Schlachtensplitter 14
Am Siegel der großen Kaiserin auf der Roten Ebene
Reißer, Lord Whiley, Feld. Der alte Krieger hat es mit Reißern aufgenommen, ja, und er hat verloren, so früh am Tag. Ich denke, er ist einfach auf dem falschen Fuß aufgestanden, wenn man das so sagen kann. Tatsächlich ist er ausgerutscht. Natürlich, vorher hat er mehr als ein halbes Dutzend der Chaos-Kreaturen erschlagen. Zuerst mit seinem Schwert, dann mit seinem Streitkolben. Ich sehe zu, wie die Reißer seine Leiche ... nun ja ... zerreißen.
Selbst von hier aus der Schlachtreihe kann ich sehen, wie die sehnigen Muskeln ihrer übergroßen Arme arbeiten. Sehe die dumme, triebgesteuerte Mordlust in ihren Gesichtern. Dann erinnere ich mich an eine Nachbarin. Sie arbeitet in ihrem Garten, macht Heu. Sie hatte einen halbwüchsigen Bruder, der sie genervt hat. Irgendwann kam ihr Vater, hat ihn vertrieben. Dann hat er sie geschlagen. Ich habe damals nicht verstanden, warum und tue es auch heute nicht. Dann ist die Erinnerung verschwunden und ich bin wieder hier auf der Roten Ebene. Zurück bei Lord Whiley und den Reißern.
Sie sind jetzt fertig mit ihm. Zusammen mit einem Flederbiest machen sie sich bereit, unsere Schlachtreihe anzugreifen. Unsere Pfeile und Zauber fliegen ihnen entgegen. Ich packe mein Schwert fester. Ich beschließe, das Flederbiest unseren Speerkämpfern zu überlassen. Etwa die Hälfte der Reißer übersteht unseren Beschuss und kommt durch. Ich suche mir einen. Während ich ihn zerhacke, muss ich an Lord Whiley denken, was sie mit ihm gemacht haben. Es ist schon seltsam, dass sich Rachegefühle in mir regen. Aber ich will den Reißern wehtun, wie sie ihm wehgetan haben. Den Reißern und allen Chaos-Kreaturen, die uns der Herr des Tores Gaarth heute noch entgegensenden wird. Dabei weiß ich es doch eigentlich besser. Ich weiß doch, dass auf der Roten Ebene nichts wirklich eine Rolle spielt. Und warum ausgerechnet Lord Whiley diese Regung in mir erweckt? Es heißt, er habe seine Frau wegen Untreue erwürgt. Deswegen sei er hier auf der Roten Ebene. Mal ganz davon abgesehen, dass er immer schon ein Krieger war. Krieger sterben nun mal durch Krieg, nicht wahr? Aber ich denke zu viel nach. Das merke ich daran, dass der Reißer mich mit einer seiner Klauen erwischt. Er hat gut gezielt. Seine Krallenfinger bohren sich in mein Fleisch. Auf meiner rechten Seite unterhalb des Arms. Geschickt an meiner Brustplatte vorbei. Der Schmerz bringt mich zurück in meine Realität.
Am Ende töte ich den Reißer, lasse ihn mit aufgeschlitzter Kehle im Dreck der Roten Ebene liegen. Dann suche ich die Nähe des Paladins, der uns heute anführt. Ich bitte nicht um ein Heilzauber, aber er erkennt meinen Zustand. Könnte darin liegen, dass die Wunde stark blutet. Er ruft seinen Gott an, die Wunde schließt sich. Mit einem Kopfnicken schickt er mich wieder zurück in die Schlachtreihe. Ungetüme und Skelette. Die Skelette sind das geringste Problem. Aber die aus bizarr verschmolzenen Leichenleibern bestehenden Ungetüme - oh, der Anblick ist schrecklich. Bizarre Fleischansammlungen mit vielen Gesichtern. Mit vielen Armen und Beinen. Sie rollen und kriechen, hüpfen und humpeln auf uns zu. In jedem der Gesichter kann ich Agonie erkennen. Ich bin froh, als unsere Magier beginnen, Feuerbälle zu werfen. Ich will keinem der Ungetüme näherkommen, als es sein muss. Eines erreicht uns doch, nicht unsere Schlachtreihe, aber doch auf der Höhe, auf der ich mich befinde. Wir gehen es zu viert an. Die Kriegerin neben mir überlebt diesen Kampf nicht. Ein Arm packt sie, zieht sie nah heran und das Ungetüm. Narbig-fauliges Fleisch umschließt sie. Hände reißen, Münder beißen. Die Zähne dieser Münder brechen an ihrer Rüstung ab, aber genug von ihnen erreichen dennoch ihr Fleisch.
