die Forderung nach Verbindlich-keit ohne System ist die nach Denkmodellen. Diese sind nicht bloB monadologischer Art. Das Modell trifft das Spezifische und mehr als das Spezifische, ohne es in seinen allgemeineren Ober-begriff zu verfluchtigen. Philosophisch denken ist soviel wie in Modellen denken; negative Dialektik ein Ensemble von Mo-dellanalysen. Philosophie erniedrigte sich erneut zur trostlichen Affirmation, wenn sie sich und andere dariiber betroge, daB sie, womit immer sie ihre Gegenstande in sich selbst bewegt, ihnen auch von auBen einfloBen muB. Was in ihnen selbst wartet, bedarf des Eingriffs, um zu sprechen, mit der Perspektive, daB die von auBen mobilisierten Krafte, am Ende jede an die Phanomene herangebrachte Theorie in jenen zur Ruhe komme. Auch inso-fern meint philosophische Theorie ihr eigenes Ende: durch ihre Verwirklichung. Verwandte Intentionen fehlen nicht in der Ge-schichte. Der franzosischen Aufklarung verleiht ihr oberster Be-griff, der der Vernunft, unterm formalen Aspekt etwas Syste-matisches; die konstitutive Verflochtenheit ihrer Vernunftidee jedoch mit der einer objektiv vernunftigen Einrichtung der Ge-

Argument und Erfahrung

Seilschaft entzieht dem System das Pathos, das es erst wieder ge-winnt, sobald Vernunft als Idee ihrer Verwirklichung absagt und sich selbst zum Geist verabsolutiert. Denken als Enzyklopadie, ein vernunftig Organisiertes und gleichwohl Diskontinuierliches, Unsystematisches, Lockeres driickt den selbstkritischen Geist von Vernunft aus. Er vertritt, was dann aus der Philosophie, ebenso-wohl durch ihren anwachsenden Abstand von der Praxis wie durch ihre Eingliederung in den akademischen Betrieb, entwich, Welterfahrung, jenen Blick fur die Realitat, dessen Moment auch der Gedanke ist. Nichts anderes ist Freiheit des Geistes. So wenig zu entbehren freilich wie das vom kleinburgerlichen Wissen-schaftsethos diffamierte Element des homme de lettres ist dem Denken, was die verwissenschaftlichte Philosophie miBbraucht, das meditative sich Zusammenziehen, das Argument, das soviel Skepsis sich verdiente. Wann immer Philosophie substantiell war, traten beide Momente zusammen. Aus einigem Abstand ware Dialektik als die zum SelbstbewuBtsein erhobene Anstrengung zu charakterisieren, sie sich durchdringen zu lassen. Sonst degene-riert das spezialisierte Argument zur Technik begriffsloser Fach-menschen mitten im Begriff, so wie es heute in der von Robotern erlernbaren und kopierbaren sogenannten analytischen Philosophie akademisch sich ausbreitet. Legitim ist das immanent Argumentative, wo es die zum System integrierte Wirklich-keit rezipiert, um wider sie ihre eigene Kraft aufzubieten. Das Freie am Gedanken dagegen reprasentiert die Instanz, die vom emphatisch Unwahren jenes Zusammenhangs schon weiB. Ohne dies Wissen kame es nicht zum Ausbruch, ohne Zueignung der Gewalt des Systems miBgluckte er. DaB die beiden Momente nicht bruchlos verschmelzen, hat seinen Grund in der realen Macht des Systems, die einbezieht, auch was es potentiell ubersteigt. Die Unwahrheit des Immanenzzusammenhangs selber jedoch er-schlieBt sich der uberwaltigenden Erfahrung, daB die Welt, wel-che so systematisch sich organisiert, wie wenn sie die von Hegel glorifizierte verwirklichte Vernunft ware, zugleich in ihrer alten Unvernunft die Ohnmacht des Geistes verewigt, der allmachtig erscheint. Immanente Kritik des Idealismus verteidigt den Idea-lismus, insofern sie zeigt, wie sehr er um sich selber betrogen wird; wie sehr das Erste, das ihm zufolge immer der Geist ist,

Argument und Erfahrung

in Komplizitat mit der blinden Vormacht des bloB Seienden steht. Die Lehre vom absoluten Geist befordert jene unmittelbar. — Geneigt ware der wissenschaftliche Consensus, zuzugestehen, auch Erfahrung impliziere Theorie. Sie aber sei ein »Standpunkt«, bestenfalls hypothetisch. Konzilante Vertreter des Szientivismus verlangen, was ihnen anstandige oder saubere Wissenschaft heiBt, solle von derlei Voraussetzungen Rechenschaft ablegen. Gerade diese Forderung ist unvereinbar mit geistiger Erfahrung. Wird ihr ein Standpunkt abverlangt, dann ware er der des Essers zum Braten. Sie lebt von ihm, indem sie ihn aufzehrt: erst wenn er unterginge in ihr, ware das Philosophie. Bis dahin verkorpert Theorie in der geistigen Erfahrung jene Disziplin, die Goethe be-reits im Verhaltnis zu Kant schmerzlich empfand. UberlieBe Erfahrung allein sich ihrer Dynamik und ihrem Gliick, so ware kein Halten. Ideologie lauert auf den Geist, der, seiner selbst sich freuend wie Nietzsches Zarathustra, unwiderstehlich fast sich zum Absoluten wird. Theorie verhindert das. Sie berichtigt die Naivetat seines Selbstvertrauens, ohne daB er doch die Spontanei-tat opfern muBte, auf welche Theorie ihrerseits hinaus will. Denn keineswegs verschwindet der Unterschied zwischen dem soge-nannten subjektiven Anteil der geistigen Erfahrung und ihrem Objekt; die notwendige und schmerzliche Anstrengung des er-kennenden Subjekts bezeugt ihn. Im unversohnten Stand wird Nichtidentitat als Negatives erfahren. Davor weicht das Subjekt auf sich und die Fulle seiner Reaktionsweisen zuriick. Einzig kri-tische Selbstreflexion behutet es vor der Beschranktheit seiner Fulle und davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen, sein Fursichsein als das An und fur sich zu supponieren. Je weniger Identitat zwischen Subjekt und Objekt unterstellt werden kann, desto widerspruchsvoller, was jenem als erkennen-dem zugemutet wird, ungefesselte Starke und aufgeschlossene Selbstbesinnung. Theorie und geistige Erfahrung bediirfen ihrer Wechselwirkung. Jene enthalt nicht Antworten auf alles, son-dern reagiert auf die bis ins Innerste falsche Welt. Was deren Bann entriickt ware, dariiber hat Theorie keine Jurisdiktion. Be-weglichkeit ist dem BewuBtsein essentiell, keine zufallige Eigen-schaft. Sie meint eine gedoppelte Verhaltensweise: die von innen her, den immanenten ProzeB, die eigentlich dialektische; und

Das Schwindelerregende

eine freie, gleichwie aus der Dialektik heraustretende, ungebun-dene. Beides indessen ist nicht nur disparat. Der unreglementierte Gedanke ist wahlverwandt der Dialektik, die als Kritik am System an das erinnert, was auBerhalb des Systems ware; und die Kraft, welche die dialektische Bewegung in der Erkenntnis entbindet, ist die, welche gegen das System aufbegehrt. Beide Stellungen des BewuBtseins verbinden sich durch Kritik anein-ander, nicht durch KompromiB.

Dialektik, die nicht langer an die Identitat »geheftet« 10 ist, pro-voziert, wo nicht den Einwand des Bodenlosen, der an seinen faschistischen Friichten zu erkennen ist, den des Schwindelerre-genden. Der groBen Dichtung der Moderne seit Baudelaire ist das Gefuhl davon zentral; der Philosophie wird anachronistisch bedeutet, sie durfe an nichts dergleichen teilhaben. Man soil sagen, was man will; Karl Kraus muBte erfahren, daB, je ge-nauer jeder seiner Satze das bekundete, eben um solcher Genauig-keit willen das verdinglichte BewuBtsein zeterte, es ginge ihm wie ein Muhlrad im Kopf herum. Der Sinn solcher Beschwerden ist an einem Usus der herrschenden Meinung zu greifen. Mit Vor-liebe prasentiert sie Alternativen, zwischen denen zu wahlen, deren eine anzukreuzen sei. So reduzieren Entscheidungen einer Verwaltung haufig sich auf das Ja oder Nein zu vorgelegten Ent-wiirfen; insgeheim ist Verwaltungsdenken zum ersehnten Vorbild auch eines vorgeblich noch freien geworden. Aber am philosophi-schen Gedanken ist es, in seinen wesentlichen Situationen, dabei nicht mitzuspielen. Die vorgegebene Alternative ist bereits ein Stuck Heteronomie. Uber die Legitimitat alternativer Forderun-gen ware erst von dem BewuBtsein zu urteilen, dem die Entschei-dung vorweg moralistisch zugemutet wird. Die Insistenz auf dem Bekenntnis zu einem Standpunkt ist der in die Theorie hin-ein verlangerte Gewissenszwang. Ihm entspricht Vergrobe-rung. Sie behalt nicht einmal bei den groBen Theoremen deren wahres zuriick nach Ausmerzung des Beiwerks; Marx und Engels haben dagegen etwa sich gestraubt, daB man die dynami-sche Klassentheorie und ihren zugespitzten okonomischen Aus-druck durch den einfacheren Gegensatz von Arm und Reich

Das Schwindelerregende

verwassere. Das Wesen wird durchs Resume des Wesentlichen verfalscht. Philosophie, die zu dem sich herablieBe, woriiber schon Hegel spottete; geneigten Lesern sich anbequemte in Er-klarungen dariiber, was man nun bei dem Gedanken sich zu denken habe, gliederte der vordringenden Regression sich ein, ohne doch mit ihr Schritt zu halten. Hinter der Sorge, wo sie derm wohl zu packen sei, steht meist nur Aggression, die Begierde, sie zu packen, wie historisch die Schulen einander fraBen. Die Aquivalenz von Schuld und BuBe hat sich auf die Folge der Gedanken ubertragen. Eben diese Assimilation des Geistes an das herrschende Prinzip ist von der philosophischen Reflexion zu durchschauen. Das traditionelle Denken und die Gewohnheiten des gesunden Menschenverstandes, die es hinterlieB, nachdem es philosophisch verging, fordern ein Bezugssystem, ein frame of reference, in dem alles seine Stelle finde. Nicht einmal allzuviel Wert wird auf die Einsichtigkeit des Bezugssystems gelegt - es darf sogar in dogmatischen Axiomen niedergelegt werden —, wo-fern nur jede Uberlegung lokalisierbar wird und der ungedeckte Gedanke ferngehalten. Demgegenuber wirft Erkenntnis, damit sie fruchte, a fond perdu sich weg an die Gegenstande. Der Schwindel, den das erregt, ist ein index veri; der Schock des Offe-nen, die Negativitat, als welche es im Gedeckten und Immerglei-chen notwendig erscheint, Unwahrheit nur furs Unwahre. Die Demontage der Systeme und des Systems ist kein formal-erkenntnistheoretischer Akt. Was ehedem das System den Details anschaffen wollte, ist einzig in ihnen aufzusuchen. Weder ob es dort sei noch was es sei, ist vorher dem Gedanken verburgt. Damit erst kame die durchweg miBbrauchliche Rede von der Wahr-heit als dem Konkreten zu sich selbst. Sie notigt das Denken, vorm Kleinsten zu verweilen. Nicht iiber Konkretes ist zu philo-sophieren, vielmehr aus ihm heraus. Hingabe an den spezifischen Gegenstand aber wird des Mangels an eindeutiger Position ver-dachtigt. Was anders ist als das Existente, gilt diesem fur Hexerei, wahrend in der falschen Welt Nahe, Heimat und Sicherheit ihrer-seits Figuren des Bannes sind. Mit diesem furchten die Menschen alles zu verlieren, weil sie kein anderes Gliick, auch keines des Gedankens kennen, als daB man sich an etwas halten kann, die perennierende Unfreiheit. Verlangt wird wenigstens ein Stuck

Zerbrechlichkeit des Wahren

Ontologie inmitten von deren Kritik; als ob nicht die kleinste ungedeckte Einsicht besser ausdriickte, was gewollt ist, als eine declaration of intention, bei der es dann bleibt. An Philosophie bestatigt sich eine Erfahrung, die Schonberg an der traditionellen Musiktheorie notierte: man lerne aus dieser eigentlich nur, wie ein Satz anfange und schlieBe, nichts iiber ihn selber, seinen Ver-lauf. Analog hatte Philosophie nicht sich auf Kategorien zu brin-gen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muB in ihrem Fortgang unablassig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich miBt; was in ihr sich zutragt, entscheidet, nicht These oder Position; das Ge-webe, nicht der deduktive oder induktive, eingleisige Gedanken-gang. Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst ware sie uberflussig; daB sie meist sich referieren laBt, spricht gegen sie. Aber eine Verhaltensweise, die nichts Erstes und Siche-res hutet und doch, allein schon vermoge der Bestimmtheit ihrer Darstellung, dem Relativismus, dem Bruder des Absolutismus, so wenig Konzessionen macht, daB sie der Lehre sich nahert, be-reitet Argernis. Sie treibt, bis zum Bruch, iiber Hegel hin-aus, dessen Dialektik alles haben, auch prima philosophia sein wollte und im Identitatsprinzip, dem absoluten Subjekt, tatsach-lich es war. Durch die Lossage des Denkens vom Ersten und Festen indessen verabsolutiert es nicht sich als freischwebend. Die Lossage gerade befestigt es an dem, was es nicht selbst ist, und beseitigt die Illusion seiner Autarkie. Das Falsche der losgelasse-nen, sich selbst entlauf enden Rationalitat, der Umschlag von Auf-klarung in Mythologie, ist selbst rational bestimmbar. Denken ist dem eigenen Sinn nach Denken von etwas. Noch in der logi-schen Abstraktionsform des Etwas, als eines Gemeinten oder Ge-urteilten, die von sich aus kein Seiendes zu setzen behauptet, lebt untilgbar dem Denken, das es tilgen mochte, dessen Nichtidenti-sches, das, was nicht Denken ist, nach. Ratio wird irrational, wo sie das vergiBt, ihre Erzeugnisse, die Abstraktionen, wider den Sinn von Denken hypostasiert. Das Gebot seiner Autarkie verurteilt es zur Leere, am Ende zur Dummheit und Primitivitat. Der Ein-wand gegen das Bodenlose ware gegen das sich in sich selbst er-haltende geistige Prinzip als Sphare absoluter Urspriinge zu wen-den; dort aber, wo die Ontologie, Heidegger voran, aufs Boden-

Zerbrechlichkeit des Wahren

lose schlagt, ist der Ort von Wahrheit. Schwebend ist sie, zer-brechlich vermoge ihres zeitlichen Gehalts; Benjamin kritisierte eindringlich Gottfried Kellers urbiirgerlichen Spruch, die Wahrheit konne uns nicht davonlaufen. Auf die Trostung, Wahrheit sei unverlierbar, hat Philosophic zu verzichten. Eine, die nicht abstiirzen kann in den Abgrund, von dem die Fundamentalisten der Metaphysik salbadern - es ist nicht der behender Sophistik sondern des Wahnsinns -, wird, unterm Gebot ihres Sekuritats-prinzips, analytisch, potentiell zur Tautologie. Nur solche Ge-danken bieten der allmachtigen Ohnmacht des sicheren Einver-standnisses die Stirn, die bis zum AuBersten gehen; nur Gehirn-akrobatik hat noch Beziehung zu der Sache, die sie nach der fable convenu ihrer Selbstbefriedigung zuliebe verachtet. Kein unre-flektiert Banales kann, als Abdruck des falschen Lebens, noch wahr sein. Reaktionar ist heute jeder Versuch, den Gedanken, zumal seiner Verwendbarkeit zuliebe, mit der Phrase von seiner selbstgefalligen Uberspitztheit und Unverbindlichkeit aufzuhal-ten. Das Argument lieBe auf die vulgare Form sich bringen: wenn du willst, kann ich ungezahlte solche Analysen machen. Da-durch wird eine jede entwertet. Die Antwort erteilte Peter Alten-berg einem, der nach demselben Muster seine Kurzformen ver-dachtigte: ich will es aber nicht. Gegens Risiko des Abgleitens ins Beliebige ist der offene Gedanke ungeschiitzt; nichts verbrieft ihm, ob er hinlanglich mit der Sache sich gesattigt hat, um jenes Risiko zu uberstehen. Die Konsequenz seiner Durchfuhrung aber, die Dichte des Gewebes tragt dazu bei, daB er trifft, was er soil. Die Funktion des Begriffs von Sicherheit in der Philosophie schlug um. Was einmal Dogma und Bevormundung durch SelbstgewiB-heit uberholen wollte, wurde zur Sozialversicherung einer Er-kenntnis, der nichts soil passieren konnen. Dem Einwandfreien passiert tatsachlich nichts.

In der Geschichte der Philosophie wiederholt sich die Verwand-lung epistemologischer Kategorien in moralische; Fichtes Kant-interpretation ist dafur der auffalligste, nicht der einzige Beleg. Ahnliches trug sich zu mit dem logisch-phanomenologischen Ab-solutismus. Das Argernis bodenlosen Denkens fur Fundamental-ontologen ist der Relativismus. Diesem setzt Dialektik so schroff sich entgegen wie dem Absolutismus; nicht, indem sie eine mitt-

Gegen Relativismus

lere Position zwischen beiden aufsucht, sondern durch die Extreme hindurch, die an der eigenen Idee ihrer Unwahrheit zu uberfuhren sind. So mit dem Relativismus zu verfahren ist fallig, weil Kritik an ihm meist so formal angelegt war, daB die Fiber relativistischen Denkens einigermaBen unbehelligt blieb. Das wider Spengler, seit Leonard Nelson, beliebte Argument etwa, der Relativismus setze zumindest ein Absolutes, namlich die Geltung seiner selbst voraus und widerspreche sich damit, ist armselig. Es verwechselt die allgemeine Negation eines Prinzips mit ihrer eigenen Erhebung zur Affirmation, ohne Riicksicht auf die spezifische Differenz des Stellenwertes von beidem. Mehr diirfte es fruchten, den Relativismus als eine beschrankte Gestalt des BewuBtseins zu erkennen. Zunachst war es die des burger-lichen Individualismus, der das seinerseits durchs Allgemeine ver-mittelte individuelle BewuBtsein furs letzte nimmt und darum den Meinungen der je einzelnen Individuen gleiches Recht zu-spricht, als ob kein Kriterium ihrer Wahrheit ware. Die abstrakte These von der Bedingtheit jeden Denkens ist hochst inhaltlich an die eigene zu erinnern, die Verblendung gegen das iiber-individuelle Moment, durch welches individuelles BewuBtsein allein Denken wird. Hinter jener These steht die Verachtung des Geistes zugunsten der Vormacht materieller Verhaltnisse als des Einzigen, das da zahle. Der Vater halt unbequemen und dezi-dierten Ansichten seines Sohnes entgegen, alles sei relativ, Geld sei, wie im griechischen Sprichwort, der Mann. Relativismus ist Vulgarmaterialismus, der Gedanke stort den Erwerb. Feindselig gegen den Geist schlechthin, bleibt solche Haltung notwendig abstrakt. Die Relativitat aller Erkenntnis kann immer nur von auBen behauptet werden, solange keine biindige Erkenntnis voll-zogen wird. Sobald BewuBtsein in eine bestimmte Sache eintritt und deren immanentem Anspruch auf Wahrheit oder Falschheit sich stellt, zergeht die angeblich subjektive Zufalligkeit des Ge-dankens. Nichtig aber ist der Relativismus darum, weil, was er einerseits fur beliebig und zufallig, andererseits fur irreduzibel halt, selbst aus der Objektivitat - eben der einer individualisti-schen Gesellschaft - entspringt, abzuleiten ist als gesellschaftlich notwendiger Schein. Die nach relativistischer Doktrin dem je Einzelnen eigentumlichen Reaktionsweisen sind praformiert, stets

Gegen Relativismus

fast Geblok; insbesondere das Stereotyp von der Relativitat. Der individualistische Schein ist denn auch von gewitzigteren Relativisten wie Pareto auf Gruppeninteressen gebracht wor-den. Aber die wissenssoziologisch gesetzten, schichtenspezifischen Schranken von Objektivitat sind ihrerseits erst recht deduzibel aus dem Ganzen der Gesellschaft, dem Objektiven. Wahnt eine spate Version des soziologischen Relativismus, die Mannheimsche, aus den verschiedenen Perspektiven der Schichten mit »freischwe-bender« Intelligenz wissenschaftliche Objektivitat destillieren zu konnen, so verkehrt sie Bedingendes in Bedingtes. In Wahr-heit haben die divergenten Perspektiven ihr Gesetz in der Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als eines vorgeordneten Ganzen. Durch dessen Erkenntnis verlieren sie ihre Unverbind-lichkeit. Ein Unternehmer, der nicht in der Konkurrenz unter-liegen will, muB so kalkulieren, daB ihm der unvergutete Teil des Ertrags fremder Arbeit als Profit zufallt, und muB denken, dabei gleich um gleich — die Arbeitskraft gegen ihre Reproduktions-kosten — zu tauschen; ebenso stringent aber ist darzutun, warum dies objektiv notwendige BewuBtsein objektiv falsch ist. Dies dialektische Verhaltnis hebt seine partikularen Momente in sich auf. Die angeblich soziale Relativitat der Anschauungen gehorcht dem objektiven Gesetz gesellschaftlicher Produktion unterm Pri-vateigentum an den Produktionsmitteln. Burgerliche Skepsis, die der Relativismus als Doktrin verkorpert, ist borniert. Doch die perennierende Geistfeindschaft ist mehr als bloB ein Zug subjek-tiv burgerlicher Anthropologie. Sie wird gezeitigt davon, daB der einmal emanzipierte Begriff der Vernunft innerhalb der be-stehenden Produktionsverhaltnisse furchten muB, daB seine Kon-sequenz diese sprengt. Deshalb begrenzt sich die Vernunft; das burgerliche Zeitalter hindurch war die Idee der Autonomie des Geistes von dessen reaktiver Selbstverachtung begleitet. Er ver-zeiht es sich nicht, daB ihm die Verfassung des von ihm gesteuer-ten Daseins jene Entfaltung zur Freiheit verbietet, die in seinem eigenen Begriff liegt. Relativismus ist dafur der philosophische Ausdruck; kein dogmatischer Absolutismus braucht gegen inn aufgeboten zu werden, inn bricht der Nachweis seiner Enge. Stets war dem Relativismus, mochte er noch so progressiv sich gebar-den, das reaktionare Moment gesellt, schon in der Sophistik als

Dialektik und das Feste

Verfugbarkeit fur die starkeren Interessen. Eingreifende Kritik des Relativismus ist das Paradigma bestimmter Negation. Entfesselte Dialektik entbehrt so wenig wie Hegel eines Festen. Doch verleiht sie ihm nicht langer den Primat. Hegel betonte es nicht so sehr im Ursprung seiner Metaphysik: es sollte aus ihr am Ende, als durchleuchtetes Ganzes, hervortreten. Dafur haben seine logischen Kategorien eigentumlichen Doppelcharakter. Sie sind entsprungene, sich aufhebende und zugleich apriorische, invariante Strukturen. Mit der Dynamik werden sie in Einklang gebracht durch die Doktrin von der auf jeder dialektischen Stufe erneut sich wiederherstellenden Unmittelbarkeit. Die bereits bei Hegel kritisch tingierte Theorie der zweiten Natur ist einer nega-tiven Dialektik unverloren. Sie nimmt die unvermittelte Unmittelbarkeit, die Formationen, welche die Gesellschaft und ihre Entwicklung dem Gedanken prasentiert, tel quel an, um durch Analysis ihre Vermittlungen freizulegen, nach dem MaB der im-manenten Differenz der Phanomene von dem, was sie von sich aus zu sein beanspruchen. Das sich durchhaltende Feste, das »Posi-tive« des jungen Hegel, ist solcher Analyse, wie diesem, das Negative. Noch in der Vorrede zur Phanomenologie wird Denken, Erzfeind jener Positivitat, als das negative Prinzip charakteri-siert*. Darauf fuhrt die einfachste Besinnung: was nicht denkt, sondern der Anschauung sich uberlaBt, neigt zum schlecht Posi-tiven vermoge jener passivischen Beschaffenheit, die in der Ver-nunftkritik die sinnliche Rechtsquelle der Erkenntnis bezeichnet. Etwas so empfangen, wie es jeweils sich darbietet, unter Verzicht auf Reflexion, ist potentiell immer schon: es anerkennen, wie es ist; dagegen veranlaBt jeder Gedanke virtuell zu einer nega-tiven Bewegung. Bei Hegel freilich bleibt trotz aller Behaup-tung des Gegenteils der Primat von Subjekt ubers Objekt unan-gefochten. Inn cachiert eben nur das semitheologische Wort

*»Die Thatigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und groBten, oder vielmehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz seine Momente halt, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame VerhaltniB. Aber daB das von seinem Umfange getrennte Accidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem Wirkliche ein eigenes Daseyn und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs.« (Hegel, WW 2, S. 33 f.)