Am Ende ist es Firland von Goldsporn, der lange Tod. Mit seinen zwei langen Dolchen geht er die Bestie von hinten an. Oft muss er auf das Ungetüm einstechen. Als er fertig ist, schaut er uns an, als müssten wir ihm danken. Tun wir dann, damit er weggeht.
Das Chaos schickt uns dunkle Schlachtenritter und Schwerthexer. Der Herr des Tores Gaarth meint es heute ernst. So scheint es zumindest. Überall Geschrei. Pfeile zischen, Bolzen summen wie Hornissen. Unsere fliegen nach Norden. Wieder Chaos-Kreaturen, Pfeile fliegen unsere Richtung, Richtung Süden, in Richtung des gewundenen Turms.
Ich schlage und steche um mich mit meiner Klinge. Ein paar Schnitte bekomme ich ab, aber ich teile mehr aus, als ich einstecke. Irgendwann sind zu viele Stücke aus meinem Schild herausgehauen, als dass es noch nützlich wäre. In einem Augenblick der Ruhe hole ich mir ein neues von einem gefallenen Kameraden. Sie liegen überall verstreut. Blauröcke, Magier, Paladine. Auch der, der uns angeführt hat. Sein Kopf nach hinten gedreht, das Gesicht verzerrt. Auch erschlagene Chaos-Kreaturen liegen hier. Ich glaube, es sind mehr. Das würde bedeuten, dass wir siegen. Dieses Wort allerdings hat wiederum keine Bedeutung auf der Roten Ebene. Die Matriarchin von Loom ist da, mit ihrer Kriegskrone aus gerötetem Eisen.
Für ihr Alter schwingt sie ihre Streitaxt mit beachtlicher Kraft. Das muss man ihr lassen. Für eine ganze Weile kämpfe ich neben ihr. Soweit ich mich erinnern kann, ist sie schon lange hier, auf der Roten Ebene. Ich möchte ihre Aufmerksamkeit erregen. Zuerst weiß ich nicht warum, aber ich möchte sie etwas fragen. Die seltsame Hütte im Totbaumwald. Das Buch. Ich will sie fragen, ob sie selbst so etwas Unerklärliches schon einmal erlebt hat, seit sie hier ist. Aber ich erhalte nicht die Gelegenheit.
Echsler kommen über uns, und zwar viele von ihnen. Der Kampf führt mich fort von der Matriarchin von Loom. Mit einem starken, waagerecht geschwungenen Schlag durchtrenne ich einem Echsler die Wirbelsäule, einem anderen nehme ich die Klauenhand, dem nächsten das halbe Gesicht. Ich, wir alle, sind über und über mit Kreaturenblut bedeckt. Ich stehe einer Kriegerin bei, die sich eines Würgeschattens erwehrt. Wir besiegen die halbstoffliche Kreatur gemeinsam, aber ihre Verletzungen sind zu schwer. Es ist kein Magier oder Paladin in der Nähe. Sie hat keinen, und einen meiner Heiltränke will ich ihr nicht geben. Mit ihrem Einverständnis verkürze ich ihr Leiden.
Warum auch nicht? Morgen wird sie ohnehin wieder kämpfen, so ist das nun mal. Es wird etwas ruhiger in unserem Abschnitt. Wir formieren die Schlachtreihe neu. Unsere Bogenschützen sammeln die Pfeile wieder ein, die sie verschossen haben. Reißen sie aus dem Boden der Roten Ebene und aus den Leichen der Chaos-Kreaturen heraus. Wie üblich sehe ich in den Wolken höhnische Fratzen, die auf uns herunterblicken. Ein einzelner weißer Drache fliegt nach Norden. Ich frage mich, wo der Turmmeister ihn hinschickt.
Ich blicke mich um, in die Gesichter der Männer und Frauen ringsum. Ich betrachte sie, ich sehe nichts, was mich interessiert an diesem Morgen. Ich hoffe, dass es am nächsten Tag anders sein wird, dass ich Motivation verspüre, Kampfeslust, irgendetwas. Aber heute, jetzt, in diesem Augenblick - ich verlasse die Schlachtreihe. Ich schiebe mich zwischen den anderen Blauröcken hindurch nach Süden. Es hindert mich keiner am Desertieren. Warum auch? Sie wissen, dass ich morgen wieder kämpfen werde. Wahrscheinlich sogar schon heute, wenn ich ehrlich bin. Trotzdem, ich gehe.
Als ich mich etwa hundert Schritt von unserer Streitmacht entfernt habe, wende ich mich nach Westen. Aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht warum, will ich an die Küste. Ein wenig seltsam finde ich meine eigene Erregung. Ich weiß nicht einmal, ob ich es bis dorthin schaffen werde an diesem Tag. Die Rote Ebene ist groß, aber ich laufe los. Vielleicht ist es das, was zählt. Hin und wieder komme ich an toten Chaos-Kreaturen oder toten Männern und Frauen vorbei, vereinzelt nur.