Dialektik und das Feste

Geist, an dem die Erinnerung an individuelle Subjektivitat nicht getilgt werden kann. Der Hegelschen Logik wird dafur die Rech-nung prasentiert in ihrem iiberaus formalen Charakter. Wahrend sie dem eigenen Begriff nach inhaltlich sein miiBte, scheidet sie im Bestreben, alles zugleich zu sein, Metaphysik und Kategorien-lehre, das bestimmte Seiende aus sich aus, an dem ihr Ansatz erst sich legitimieren konnte; darin gar nicht so weit weg von Kant und Fichte, die als Sprecher abstrakter Subjektivitat zu verur-teilen Hegel nicht miide wird. Die Wissenschaft von der Logik ist ihrerseits abstrakt im einfachsten Sinn; die Reduktion auf die allgemeinen Begriffe merzt vorweg schon deren Widerspiel aus, jenes Konkrete, das idealistische Dialektik in sich zu tragen und zu entfalten sich ruhmt. Der Geist gewinnt seine Schlacht gegen den nicht vorhandenen Feind. Hegels geringschatzige AuBerung liber das kontingente Dasein, die Krugsche Feder, welche Philosophic aus sich zu deduzieren verschmahen durfe und musse, ist ein Haltet den Dieb. Indem die Hegelsche Logik immer schon es mit dem Medium des Begriffs zu tun hat und auf das Verhaltnis des Begriffs zu seinem Inhalt, dem Nichtbegrifflichen, selber nur allgemein reflektiert, ist sie der Absolutheit des Begriffs, welche sie zu beweisen sich anheischig macht, vorher schon sicher. Je mehr aber die Autonomie von Subjektivitat kritisch sich durchschaut, sich ihrer als eines ihrerseits Vermittelten bewuBt wird, desto biindiger die Verpflichtung des Gedankens, mit dem es aufzu-nehmen, was ihm die Festigkeit einbringt, die er nicht in sich hat. Sonst ware nicht einmal jene Dynamik, mit welcher Dialektik die Last des Festen bewegt. Nicht ist jegliche als primar auftretende Erfahrung blank zu verleugnen. Fehlte der Erfahrung des Be-wuBtseins ganzlich, was Kierkegaard als Naivetat verteidigte, so willfahrte Denken, irrgeworden an sich selbst, dem, was das Etablierte von ihm erwartet, und wiirde erst recht naiv. Selbst Termini wie Urerfahrung, kompromittiert durch Phanomeno-logie und Neu-Ontologie, designieren ein Wahres, wahrend sie es gespreizt beschadigen. Wenn sich nicht spontan, unbekummert um die eigenen Abhangigkeiten, der Widerstand gegen die Fassade regte, so waren Gedanken und Tatigkeit triibe Kopie. Was am Objekt dessen vom Denken ihm auferlegte Bestimmungen iiber-steigt, kehrt es dem Subjekt erst einmal als Unmittelbares zu;

Dialektik und das Feste

wo das Subjekt seiner selbst ganz gewiB sich fiihlt, in der primaren Erfahrung, ist es wiederum am wenigsten Subjekt. Das Aller-subjektivste, unmittelbar Gegebene, entzieht sich seinem Eingriff. Nur ist solches unmittelbare BewuBtsein weder kontinuierlich festzuhalten noch positiv schlechthin. Denn BewuBtsein ist zu-gleich die universale Vermittlung und kann auch in den donnees immediates, welche die seinen sind, nicht iiber seinen Schatten sprin-gen. Sie sind nicht die Wahrheit. Idealistischer Schein ist die Zu-versicht, aus Unmittelbarem als Festem und schlechterdings Er-stem entspringe bruchlos das Ganze. Unmittelbarkeit bleibt der Dialektik nicht, als was sie unmittelbar sich gibt. Sie wird zum Moment anstatt des Grundes. Am Gegenpol verhalt es mit den Invarianten reinen Denkens sich nicht anders. Einzig kindischer Relativismus bestritte die Gultigkeit der formalen Logik oder Mathematik und traktierte sie, weil sie geworden ist, als ephemer. Nur sind die Invarianten, deren eigene Invarianz ein Produ-ziertes ist, nicht aus dem, was variiert, herauszuschalen, als hatte man dann alle Wahrheit in Handen. Diese ist zusammengewachsen mit dem Sachhaitigen, das sich verandert, und ihre Unveranderlich-keit der Trug der prima philosophia. Wahrend die Invarianten nichtunterschiedslosin der geschichtlichen Dynamik und der desBe-wuBtseins sich losen, sind sie in ihr Momente; sie gehen in Ideologic iiber, sobald sie als Transzendenz fixiert werden. Keines-wegs gleicht Ideologie allemal der ausdriicklichen idealistischen Philosophie. Sie steckt in der Substruktion eines Ersten selbst, gleichgultig fast welchen Inhalts, in der impliziten Identitat von Begriff und Sache, welche die Welt auch dann rechtfertigt, wenn summarisch die Abhangigkeit des BewuBtseins vom Sein gelehrt wird.

In schroffem Gegensatz zum ublichen Wissenschaftsideal bedarf die Objektivitat dialektischer Erkenntnis nicht eines Weniger sondern eines Mehr an Subjekt. Sonst verkiimmert philosophische Erfahrung. Aber der positivistische Zeitgeist ist allergisch da-gegen. Zu solcher Erfahrung seien nicht alle fahig. Sie bilde das Vorrecht von Individuen, determiniert durch ihre Anlage und Lebensgeschichte; sie als Bedingung von Erkenntnis zu verlangen,

Privileg der Erfahrung

sei elitar und undemokratisch. Zu konzedieren ist, daB tatsachlich nicht jeder gleichermaBen philosophische Erfahrungen etwa der-art machen kann, wie alle Menschen von vergleichbarem Intelli-genzquotienten naturwissenschaftliche Experimente wiederholen oder mathematische Deduktionen muBten einsehen konnen, ob-wohl dazu nach gangiger Meinung erst recht spezifische Begabung notwendig ist. Jedenfalls behalt der subjektive Anted an Philosophic, verglichen mit der virtuell subjektlosen Rationalitat eines Wissenschaftsideals, dem die Ersetzbarkeit aller durch alle vor Augen steht, einen irrationalen Zusatz. Er ist keine Natur-qualitat. Wahrend das Argument demokratisch sich gebardet, ignoriert es, was die verwaltete Welt aus ihren Zwangsmitglie-dern macht. Geistig konnen nur die dagegen an, die sie nicht ganz gemodelt hat. Kritik am Privileg wird zum Privileg: so dialek-tisch ist der Weltlauf. Fiktiv ware es, zu unterstellen, unter ge-sellschaftlichen Bedingungen, zumal solchen der Bildung, welche die geistigen Produktivkrafte gangeln, zurechtstutzen, vielfach ver-kriippeln; unter der vorwaltenden Bilderarmut und den von der Psychoanalyse diagnostizierten, keineswegs indessen real ver-anderten pathogenen Prozessen der fruhen Kindheit konnten alle alles verstehen oder auch nur bemerken. Wurde das erwartet, so richtete man die Erkenntnis nach den pathischen Zugen einer Menschheit ein, der die Moglichkeit, Erfahrungen zu machen, durchs Gesetz der Immergleichheit ausgetrieben wird, sofern sie sie uberhaupt besaB. Die Konstruktion der Wahrheit nach Ana-logie einer volonte de tous - auBerste Konsequenz des subjektiven Vernunftbegriffs — betroge im Namen aller diese um das, dessen sie bediirfen. An denen, die das unverdiente Gluck hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen — ein Gliick, das sie im Verhaltnis zur Umwelt oft genug zu biiBen haben -, ist es, mit moralischem EfFort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, fur welche sie es sagen, nicht zu sehen vermogen oder sich aus Realitatsgerechtigkeit zu sehen verbieten. Kriterium des Wahren ist nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann. Zu widerstehen ist der fast universalen Notigung, die Kommuni-kation des Erkannten mit diesem zu verwechseln und womoglich hoher zu stellen, wahrend gegenwartig jeder Schritt zur Kom-

Privileg der Erfahrung

munikation hin die Wahrheit ausverkauft und verfalscht. An dieser Paradoxic laboriert mittlerweile alles Sprachliche. Wahrheit ist objektiv und nicht plausibel. So wenig sie unmittelbar irgendeinem zufallt und so sehr sie der subjektiven Vermittlung bedarf, so sehr gilt, fur ihr Geflecht, was Spinoza allzu enthu-siastisch schon fur die Einzel Wahrheit reklamierte: daB sie der Index ihrer selbst sei. Den Privilegcharakter, welchen die Rancune ihr vorrechnet, verliert sie dadurch, daB sie sich nicht auf die Er-fahrungen herausredet, denen sie sich verdankt, sondern in Kon-figurationen und Begrundungszusammenhange sich einlaBt, die ihr zur Evidenz helfen oder sie ihrer Mangel uberfuhren. Elitarer Hochmut shinde der philosophischen Erfahrung am letzten an. Sie muB sich Rechenschaft dariiber geben, wie sehr sie, ihrer Mog-lichkeit im Bestehenden nach, mit dem Bestehenden, schlieBlich dem Klassenverhaltnis kontaminiert ist. In ihr wenden sich Chancen, die das Allgemeine Einzelnen desultorisch gewahrt, ge-gen das Allgemeine, das die Allgemeinheit solcher Erfahrung sabotiert. Ware diese Allgemeinheit hergestellt, so veranderte damit sich die Erfahrung aller Einzelnen und wiirfe vieles ab von der Zufalligkeit, die bis dahin unheilbar sie entstellt, auch wo sie noch sich regt. Hegels Lehre, das Objekt reflektiere sich in sich selbst, uberdauert ihre idealistische Version, weil einer verander-ten Dialektik das Subjekt, seiner Souveranitat entkleidet, virtuell erst recht zur Reflexionsform der Objektivitat wird. Je weniger die Theorie definitiv, allumfassend sich geriert, desto weniger vergegenstandlicht sie sich auch gegeniiber dem Denkenden. Ihm gestattet die Verfluchtigung des Systemzwangs, aufs eigene Be-wuBtsein und die eigene Erfahrung unbefangener sich zu ver-lassen, als die pathetische Konzeption einer Subjektivitat es dul-dete, die ihren abstrakten Triumph mit dem Verzicht auf ihren spezifischen Gehalt zu bezahlen hat. Das ist jener Emanzipation der Individualitat gemaB, die in der Periode zwischen dem gro-Ben Idealismus und der Gegenwart sich zutrug, und deren Errun-genschaften, trotz und wegen des gegenwartigen Drucks kollek-tiver Regression, theoretisch so wenig zu widerrufen sind wie die Impulse der Dialektik von 1800. Wohl hat der Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts die objektivierende Kraft des Gei-stes - die zur Einsicht in die Objektivitat und zu deren Konstruk-

Qualitat und Individuum

tion-geschwacht, aber auch ihm eine Differenziertheit erworben, welche die Erfahrung des Objekts kraftigte. Sich dem Objekt iiberlassen ist soviel wie dessen qualitativen Momenten gerecht werden. Die szientifische Objektivierung neigt, einig mit der Quantifizierungstendenz aller Wissenschaft seit Descartes, dazu, die Qualitaten auszuschalten, in meBbare Bestim-mungen zu verwandeln. Dem entspricht, auf der subjektiven Seite, die Reduktion des Erkennenden zu einem qualitatslos All-gemeinen, rein Logischen. Wohl wurden die Qualitaten erst in einem Stande frei, der gesellschaftlich nicht langer unterm Diktat der Quantifizierung stunde und nicht langer dem, der sich adaquat verhalten muB, Quantifizierung als Norm gebote. Aber jene ist nicht das zeitlose Wesen, als welche Mathematik, ihr Instrument, sie erscheinen laBt. Wie sie wurde, ist sie verganglich. In der Sache wartet das Potential ihrer Qualitaten. Es fordert das voile Sub-jekt, nicht sein transzendentales Residuum. Je mehr von seinen Reaktionen als angeblich bloB subjektiv verpont werden, um so mehr an qualitativen Bestimmungen der Sache entgeht der Er-kenntnis. Das Ideal des Differenzierten und Nuancierten, das Er-kenntnis trotz alles Science is measurement bis zu den jiingsten Entwicklungen nie ganz vergaB, bezieht sich nicht allein auf eine individuelle, fur Objektivitat entbehrliche Fahigkeit. Seinen Im-puls empfangt es von der Sache. Differenziert ist, wer an dieser und in ihrem Begriff noch das Kleinste und dem Begriff Entschliip-fende zu unterscheiden vermag; einzig Differenziertheit reicht ans Kleinste heran. In ihrem Postulat, dem des Vermogens zur Erfahrung des Objekts - und Differenziertheit ist dessen zur subjektiven Reaktionsform gewordene Erfahrung—findet das mime-tische Moment der Erkenntnis Zuflucht, das der Wahlverwandt-schaft von Erkennendem und Erkanntem. Im GesamtprozeB der Aufklarung brockelt dies Moment allmahlich ab. Aber er be-seitigt es nicht ganz, wofern er nicht sich selbst annullieren will. Noch in der Konzeption rationaler Erkenntnis, bar aller Affi-nitat, lebt das Tasten nach jener Konkordanz fort, die einmal der magischen Tauschung fraglos war. Ware dies Moment ganzlich getilgt, so wiirde die Moglichkeit, daB Subjekt Objekt erkennt, unverstandlich schlechthin, die losgelassene Rationalitat irrational. Das mimetische Moment seinerseits jedoch verschmilzt auf

Qualitat und Individuum

der Bahn seiner Sakularisierung mit dem rationalen. Dieser Pro-ze6 faBt sich als Differenziertheit zusammen. Sie enthalt ebenso mimetisches Reaktionsvermogen in sich wie das logische Organ furs Verhaltnis von Genus, Species und differentia specifica. Da-bei bleibt dem differenzierenden Vermogen soviel an Zufalligkeit gesellt wie jeglicher ungeschmalerten Individualitat gegeniiber dem Allgemeinen ihrer Vernunft. Diese Zufalligkeit indessen ist nicht so radikal, wie es den Kriterien des Szientivismus gefiele. Hegel war sonderbar inkonsequent, als er das individuelle BewuBt-sein Schauplatz der geistigen Erfahrung, die sein Werk beseelt, der Zufalligkeit und Beschranktheit zieh. Erklarbar ist das nur aus der Begierde, das kritische Moment zu entmachtigen, das mit individuellem Geist sich verkniipft. In seiner Besonderung spiirte er die Widerspriiche zwischen dem Begriff und dem Besonderen. Individuelles BewuBtsein ist stets fast, und mit Grund, das un-gliickliche. Hegels Aversion dagegen versagt sich eben dem Sach-verhalt den er, wo es ihm paBt, unterstreicht: wie sehr jenem Individuellen das Allgemeine innewohnt. Nach strategischem Be-diirfnis traktiert er das Individuum, als ware es das Unmittel-bare dessen Schein er selbst zerstort. Mit diesem verschwindet aber auch der absoluter Kontingenz individueller Erfahrung. Sie hatte keine Kontinuitat ohne die Begriffe. Durch ihre Teilhabe am diskursiven Medium ist sie der eigenen Bestimmung nach immer zugleich mehr als nur individuell. Zum Subjekt wird das Individuum insofern es kraft seines individuellen BewuBtseins sich objektiviert in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Er-fahrungen: Tieren diirfte beides versagt sein. Weil sie in sich all-gemein ist, und soweit sie es ist, reicht individuelle Erfahrung auch ans Allgemeine heran. Noch in der erkenntnistheoretischen Reflexion bedingen logische Allgemeinheit und die Einheit individuellen BewuBtseins sich wechselfaltig. Das betrifft aber nicht nur die subjektiv-formale Seite von Individualitat. Jeder Inhalt des individuellen BewuBtseins wird ihm zugebracht von seinem Trager, Jessen Selbsterhaltung zuliebe, und reproduziert sich mit ihr. DurA Selbstbesinnung vermag das individuelle BewuBtsein davon sich zu befreien, sich zu erweitern. Dazu treibt es die Qual, daB jene Allgemeinheit die Tendenz hat, in der individuellen Erfahrung die Vorherrschaft zu erlangen. Als »Realitatspriifung«

Qualitat und Individuum

verdoppelt Erfahrung nicht einfach die Regungen und Wunsche des Einzelnen, sondern negiert sie auch, damit er iiberlebe. Anders als in der Bewegung einzelmenschlichen BewuBtseins laBt Allge-meines vom Subjekt uberhaupt nicht sich ergreifen. Wurde das Individuum coupiert, so sprange kein hoheres, von den Schlacken der Zufalligkeit gereinigtes Subjekt heraus, sondern einzig ein bewuBtlos nachvollziehendes. Im Osten hat der theoretische KurzschluB in der Ansicht vom Individuum kollektiver Unter-driickung zum Vorwand gedient. Die Partei soil der Zahl ihrer Mitglieder wegen a priori jeglichem Einzelnen an Erkenntnis-kraft iiberlegen sein, auch wenn sie verblendet oder terrorisiert ist. Das isolierte Individuum jedoch, unbeeintrachtigt vom Ukas, mag zuzeiten der Objektivitat ungetriibter gewahr werden als ein Kollektiv, das ohnehin nur noch die Ideologie seiner Gremien ist. Brechts Satz, die Partei habe tausend Augen, der Einzelne nur zwei, ist falsch wie nur je die Binsenweisheit. Exakte Phantasie eines Dissentierenden kann mehr sehen als tausend Augen, denen die rosarote Einheitsbrille aufgestiilpt ward, die dann, was sie erblicken, mit der Allgemeinheit des Wahren verwechseln und regredieren. Dem widerstrebt die Individuation der Erkenntnis. Nicht nur hangt von dieser, der Differenzierung, die Wahrneh-mung des Objekts ab: ebenso ist sie selber vom Objekt her kon-stituiert, das in ihr gleichsam seine restitutio in integrum ver-langt. Gleichwohl bediirfen die subjektiven Reaktionsweisen, deren das Objekt bedarf, ihrerseits unablassig der Korrektur am Objekt. Sie vollzieht sich in der Selbstreflexion, dem Ferment geistiger Erfahrung. Der ProzeB philosophischer Objek-tivation ware, metaphorisch gesprochen, vertikal, innerzeit-lich, gegeniiber dem horizontalen, abstrakt Quantifizierenden der Wissenschaft; soviel ist wahr an Bergsons Metaphysik der Zeit.

Dessen Generation, auch Simmel, Husserl und Scheler haben ver-gebens nach einer Philosophie sich gesehnt, die, rezeptiv zu den Gegenstanden, sich verinhaltlicht. Was die Tradition kiindigt, da-nach begehrte Tradition. Das dispensiert aber nicht von der metho-dischen Uberlegung, wie inhaltliche Einzelanalyse zur Theorie der Dialektik steht. Unkraftig ist die idealistisch-identitatsphilo-sophische Beteuerung, diese ginge in jener auf. Objektiv jedoch,

Inhaltlidikeit und Methode

nicht erst durchs erkennende Subjekt, ist das Ganze, das von der Theorie ausgedriickt wird, in dem zu analysierenden Einzelnen enthalten. Die Vermittlung von beidem ist selbst inhaltlich, die durch die gesellschaftliche Totalitat. Sie ist aber auch formal ver-moge der abstrakten GesetzmaBigkeit der Totalitat selbst, der des Tausches. Der Idealismus, der daraus seinen absoluten Geist abdestillierte, verschliisselt zugleich das Wahre, daB jene Vermittlung den Phanomenen als Zwangsmechanismus widerfahrt; das birgt sich hinter dem sogenannten Konstitutionsproblem. Philo-sophische Erfahrung hat dies Allgemeine nicht, unmittelbar, als Erscheinung, sondern so abstrakt, wie es objektiv ist. Sie ist zum Ausgang vom Besonderen verhalten, ohne zu vergessen, was sie nicht hat, aber weiB. Ihr Weg ist doppelt, gleich dem Heraklite-ischen, der hinauf und der hinab. Wahrend sie der realen Determination der Phanomene durch ihren Begriff versichert ist, kann sie diesen nicht ontologisch, als das an sich Wahre, sich vorgeben. Er ist fusioniert mit dem Unwahren, dem unterdriickenden Prinzip, und das mindert noch seine erkenntniskritische Dignitat. Er bildet kein positives Telos, in dem Erkenntnis sich stillte. Die Negativitat des Allgemeinen ihrerseits fixiert die Erkenntnis ans Besondere als das zu Errettende. »Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen.« In ihren unabdingbar allgemeinen Elementen schleppt alle Philosophie, auch die mit der Intention auf Freiheit, Unfreiheit mit sich, in der die der Gesellschaft sich verlangert. Sie hat den Zwang in sich; aber er allein schutzt sie vor der Regression in Willkiir. Den ihm immanenten Zwangs-charakter vermag Denken kritisch zu erkennen; sein eigener Zwang ist das Medium seiner Befreiung. Die Freiheit zum Ob-jekt, die bei Hegel auf die Entmachtigung des Subjekts hinauslief, ist erst herzustellen. Bis dahin divergieren Dialektik als Methode und als eine der Sache. Begriff und Realitat sind des gleichen widerspruchsvollen Wesens. Was die Gesellschaft antagonistisch zerreiBt, das herrschaftliche Prinzip, ist dasselbe, das, vergeistigt, die Differenz zwischen dem Begriff und dem ihm Unterworfenen zeitigt. Die logische Form des Widerspruchs aber gewinnt jene Differenz, weil ein jegliches der Einheit des herrschaftlichen Prin-zips nicht sich Fugendes, nach dem MaB des Prinzips, nicht als ein gegen dieses gleichgultiges Verschiedenes erscheint, sondern als

Existentialismus

Verletzung der Logik. Andererseits bezeugt der Rest an Diver-genz zwischen philosophischer Konzeption und Durchfuhrung auch etwas von der Nichtidentitat, die weder der Methode ge-stattet, ganz die Inhalte zu absorbieren, in denen allein sie doch sein soil, noch die Inhalte zu vergeistigen. Der Vorrang des In-halts auBert sich als notwendige Insuffizienz der Methode. Was als solche, in der Gestalt allgemeiner Reflexion, gesagt werden muB, um nicht wehrlos zu sein vor der Philosophie der Philosophen, legitimiert sich allein in der Durchfuhrung, und dadurch wird Methode wiederum negiert. Ihr UberschuB ist angesichts des Inhalts abstrakt, falsch; Hegel bereits muBte das MiBverhaltnis der Vorrede der Phanomenologie zu dieser in den Kauf nehmen. Philosophisches Ideal ware, daB die Rechenschaft iiber das, was man tut, uberflussig wird, indem man es tut. Der jiingste Versuch des Ausbruchs aus dem Betriffsfetischismus — aus akademischer Philosophie, ohne den Anspruch von Verbind-lichkeit fahren zu lassen — ging unter dem Namen des Existentialismus. Gleich der Fundamentalontologie, von der er sich durch politisches Engagement abgespalten hatte, blieb er idealistisch be-fangen; es behielt ubrigens gegeniiber der philosophischen Struk-tur etwas Zufalliges, ersetzbar durch kontrare Politik, wofern diese nur der Characteristica formalis des Existentialismus ge-niigt. Partisanen gibt es huben und driiben. Keine theoretische Grenze zum Dezisionismus ist gezogen. Gleichwohl ist die idea-listische Komponente des Existentialismus ihrerseits Funktion der Politik. Sartre und seine Freunde, Kritiker der Gesellschaft und nicht willens, bei theoretischer Kritik sich zu bescheiden, iiber-sahen nicht, daB der Kommunismus iiberall, wo er zur Macht ge-langt war, als Verwaltungssystem sich eingrub. Die Institution der zentralistischen Staatspartei ist Hohn auf alles, was einmal iiber das Verhaltnis zur Staatsmacht gedacht worden war. Darum hat Sartre alles auf das Moment abgestellt, das von der herrschen-den Praxis nicht mehr geduldet wird, nach der Sprache der Philosophie die Spontaneitat. Je weniger objektive Chancen ihr die ge-sellschaffliche Machtverteilung bot, desto ausschlieBlicher hat er die Kierkegaardsche Kategorie der Entscheidung urgiert. Bei jenem empfing sie ihren Sinn vom terminus ad quern, der Christologie; bei Sartre wird sie zu dem Absoluten, dem sie einmal dienen sollte.