Lange horche ich in mich selbst hinein. Ich erkenne, dass ich frustriert bin. Frustriert, dass ich der Matriarchin von Loom meine Fragen nicht stellen konnte. Ich weiß nicht, warum ich von diesem Gedanken heute so besessen bin. Ich weiß ja nicht einmal, ob sie mir wirklich eine Antwort geben kann. Auch weiß ich nicht, ob eine Antwort auf meine Fragen irgendetwas ändern würde. Die Hütte, die plötzlich verschwunden ist, genauso wie das Buch mit den leeren Seiten. Bei wem habe ich es doch gleich gefunden? Ich verfluche mein Gehirn. Dann sage ich mir, dass ich nichts dafür kann. Das macht die rote Ebene mit uns. Die Ewigkeit frisst etwas in uns auf.
Es wird Mittag. Es ist heiß. Ich lege die Brustplatte ab. Ich lasse sie liegen, zusammen mit meinem blauen Wappenrock. Auch meinen Schild will ich nicht mehr tragen. Alles ist mir schwer. Eine ganze Weile später stellt sich diese Entscheidung als Fehler heraus. Ich höre die Schreie der Harpyen schon von weitem. Viele, sicherlich zwei Dutzend. Zuerst bin ich nicht sicher, ob sie es wirklich auf mich abgesehen haben. Aber doch, ja, sie lassen sich Zeit kreisen über mir für eine Weile. Aber ihre Schreie, ihre Schreie machen mich wahnsinnig. Sie fressen sich geradezu in meine Ohren und von da aus in meinen Kopf.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Mit meinem Himmelszorn erledige ich etwa die Hälfte von ihnen. Natürlich greifen die anderen mich jetzt an, die, die übrig sind. Ich aktiviere meine Steinhaut und meine Hast. Nachdem ich noch drei von ihnen erschlagen habe, werden die anderen schlauer. Sie warten einfach, umkreisen mich erneut. Als ich das bemerke, renne ich. Meine Hast trägt mich weit über die rote Ebene. Als sie verfliegt, sind die Harpyen weit weg. Aber meine Spur haben sie nicht verloren. Ich habe es nicht zu den Klippen geschafft, stelle ich fest.
Dabei bin ich doch die ganze Zeit nach Westen … ach, egal. Sie kommen jetzt. Der Ersten, die es versucht, schlage ich eine ihrer messerscharfen Vogelkrallen ab. Auch zwei andere kann ich verletzen. Aber immer, wenn ich mich mit einer befasse, kommt eine andere aus der Luft herab. Eine Kralle bohrt sich irgendwo in mich hinein. Irgendwann kann ich nicht mehr stehen und mein Schwert nicht mehr heben. Mir wird schwindelig und ich falle. Alles wird schwarz und dann, nach einer Ewigkeit, wieder hell.
Hell und grell und schmerzvoll.
Eine steht neben meiner rechten Schulter, hat einen Krallenfuß dort in mich hineingebohrt. Doch die andern stehen um mich herum, Sie unterhalten sich aber nicht in einer Sprache, die ich verstehen kann. Für mich klingen ihre Stimmen schrecklich widerlich. Ihre ganze Erscheinung, die Vogelbeine. Die Flügel, die grausamen Augen. Die Brüste, etwas regt sich in mir bei dem Anblick, obwohl ich es nicht will. Dabei sind auch die Brüste der meisten Harpyen hässlich. Naja, bis auf zwei oder drei von ihnen.
Sie lassen sich Zeit mit mir. Ich frage mich, warum. Will der Herr des Towers Gaarth sie nicht irgendwo anders einsetzen? Warum zwei Dutzend nach einem einzelnen Krieger schicken? Ja, warum, wo sie doch woanders viel mehr töten könnten?
Immer wieder wird mir mit den Vogelkrallen ein Schnitt zugefügt. Die Schnitte sind nie tief, aber ich verliere Blut und es brennt ganz grässlich. Weiter schnattern die Harpyen miteinander in ihrer grässlichen, widerlichen Sprache. Mit der Zeit werden die Schnitte, die sie mir zufügen, tiefer. Daher werden auch meine Schreie lauter. Mein ganzer Körper zittert und krampft.
Eine öffnet meine Bauchdecke, sie zerren meine Eingeweide aus mir heraus. Ich denke, bald ist dieser Tag auf der Roten Ebene für mich zu Ende. Aber das ist nicht schlimm, ein Neuer wird kommen.
Dann schwarz.