Existentialismus

Trotz seines extremen Nominalismus* organisierte sich Sartres Philosophie in ihrer wirksamsten Phase nach der alten idealisti-schen Kategorie der freien Tathandlung des Subjekts. Wie fur Fichte ist fur den Existentialismus jegliche Objektivitat gleich-giiltig. Folgerecht wurden in Sartres Stucken die gesellschaftlichen Verhaltnisse und Bedingungen allenfalls aktueller Zusatz, struk-turell jedoch kaum mehr als Anlasse fur die Aktion. Diese ward von Sartres philosophischer Objektlosigkeit zu einer Irrationa-litat verurteilt, die der unbeirrbare Aufklarer gewiB am wenig-sten meinte. Die Vorstellung absoluter Freiheit zur Entscheidung ist so illusionar wie je die vom absoluten Ich, das die Welt aus sich heraus entlaBt. Bescheidenste politische Erfahrung reichte hin, die zur Folie der Entscheidung von Helden aufgebauten Situationen als Kulissen wackeln zu machen. Nicht einmal dra-maturgisch ware derlei souverane Entscheidung in konkreter ge-schichtlicher Verflochtenheit zu postulieren. Ein Feldherr, der ebenso irrational dazu sich entschlieBt, keine Greuel mehr be-gehen zu lassen, wie er diese vorher auskostete; der die Belagerung einer ihm bereits durch Verrat ausgelieferten Stadt abbricht und eine utopische Gemeinde griindet, ware auch in den wilden Zeiten einer possenhaft romantisierten deutschen Renaissance sogleich, wenn nicht von meuternden Soldaten umgebracht, so von seinen Oberen abberufen worden. Dazu stimmt nur allzu genau, daB Gotz bramarbasierend wie Nestroys Holofernes, nachdem er immerhin durch die Ausmordung der Lichtstadt iiber seine freie Tathandlung belehrt ward, sich einer organisierten Volks-

* Hegels Restitution des Begriffsrealismus, bis zur provokativen Verteidi-gung des ontologischen Gottesbeweises, war nach den Spielregeln unreflektier-ter Aufklarung reaktionar. Unterdessen hat der Gang der Geschichte seine antinominalistische Intention gerechtfertigt. Im Gegensatz zum groben Schema der Schelerschen Wissenssoziologie ging der Nominalismus seinerseits in Ideologic liber, die des augenzwinkernden Das gibt es doch gar nicht, dessen die offizielle Wissenschaft gern sich bedient, sobald peinliche Entitaten wie Klasse, Ideologie, neuerdings uberhaupt Gesellschaft erwahnt werden. Das Verhaltnis genuin kritischer Philosophie zum Nominalismus ist nicht invariant, es wech-selt geschichtlich mit der Funktion der Skepsis (vgl. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: Zeitschrift fur Sozialforschung, VII. Jg. 1938, passim). Jegliches fundamentum in re der Begriffe dem Subjekt zu-zurechnen, ist Idealismus. Mit ihm entzweite der Nominalismus sich nur dort, wo der Idealismus objektiven Anspruch erhob. Der Begriff einer kapitalisti-schen Gesellschaft ist kein flatus vocis.

Existentialismus

bewegung zur Verfugung stellt, dem durchsichtigen Deckbild jener, gegen welche Sartre die absolute Spontaneitat ausspielt. Sogleich begeht denn auch der Butzenscheibenmann, nur offenbar jetzt mit dem Segen der Philosophie, abermals die Greuel, denen er aus Freiheit abgeschworen hatte. Das absolute Subjekt kommt aus seinen Verstrickungen nicht heraus: die Fesseln, die es zer-reiBen mochte, die der Herrschaft, sind eins mit dem Prinzip absoluter Subjektivitat. Es ist zu Sartres Ehre, daB das in seinem Drama und gegen sein philosophisches Hauptwerk sich mani-festiert; seine Stiicke desavouieren die Philosophie, die sie thesen-haft verhandeln. Die Torheiten des politischen Existentialismus jedoch, gleich der Phraseologie des entpolitisierten deutschen, haben ihren philosophischen Grund. Der Existentialismus befor-dert das Unvermeidliche, das bloBe Dasein der Menschen, zu einer Gesinnung, die der Einzelne wahlen soil ohne Bestimmungs-grund der Wahl, und ohne daB er eigentlich eine andere Wahl hatte. Lehrt der Existentialismus mehr als solche Tautologie, so macht er sich gemein mit der fur sich seienden Subjektivitat als dem allein Substantiellen. Die Richtungen, welche Derivate des lateinischen existere als Devisen tragen, mochten die Wirklichkeit leibhaftiger Erfahrung wider die entfremdete Einzelwissenschaft aufbieten. Aus Angst vor Verdinglichung weichen sie vor dem Sachhaltigen zuruck. Es wird ihnen unter der Hand zum Exem-pel. Was sie unter &*Qyii setzen, racht sich an ihnen, indem es hinter dem Rucken der Philosophie, in den dieser zufolge irra-tionalen Entscheidungen, seine Gewalt durchsetzt. Der begriffs-losen Einzelwissenschaft ist das von Sachgehalten expurgierte Denken nicht iiberlegen; all seine Versionen geraten, ein zweites Mai, in eben den Formalismus, den sie um des wesentlichen In-teresses der Philosophie willen befehden. Nachtraglich wird er dann, mit zufalligen Anleihen insbesondere bei der Psychologie, aufgefullt. Die Intention des Existentialismus zumindest in seiner radikalen franzosischen Gestalt ware nicht in der Distanz von den Sachgehalten, sondern in bedrohlicher Nahe zu diesen realisier-bar. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist nicht durch die Reduktion aufs Menschenwesen, und ware es das absoluter Ver-einzelung, aufzuheben. Ideologisch ist die heute bis in den Marxis-mus Lukacs'scher Provenienz hinein populare Frage nach dem

Sache, Sprache, Geschichte

Menschen darum, weil sie der puren Form nach das Invariante der mtiglichen Antwort, und ware es Geschichtlichkeit selber, diktiert. Was der Mensch an sich sein soil, ist immer nur, was er war: er wird an den Felsen seiner Vergangenheit festgeschmiedet. Er ist aber nicht nur, was er war und ist, sondern ebenso, was er werden kann; keine Bestimmung reicht hin, das zu antezipieren. Wie wenig die um Existenz gruppierten Schulen, auch die extrem nominalistischen, zu jener EntauBerung fahig sind, die sie im Rekurs auf einzelmenschliche Existenz ersehnen, bekennen sie ein, indem sie iiber das in seinem Begriff nicht Aufgehende, ihm Kontrare allgemeinbegrifflich philosophieren, anstatt es aufzu-denken. Sie illustrieren Existenz am Existierenden. Wie statt dessen zu denken ware, das hat in den Sprachen sein femes und undeutliches Urbild an den Namen, welche die Sache nicht kategorial uberspinnen, freilich um den Preis ihrer Er-kenntnisfunktion. Ungeschmalerte Erkenntnis will, wovor zu resignieren man ihr eingedrillt hat und was die Namen abblen-den, die zu nahe daran sind; Resignation und Verblendung er-ganzen sich ideologisch. Idiosynkratische Genauigkeit in der Wahl der Worte, so als ob sie die Sache benennen sollten, ist keiner der geringsten Grunde dafur, daB der Philosophie die Darstel-lung wesentlich ist. Der Erkenntnisgrund fur solche Insistenz des Ausdrucks vorm toSs tt ist dessen eigene Dialektik, seine begriff -liche Vermittlung in sich selbst; sie ist die Einsatzstelle, das Unbe-griffliche an ihm zu begreifen. Denn die Vermittlung inmitten des Nichtbegrifflichen ist kein Rest nach vollzogener Subtraktion, auch nichts, was auf eine schlechte Unendlichkeit von dergleichen Prozeduren verwiese.Vielmehr ist dieVermittlung der ■ Sakj deren implizite Geschichte. Philosophie schopft, was irgend sie noch legitimiert, aus einem Negativen: daB jenes Unauflosliche, vor dem sie kapitulierte und von dem der Idealismus abgleitet, in seinem So-und-nicht-anders-Sein doch wiederum auch ein Fetisch ist, der der Irrevokabilitat des Seienden. Er zergeht vor der Ein-sicht, daB es nicht einfach so und nicht anders ist, sondern unter Bedingungen wurde. Dies Werden verschwindet und wohnt in der Sache, so wenig auf deren Begriff stillzustellen, wie von seinem Resultat abzuspalten und zu vergessen. Ihm ahnelt zeitliche Erfahrung. Im Lesen des Seienden als Text seines Werdens be-

Sache, Sprache, Geschichte

riihren sich idealistische und materialistische Dialektik. Wah-rend jedoch dem Idealismus die innere Geschichte der Unmittel-barkeit diese als Stufe des Begriffs rechtfertigt, wird sie materia-listisch zum MaB der Unwahrheit der Begriffe nicht nur sondern mehr noch des seienden Unmittelbaren. Womit negative Dialektik ihre verharteten Gegenstande durchdringt, ist die Moglichkeit, um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus einem jeden blickt. Doch selbst bei auBerster Anstrengung, solche in den Sachen geronnene Geschichte sprachlich auszudriicken, bleiben die verwendeten Worte Begriffe. Ihre Prazision surrogiert die Selbstheit der Sache, ohne daB sie ganz gegenwartig wiirde; ein Hohlraum klafft zwischen ihnen und dem, was sie beschworen. Daher der Bodensatz von Willkiir und Relativitat wie in der Wortwahl so in der Darstellung insgesamt. Noch bei Benjamin haben die Begriffe einen Hang, ihre Begrifflichkeit autoritar zu verstecken. Nur Begriffe konnen vollbringen, was der Begriff verhindert. Erkenntnis ist ein TpoWc laoerai, Der bestimmbare Fehler aller Begriffe notigt, andere herbeizuzitieren; darin ent-springen jene Konstellationen, an die allein von der Hoffnung des Namens etwas iiberging. Ihm nahert die Sprache der Philo-sophie sich durch seine Negation. Was sie an den Worten kritisiert, ihren Anspruch unmittelbarer Wahrheit, ist stets fast die Ideologic positiver, seiender Identitat von Wort und Sache. Auch die Insistenz vorm einzelnen Wort und Begriff, dem ehernen Tor, das sich offnen soil, ist einzig ein wenngleich unabdingbares Moment. Um erkannt zu werden, bedarf das Inwendige, dem Erkenntnis im Ausdruck sich anschmiegt, stets auch eines ihm AuBeren.

Nicht langer ist mit dem Hauptstrom der neueren Philosophie — das Wort klingt schmahlich — mitzuschwimmen. Die neuzeit-liche, bis heute dominierende mochte die traditionalen Momente des Denkens ausscheiden, es dem eigenen Gehalt nach enthistori-sieren, Geschichte einer Sonderbranche feststellender Tatsachen-wissenschaft zuweisen. Seitdem man in der vermeintlichen Un-mittelbarkeit von subjektiv Gegebenem das Fundament aller Erkenntnis suchte, hat man, horig gleichsam dem Idol purer Gegen-wart, dem Gedanken seine geschichtliche Dimension auszutreiben

Tradition und Erkenntnis

getrachtet. Das fiktive eindimensionale Jetzt wird zum Erkennt-nisgrund des inneren Sinnes. Unter diesem Aspekt harmonieren die offiziell als Antipoden angesehenen Patriarchen der Modeme: in den autobiographischen Erklarungen Descartes' iiber den Ur-sprung seiner Methode und der Baconschen Idolenlehre. Was im Denken geschichtlich ist, anstatt der Zeitlosigkeit der objekti-vierten Logik zu parieren, wird dem Aberglauben gleichgesetzt, der die Berufung auf kirchlich institutionelle Tradition wider den priifenden Gedanken tatsachlich war. Die Kritik an Autoritat hatte alien Grund. Aber sie verkennt, da6 Tradition der Erkenntnis selbst immanent ist als das vermittelnde Moment ihrer Gegenstande. Erkenntnis verformt diese, sobald sie kraft still-stellender Objektivierung damit tabula rasa macht. Sie hat an sich, noch in ihrer dem Gehalt gegenuber verselbstandigten Form, teil an Tradition als unbewuBte Erinnerung; keine Frage konnte nur gefragt werden, in der Wissen vom Vergangenen nicht aufbe-wahrt ware und weiterdrangte. Die Gestalt des Denkens als innerzeitlicher, motiviert fortschreitender Bewegung gleicht vor-weg, mikrokosmisch, der makrokosmischen, geschichtlichen, die in der Struktur von Denken verinnerlicht ward. Unter den Lei-stungen der Kantischen Deduktion rangiert obenan, daB er noch in der reinen Form der Erkenntnis, der Einheit des Ich denke, auf der Stufe der Reproduktion in der Einbildungskraft, Erinnerung, die Spur des Geschichtlichen gewahrte. Weil jedoch keine Zeit ist ohne das in ihr Seiende, kann, was Husserl in seiner Spatphase innere Historizitat nannte, nicht inwendig, nicht reine Form bleiben. Innere Historizitat des Denkens ist mit dessen Inhalt verwachsen und damit der Tradition. Das reine, vollendet sublimierte Subjekt dagegen ware das absolut Traditionslose. Erkenntnis, welche dem Idol jener Reinheit, dem totaler Zeitlosigkeit, ganzlich willfahrte, koinzidierte mit der formalen Logik, wiirde Tautologie; nicht einmal einer transzendentalen Logik gewahrte es mehr Raum. Zeitlosigkeit, der das burgerliche Be-wuBtsein, vielleicht zur Kompensation der eigenen Sterblichkeit, zustrebt, ist die Hohe von dessen Verblendung. Benjamin hat das innerviert, als er dem Ideal der Autonomic schroff abschwor und sein Denken einer Tradition unterstellte, die freilich, als freiwillig installierte, subjektiv gewahlte der Autoritat ebenso entbehrt,

Rhetorik

wie sie es dem autarkischen Gedanken vorrechnet. Wenngleich Widerspiel des transzendentalen Moments, ist das traditionale quasi transzendental, nicht die punktuelle Subjektivitat, sondern das eigentlich Konstitutive, der laut Kant verborgene Mechanis-mus in der Tiefe der Seele. Unter den Varianten der allzu engen Ausgangsfragen der Kritik der reinen Vernunft durfte die nicht fehlen, wie Denken, das der Tradition sich entauBern muB, ver-wandelnd sie aufbewahren konne 11 ; nichts anderes ist geistige Erfahrung. Die Philosophie Bergsons, mehr noch der Roman Prousts hingen ihr nach, nur ihrerseits unterm Bann von Unmit-telbarkeit, aus Abscheu vor jener burgerlichen Zeitlosigkeit, die mit der Mechanik des Begriffs die Abschaffung des Lebens vor-wegnimmt. Die Methexis der Philosophie an der Tradition ware aber einzig deren bestimmte Verneinung. Sie wird gestiftet von den Texten, die sie kritisiert. An ihnen, welche die Tradition ihr zutragt und die die Texte selbst verkorpern, wird ihr Verhalten der Tradition kommensurabel. Das rechtfertigt den Ubergang von Philosophie an Deutung, die weder das Gedeutete noch das Symbol zum Absoluten erhoht, sondern, was wahr sei, dort sucht, wo der Gedanke das unwiederbringliche Urbild heiliger Texte sakularisiert.

Durch die sei's offenbare, sei's latente Gebundenheit an Texte ge-steht die Philosophie ein, was sie unterm Ideal der Methode ver-gebens ableugnet, ihr sprachliches Wesen. In ihrer neueren Ge-schichte ist es, analog der Tradition, verfemt worden als Rhetorik. Abgesprengt und zum Mittel der Wirkung degradiert, war es Trager der Luge in der Philosophie. Die Verachtung fur die Rhetorik beglich die Schuld, in die sie, seit der Antike, durch jene Trennung von der Sache sich verstrickt hatte, die Platon ver-klagte. Aber die Verfolgung des rhetorischen Moments, durch welches der Ausdruck ins Denken sich hinuberrettete, trug nicht weniger zu dessen Technifizierung bei, zu seiner potentiellen Abschaffung, als die Pflege der Rhetorik unter MiBachtung des Objekts. Rhetorik vertritt in Philosophie, was anders als in der Sprache nicht gedacht werden kann. Sie behauptet sich in den Postulaten der Darstellung, durch welche Philosophie von der Kommunikation bereits erkannter und fixierter Inhalte sich unterscheidet. Gefahrdet ist sie, wie alles Stellvertretende, weil

Rhetorik

sie leicht zur Usurpation dessen schreitet, was die Darstellung der Gedanken nicht unvermittelt anschaffen kann. Unablassig korrumpiert sie der uberredende Zweck, ohne den doch wieder die Relation des Denkens zur Praxis aus dem Denkakt ent-schwande. Die Allergie der gesamten approbierten philosophi-schen Uberlieferung gegen den Ausdruck, von Platon bis zu den Semantikern, ist konform dem Zug aller Aufklarung, das Un-disziplinierte der Gebarde noch bis in die Logik hinein zu ahnden, einem Abwehrmechanismus des verdinglichten BewuBtseins. Lauft das Bundnis der Philosophie mit der Wissenschaft virtuell auf die Abschaffung der Sprache hinaus, und damit der Philosophie selbst, so uberlebt sie nicht ohne ihre sprachliche Anstrengung. Anstatt im sprachlichen Gefalle zu platschern, reflektiert sie dar-auf. Mit Grund verbiindet sich sprachliche Schlamperei - wissen-schaftlich: das Unexakte - gern mit dem wissenschaftlichen Gestus der Unbestechlichkeit durch die Sprache. Denn die Abschaffung der Sprache im Denken ist nicht dessen Entmythologisierung. Verblendet opfert Philosophie mit der Sprache, worin sie zu ihrer Sache anders sich verhalt als bloB signifikativ; nur als Sprache vermag Ahnliches das Ahnliche zu erkennen. Die permanente Denunziation der Rhetorik durch den Nominalismus, fur den der Name bar der letzten Ahnlichkeit ist mit dem, was er sagt, laBt sich indessen nicht ignorieren, nicht das rhetorische Moment unge-brochen dagegen aufbieten. Dialektik, dem Wortsinn nach Sprache als Organon des Denkens, ware der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu erretten: Sache und Ausdruck bis zur Indiffe-renz einander zu nahern. Sie eignet, was geschichtlich als Makel des Denkens erschien, seinen durch nichts ganz zu zerbrechenden Zusammenhang mit der Sprache, der Kraft des Gedankens zu. Das inspirierte die Phanomenologie, als sie, wie immer naiv, der Wahrheit in der Analyse der Worte sich versichern wollte. In der rhetorischen Qualitat beseelt Kultur, die Gesellschaft, Tradition den Gedanken; das blank Antirhetorische ist verbiindet mit der Barbarei, in welcher das burgerliche Denken endet. Die Diffa-mierung Ciceros, noch Hegels Antipathie gegen Diderot zeugen vom Ressentiment derer, denen Lebensnot die Freiheit, sich zu erheben, verschlagt, und denen der Leib der Sprache fur sundhaft gilt. In der Dialektik ergreift das rhetorische Moment, entgegen

Rhetorik

der vulgaren Ansicht, die Partei des Inhalts. Es vermittelnd mit dem formalen, logischen, sucht Dialektik, das Dilemma zwischen der beliebigen Meinung und dem wesenlos Korrekten zu meistern. Sie neigt sich aber dem Inhalt zu als dem Offenen, nicht vom Ge-riist Vorentschiedenen: Einspruch gegen den Mythos. Mythisch ist das Immergleiche, wie es schlieBlich zur formalen Denkgesetz-lichkeit sich verdiinnte. Erkenntnis, die den Inhalt will, will die Utopie. Diese, das BewuBtsein der Moglichkeit, haftet am Kon-kreten als dem Unentstellten. Es ist das Mogliche, nie das unmit-telbar Wirkliche, das der Utopie den Platz versperrt; inmitten des Bestehenden erscheint es darum als abstrakt. Die unauslosch-liche Farbe kommt aus dem Nichtseienden. Ihm dient Denken, ein Stuck Dasein, das, wie immer negativ, ans Nichtseiende heran-reicht. Allein erst auBerste Feme ware die Nahe; Philosophie ist das Prisma, das deren Farbe auffangt.

Erster Teil

Verhaltnis zur Ontologie

Das ontologische Bedurfnis

Die Ontologien in Deutschland, zumal die Heideggersche, wirken stets noch weiter, ohne daB die Spuren der politischen Vergangen-heit schreckten. Stillschweigend wird Ontologie verstanden als Be-reitschaft, eine heteronome, der Rechtfertigung vorm BewuBtsein enthobene Ordnung zu sanktionieren. DaB derlei Auslegungen hoheren Orts als MiBverstandnis, Abgleiten ins Ontische, Mangel an Radikalismus der Frage dementiert werden, verstarkt nur die Wurde des Appells: Ontologie scheint um so numinoser, je weniger sie auf bestimmte Inhalte zu fixieren ist, die dem vor-witzigen Verstand einzuhaken erlaubten. Ungreifbarkeit wird zur Unangreifbarkeit. Wer die Gefolgschaft verweigert, ist als geistig vaterlandsloser Geselle verdachtig, ohne Heimat im Sein, gar nicht soviel anders, als einmal die Idealisten Fichte und Schel-ling jene, welche ihrer Metaphysik widerstrebten, niedrig schal-ten. In all ihren einander sich befehdenden und sich gegenseitig als falsche Version ausschlieBenden Richtungen ist Ontologie apologetisch. Hire Wirkung ware aber nicht zu verstehen, kame ihr kein nachdriickliches Bedurfnis entgegen, Index eines Ver-saumten, die Sehnsucht, beim Kantischen Verdikt iibers Wissen des Absoluten solle es nicht sein Bewenden haben. Als man in der Friihzeit der neu-ontologischen Richtungen mit theologischer Sympathie von Auferstehung der Metaphysik redete, lag das noch krud, aber offen zutage. Schon der Husserlsche Wille, an-stelle der intentio obliqua die intentio recta zu setzen, den Sachen sich zuzuwenden, hatte etwas davon; was in der Vernunftkritik die Grenzen der Moglichkeit von Erkenntnis gezogen hatte, war nichts anderes als die Riickbesinnung aufs Erkenntnisvermogen selbst, von der das phanomenologische Programm zunachst dis-pensieren wollte. In dem »Entwurf« der ontologischen Konstitu-tion von Sachgebieten und Regionen, schlieBlich der »Welt als dem Inbegriff alles Daseienden« regte deutlich sich der Wille, das

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Frage und Antwort

Ganze ohne seiner Erkenntnis diktierte Grenzen zu ergreifen; die Husserlschen eftW), aus denen dann beim Heidegger von >Sein und Zeit< Existentialien wurden, sollten umfassend antezipieren, was jene Regionen bis zur obersten eigentlich seien. Unausdriick-lich stand dahinter, die Entwiirfe der Vernunft konnten aller Fiille des Seienden ihre Struktur vorzeichnen; zweite Reprise der alten Philosophien des Absoluten, deren erste der nach-Kantische Idealismus war. Zugleich aber wirkte die kritische Tendenz fort, weniger gegen dogmatische Begriffe denn als Anstren-gung, die nun ihrer systematischen Einheit entauBerten und gegen einander abgesetzten Absoluta nicht mehr zu setzen oder zu konstruieren, sondern rezeptiv, in einer an dem positivistischen Wissenschaftsideal gebildeten Haltung hinzunehmen und zu be-schreiben. Dadurch wird das absolute Wissen abermals, wie bei Schelling, intellektuelle Anschauung. Man hofft, die Vermittlun-gen zu durchstreichen, anstatt sie zu reflektieren. Das nichtkon-formistische Motiv, Philosophie brauche in ihren Schranken -denen der organisierten und verwertbaren Wissenschaft - nicht sich zu bescheiden, kippt in Konformismus um. Das als sol-ches ohne Kritik hingenommene kategoriale Gefuge, Gerust bestehender Verhaltnisse, wird als absolut bestatigt, und die re-flexionslose Unmittelbarkeit der Methode leiht sich jeglicher Willkiir. Kritik des Kritizismus wird vorkritisch. Daher die gei-stige Verhaltensweise des permanenten Zuriick zu. Das Absolute wird, was es am wenigsten mochte und was freilich die kritische Wahrheit dariiber sagt, ein Naturgeschichtliches, aus dem rasch und grob genug die Norm, sich anzupassen, entnommen werden konnte. Demgegenuber versagte die idealistische Schulphiloso-phie, was der von Philosophie erwartet, der unprapariert mit ihr sich einlaBt. Das war die Kehrseite ihrer von Kant erzwungenen wissenschaftlichen Selbstverantwortung. Das BewuBtsein davon, daB die als Sparte betriebene Philosophie mit den Menschen nichts mehr zu tun hat, denen sie die Fragen als eitel abgewohnt, um derentwillen sie einzig mit ihr sich befassen, rumort schon im deutschen Idealismus; ohne kollegiale Vorsicht ist es ausgespro-chen von Schopenhauer und Kierkegaard, und Nietzsche hat jeg-liches Einverstandnis mit dem akademischen Wesen aufgesagt. Unter diesem Aspekt aber machen die gegenwartigen Ontologien

Frage und Antwort

nicht einfach die anti-akademische Tradition der Philosophie sich zu eigen, indem sie, wie Paul Tillich einmal formulierte, nach dem fragen, was einen unbedingt angeht. Sie haben das Pathos des Unakademischen akademisch etabliert. In ihnen vereint sich angenehmes Gruseln vorm Weltuntergang mit dem beruhigenden Gefuhl, auf festem, womoglich auch noch philologisch gesicher-tem Boden zu operieren. Kuhnheit, Prerogative des Junglings wie je, weiB vom allgemeinen Einverstandnis und der mach-tigsten Bildungsinstitution sich gedeckt. Aus der Gesamtbewe-gung wurde das Gegenteil dessen, was ihre Anfange zu verheiBen schienen. Die Befassung mit Relevantem schlug in eine Abstrakt-heit zuriick, die von keiner neukantischen Methodologie iiber-trumpft wird. Diese Entwicklung ist von der Problematik des Bedurfnisses selber nicht zu trennen. So wenig ist es durch jene Philosophie zu stillen wie einst durchs transzendentale System. Deshalb hat Ontologie sich mit ihrem Dunstkreis umgeben. Einer alteren deutschen Tradition gemaB stellt sie die Frage hoher denn die Antwort; wo sie das Versprochene schuldig bleibt, hat sie das Scheitern seinerseits trostlich zum Existential erhoben. Tatsachlich sind in der Philosophie Fragen von anderem Gewicht als in den Ein-zelwissenschaften, wo sie durch die Losung fortgeschafft werden, wahrend ihr philosophiegeschichtlicher Rhythmus eher der von Dauern und Vergessen ware. Das sagt aber nicht, wie man unent-wegt Kierkegaard nachbetet, die Existenz des Fragenden sei jene Wahrheit, welche die Antwort vergebens bloB sucht. Sondern in Philosophie schlieBt stets fast die authentische Frage in gewisser Weise ihre Antwort ein. Sie kennt nicht, wie die Forschung, ein Erst-danach von Frage und Antwort. Sie muB ihre Frage modeln nach dem, was sie erfahren hat, damit es eingeholt werde. Ihre Antworten sind nicht gegeben, gemacht, erzeugt: in sie schlagt die entfaltete, transparente Frage um. Der Idealismus mochte eben das ubertauben, immerzu seine eigene Gestalt, womoglich jeden Inhalt hervorbringen, »deduzieren«. Denken dagegen, das nicht als Ursprung sich behauptet, sollte nicht verbergen, daB es nicht erzeugt sondern wiedergibt, was es, als Erfahrung, bereits hat. Das Moment des Ausdrucks im Denken veranlaBt es, nicht more mathematico mit Problemen und dann Losungen zum Schein auf-zuwarten. Worte wie Problem und Losung klingen in der Philo-

Frage und Antwort

sophie verlogen, weil sie die Unabhangigkeit des Gedachten vom Denken gerade dort postulieren, wo Denken und Gedachtes durch einander vermittelt sind. Philosophisch verstehen laBt sich eigent-iich nur, was wahr ist. Der erfullende Mitvollzug des Urteils, in dem verstanden wird, ist eins mit der Entscheidung iiber wahr und falsch. Wer nicht iiber die Stringenz eines Theorems, oder deren Abwesenheit, mitvollziehend urteilt, versteht es nicht. Seinen eigenen Sinngehalt, der zu verstehen ware, hat es im Anspruch solcher Stringenz. Dadurch unterscheidet sich das Verhaltnis von Verstandnis und Urteil von der ublichen Zeitordnung. Ohne Ur-teil kann so wenig verstanden werden wie geurteilt ohne Verstandnis. Das entzieht dem Schema sein Recht, die Losung sei das Urteil, das Problem die bloBe Frage, im Verstandnis fundiert. Vermittelt ist die Fiber der sogenannten philosophischen Beweis-fuhrung selbst, kontrastierend zum mathematischen Modell, ohne daB dieses doch einfach verschwande. Denn die Stringenz des philosophischen Gedankens gebietet, daB seine Verfahrungsart an den SchluBformen sich messe. Beweise in der Philosophie sind die Anstrengung, dem Ausgedriickten Verbindlichkeit zu ver-schaffen, indem es den Mitteln des diskursiven Denkens kommen-surabel wird. Es folgt aber nicht rein aus diesem: die kritische Reflexion solcher Produktivitat des Denkens ist selbst ein Inhalt der Philosophie. Obwohl bei Hegel der Anspruch auf die Ablei-tung des Nichtidentischen aus der Identitat aufs auBerste ge-weigert ist, impliziert die Denkstruktur der GroBen Logik in den Problemstellungen die Losungen, anstatt nach SchluB-strichen Resultate vorzulegen. Wahrend er die Kritik am analyti-schen Urteil bis zur These von dessen »Falschheit« pointiert, ist bei ihm alles analytisches Urteil, Hin- und Herwenden des Gedankens ohne Zitation eines ihm Auswendigen. DaB das Neue und Andere wiederum das Alte und Bekannte sei, ist ein Moment von Dialektik. So evident sein Zusammenhang mit der Identitatsthese, so wenig wird es von dieser umschrieben. Je mehr der philosophi-sche Gedanke seiner Erfahrung sich uberlaBt, desto mehr nahert er sich, paradox, dem analytischen Urteil. Eines Desiderats der Erkenntnis recht sich bewuBt werden, ist meist diese Erkenntnis selber: Widerpart des idealistischen Prinzips immerwahrender Produktion. Im Verzicht auf die traditionelle Apparatur des Be-

Affirmativer Charakter

weises, im Akzent auf dem bereits gewuBten Wissen setzt in der Philosophie sich durch, daB sie keineswegs das Absolute ist. Das ontologische Bedurfnis garantiert so wenig, was es will, wie die Qual der Verhungernden die Speise. Kein Zweifel an solcher Garantie aber plagt eine philosophische Bewegung, der es nicht an der Wiege gesungen ward. Darum nicht zuletzt geriet sie ins unwahr Affirmative. »Die Verdusterung der Welt erreicht nie das Licht des Seyns.«' Jenen Kategorien, denen die Funda-mentalontologie ihren Widerhall verdankt und die sie darum entweder verleugnet oder so sublimiert, daB sie zu keiner unlieb-samen Konfrontation mehr taugen, ist abzulesen, wie sehr sie Abdriicke eines Fehlenden und nicht Herzustellenden, wie sehr sie dessen komplementare Ideologie sind. Der Kultus des Seins aber, oder wenigstens die Attraktion, die das Wort als ein Supe-riores ausiibt, lebt davon, daB auch real, wie einst in der Erkennt-nistheorie, Funktionsbegriffe die Substanzbegriffe immer weiter verdrangt haben. Die Gesellschaft ist zu dem totalen Funktions-zusammenhang geworden, als welchen sie einst der Liberalismus dachte; was ist, ist relativ auf Anderes, irrelevant an sich selbst. Das Erschrecken davor, das dammernde BewuBtsein, das Subjekt biiBe seine Substantiality ein, prapariert es, der Beteuerung zu lauschen, Sein, unartikuliert jener Substantialitat gleichgesetzt, uberdauere doch unverlierbar den Funktionszusammenhang. Was ontologisches Philosophieren beschworend gleichsam zu erwecken trachtet, wird jedoch unterhohlt von realen Prozessen, Produk-tion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. Die An-strengung, Mensch und Sein und Zeit als Urphanomene theore-tisch zu vindizieren, halt das Schicksal der auferstandenen Ideen nicht auf. Begriffe, deren Substrat geschichtlich dahin ist, wurden durchweg auch im spezifisch philosophischen Bereich als dogmati-sche Hypostasen triftig kritisiert; so bei Kant die Transzendenz der empirischen Seele, die Aura des Wortes Dasein, im Paralogis-menkapitel; der unmittelbare Rekurs auf Sein in dem iiber die Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Die neue Ontologie eignet nicht jene Kantische Kritik sich zu, treibt sie nicht durch Reflexion weiter, sondern geriert sich, als gehore jene einem rationa-listischen BewuBtsein an, von dessen Makeln genuines Denken wie in einem rituellen Bad sich zu reinigen habe. Um trotzdem

Affirmativer Charakter

auch die kritische Philosophie einzuspannen, wird dieser unmit-telbar ontologischer Gehalt imputiert. Heidegger konnte das antisubjektivistische und »transzendierende« Moment nicht ohne Legitimation aus Kant herauslesen. Dieser hebt den objektiven Charakter seiner Fragestellung programmatisch in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft hervor und laBt in der Durch-fuhrung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe an ihr kei-nen Zweifel. Er geht nicht auf in dem, was die konventionelle Philosophiegeschichte verzeichnet, in der Kopernikanischen Wen-dung; das objektive Interesse behalt den Primat iiber das subjektiv gerichtete am bloBen Zustandekommen der Erkenntnis, an einer Zergliederung des BewuBtseins im empiristischen Stil. Keineswegs indessen ist dies objektive Interesse einer verborgenen Ontologie gleichzusetzen. Dagegen spricht nicht nur die Kritik der rationalistischen durch Kant, die zur Not der Konzeption einer anderen Raum lieBe, sondern der Gedankengang der Ver-nunftkritik selbst. Ihm zufolge ist Objektivitat - die der Erkenntnis und die des Inbegriffs alles Erkannten - subjektiv ver-mittelt. Sie duldet zwar die Annahme eines An sich jenseits der Subjekt-Objekt-Polaritat, laBt sie aber mit voller Absicht so unbestimmt, daB keine wie immer geartete Interpretation aus ihr eine Ontologie herauszubuchstabieren vermochte. Wollte Kant jenen kosmos noetikos erretten, den die Wendung zum Subjekt attackierte; tragt insofern sein Werk ein ontologisches Moment in sich, so bleibt es doch Moment und nicht das zentrale. Seine Philosophie mochte jene Rettung vollbringen mit der Kraft des-sen, was das zu Rettende bedroht.

Die Wiederbelebung von Ontologie aus objektivistischer Intention hatte zur Stiitze, was ihr freilich am letzten ins Konzept paBte: daB das Subjekt in weitem MaB zur Ideologic wurde,den objektiven Funktionszusammenhang der Gesellschaft verdeckend und das Leiden der Subjekte unter ihr beschwichtigend. Insofern ist, und nicht erst heute, das Nicht-Ich dem Ich drastisch vorge-ordnet. Das spart Heideggers Philosophie aus, aber sie registriert es: ihr wird jener geschichtliche Primat unter den Handen zum ontologischen Vorrang des Seins schlechthin, vor allem Onti-schen, Realen. Er hat denn auch wohlweislich sich gehiitet, die Kopernikanische Wendung, die zur Idee, vor aller Augen zuriick-

Eixtmaditigung des Subjekts

zudrehen. Seine Version der Ontologie hat er vom Objektivis-mus, seine anti-idealistische Haltung vom sei's kritischen, sei's naiven Realismus eifrig abgegrenzt 2 . Fraglos war das ontologi-sche Bedurfnis nicht auf Anti-Idealismus, nach den Fronten aka-demischen Schulstreits, zu nivellieren. Aber unter seinen Impul-sen desavouierte dennoch der vielleicht nachhaltigste den Idealis-mus. Erschiittert ist das anthropozentrische Lebensgefiihl. Das Subjekt, philosophische Selbstbesinnung hat die Jahrhunderte zuriickdatierende Kritik des Geozentrismus gleichsam sich zuge-eignet. Dies Motiv ist mehr als bloB weltanschaulich, so bequem es auch weltanschaulich auszuschlachten war. Wohl sind iiber-schwangliche Synthesen zwischen der philosophischen Entwick-lung und der naturwissenschaftlichen anriichig: sie ignorieren die Verselbstandigung der physikalisch-mathematischen Formelspra-che, welche langst nicht mehr in Anschauung, uberhaupt in keinen dem menschlichen BewuBtsein unmittelbar kommensurablen Kategorien sich heimholen laBt. Dennoch haben die Ergebnisse der neueren Kosmologie weit ausgestrahlt; alle Vorstellungen, die das Universum dem Subjekt anahneln oder gar als seine Setzung ableiten wollten, zur Naivetat relegiert, vergleichbar der von Schildbiirgern oder Paranoikern, die ihre Stadtchen als Mittel-punkt der Welt betrachten. Der Grund des philosophischen Idea-lismus, Naturbeherrschung selbst, hat gerade vermoge ihrer un-maBigen Expansion wahrend der ersten Halfte des zwanzigsten Jahrhunderts die GewiBheit ihrer Allmacht eingebiiBt; ebenso darum, weil das BewuBtsein der Menschen hinter ihr herhinkte und die Ordnung ihrer Verhaltnisse weiter irrational blieb, wie auch, weil an der GroBe des Erreichten dessen Winzigkeit im Ver-gleich zum Unerreichbaren erst zu messen war. Universal sind Ahnung und Angst, Naturbeherrschung webe durch ihren Fort-schritt immer mehr mit an dem Unheil, vor dem sie behuten wollte; an jener zweiten Natur, zu der die Gesellschaft gewuchert ist. Ontologie und Seinsphilosophie sind — neben anderen und groberen — Reaktionsweisen, in denen das BewuBtsein jener Ver-strickung sich zu entwinden hofft. Aber sie haben eine fatale Dialektik in sich. Die Wahrheit, die den Menschen aus dem Mit-telpunkt der Schopfung verjagt und ihn seiner Ohnmacht ge-mahnt, bekraftigt, als subjektive Verhaltensweise, das Gefuhl der

Entmaditigung des Subjekts

Ohnmacht, veranlaBt die Menschen, mit ihr sich zu identifizieren, und verstarkt damit weiter den Bann der zweiten Natur. Seins-glaubigkeit, triibes weltanschauliches Derivat kritischer Ahnung, artet wirklich zu dem aus, als was Heidegger unvorsichtig sie einmal defmierte, zur Seinshorigkeit. Sie fiihlt sich dem All gegen-iiber, heftet aber ohne viel Umstande sich an jegliches Partikulare, wofern es nur das Subjekt der eigenen Schwache energisch genug uberfuhrt. Dessen Bereitschaft, vor dem Unheil zu ducken, das im Zusammenhang der Subjekte selber entspringt, ist die Rache fur deren vergeblichen Wunsch, aus dem Kafig ihrer Subjektivitat herauszuspringen. Der philosophische Sprung, Kierkegaards Ur-gestus, ist selber die Willkiir, welcher die Unterwerfung des Subjekts unters Sein zu entrinnen wahnt. Nur wo das Subjekt auch, nach Hegels Sprache, dabei ist, mindert sich sein Bann; er perpe-tuiert sich in dem, was zum Subjekt das schlechthin Andere ware, so wie stets schon der deus absconditus Ziige der Irrationalitat mythischer Gottheiten trug. Licht fallt auf die restaurativen Phi-losophien von heutzutage vom kitschigen Exotismus kunstge-werblicher Weltanschauungen her, wie dem erstaunlich konsum-fahigen Zen-Buddhismus. Gleich diesem simulieren jene eine Stellung des Gedankens, welche einzunehmen die in den Subjek-ten aufgespeicherte Geschichte unmoglich macht. Einschrankung des Geistes auf das seinem geschichtlichen Erfahrungsstand Offene und Erreichbare ist ein Element von Freiheit; das begriffslos Schweifende verkorpert deren Gegenteil. Doktrinen, die dem Subjekt unbekummert in den Kosmos entlaufen, sind samt der Seins-philosophie mit der verharteten Verfassung der Welt, und den Er-folgschancen in ihr, leichter vereinbar als das kleinste Stiick Selbst-besinnung des Subjekts auf sich und seine reale Gefangenschaft. Heidegger freilich durchschaute die Illusion, von welcher der populare Erfolg der Ontologie zehrt: daB aus einem BewuBtsein, in dem Nominalismus und Subjektivismus sedimentiert sind, einem, das uberhaupt nur durch Selbstreflexion zu dem wurde, was es ist, der Stand der intentio recta einfach gewahlt werden konne. Er umgeht die Alternative mit der Seinslehre, welche sich als jenseits von intentio recta und intentio obliqua, von Subjekt und Objekt, wie von Begriff und Seiendem behauptet. Sein ist der oberste Begriff - denn wer Sein sagt, hat nicht es selber im Munde,

Sein, Subjekt, Objekt

sondern das Wort - und sei doch vor aller Begrifflichkeit privile-giert, kraft der im Wort Sein mitgedachten Momente, die in der abstrakt gewonnenen begrifflichen Merkmaleinheit nicht sich erschopfen. Obwohl zumindest der reife Heidegger darauf nicht mehr Bezug nimmt, supponiert seine Rede vom Sein die Husserl-sche Doktrin von der kategorialen Anschauung oder Wesensschau. Einzig durch solche Anschauung konnte, der Struktur nach, wel-che die Heideggersche Philosophie dem Sein zuschreibt, es sich, nach dem Sprachgebrauch der Schule, erschlieBen oder enthullen; das emphatische Sein Heideggers ware das Ideal dessen, was der Ideation sich gibt. Die in jener Doktrin gelegene Kritik an der klassifikatorischen Logik als der Merkmaleinheit des unterm Be-griff BefaBten bleibt in Kraft. Aber Husserl, dessen Philosophie in den Schranken der Arbeitsteilung sich hielt und trotz aller so-genannten Fundierungsfragen bis zu ihrer Spatphase den Begriff der strengen Wissenschaft unbehelligt lieB, suchte, mit deren Spiel-regeln, in unmittelbare Ubereinstimmung zu bringen, was seinen eigenen Sinn hat an deren Kritik; he wanted to eat the cake and have it too. Seine ausdrucklich als solche vorgetragene Methode mochte den klassifikatorischen Begriffen durch den Modus, in dem Erkenntnis ihrer sich versichert, einfloBen, was sie als klassi-fikatorische, als bloBe Zuriistung von Gegebenem nicht haben konnen, sondern hatten allein durchs Begreifen der Sache selbst, die bei Husserl changiert zwischen einem Intramentalen und einem der BewuBtseinsimmanenz Entgegengesetzten. Nicht, wie es zu Lebzeiten Husserls der Brauch war, ist ihm die Unwissen-schaftlichkeit der kategorialen Anschauung als irrationalistisch vorzuwerfen — sein oeuvre als ganzes opponiert dem Irrationalis-mus— sondern ihre Kontamination mit Wissenschaft. Heidegger hat das bemerkt und den Schritt getan, vor dem Husserl zogerte. Er hat aber dabei das rationale Moment weggeworfen, das Husserl hutete*, und, darin eher Bergson verwandt, stillschweigend ein Verfahren praktiziert, das die Beziehung auf den diskursiven Begriff, unabdingbares Moment von Denken, opfert. Dabei bedeckte er die BloBe Bergsons, der zwei gegeneinander unvermittelte, disparate Weisen von Erkenntnis nebeneinander aufstellt, indem er unter Mobilisierung der angeblich hoheren Wurde dessen, was der

* Vgl. bereits das Kapitel iiber die Rechtsprechung der Vernunft aus den >Ideen<.

Ontologischer Objektivismus

kategorialen Anschauung zuteil wird, mit der Frage nach seiner Legitimation auch die erkenntniskritische als vorontologisch beseitigt. Das Ungeniigen an der erkenntnistheoretischen Vorfrage wird zum Rechtstitel, diese einfach zu eliminieren; Dogmatik wird ihm, ge-geniiber der Tradition ihrer Kritik, schlicht zur hoheren Weisheit. Das ist der Ursprung von Heideggers Archaismus. Die Zweideu-tigkeit der griechischen Worte fur Sein, zuriickdatierend auf die jo-nische Ungeschiedenheit von Stoffen, Prinzipien und reinem Wesen, wird nicht als Insuffizienz sondern als Superioritat des Urspriing-lichen verbucht. Sie soil den Begriff Sein von der Wunde seiner Be-grifflichkeit, der Spaltung von Gedanken und Gedachtem, heilen. Was aber auftritt, als hatte es seinen Ort im Weltalter vor dem Sundenfall subjektivierender wie vergegenstandlichender Meta-physik, wird contre cceur zum krassen An sich. Subjektivitat, die sich verleugnet, schlagt um in Objektivismus. Wie sorglich auch solches Denken der kritizistischen Kontroverse ausweicht, indem es die beiden antithetischen Positionen gleichermaBen dem Seins-verlust zuzahlt, die Sublimierung seiner Begriffe, rastlose Fort-setzung der Husserlschen Reduktionen, entauBert, was mit Sein gemeint wird, ebenso alien individuierten Daseins wie aller Spuren rationaler Abstraktion. In der Tautologie, auf welche dies Sein hinauslauft, ist das Subjekt verscheucht: »Doch das Sein — was ist das Sein? Es ist Es selbst.« 3 Solcher Tautologie nahert Sein sich zwangslaufig. Sie wird nicht besser, wenn man mit kluger Offen-herzigkeit fur sie optiert und sie zur Burgschaft des Tiefsten er-klart. Jedes Urteil, nach Hegels Aufweis sogar das analytische, tragt, ob es will oder nicht, den Anspruch in sich, etwas zu pra-dizieren, was nicht einfach mit dem bloBen Subjektbegriff iden-tisch ist. Kehrt das Urteil daran sich nicht, so bricht es den Ver-trag, den es vorweg durch seine Form unterzeichnet hat. Das wird aber bei dem Seinsbegriff, wie ihn die neue Ontologie handhabt, unvermeidlich. Sie »endet bei der Willkur, >Sein<, das gerade in seiner Reinheit das genaue Gegenteil von reiner Unmittelbarkeit, namlich ein durch und durch Vermitteltes, nur in Vermittlungen sinnvoll ist, als das schlechthin Unmittelbare zu unterschieben« 4 . Sein mu6 sie nur durch es selber bestimmen, weil es weder durch Begriffe faBlich, weder also »vermittelt« sei, noch nach dem Mo-dell des sinnlich Gewissen unmittelbar sich zeigen laBt; anstelle