Die Macht der Konnektive

Damit stellt sich das Problem, wer eigentlich im Zweifel die fünfte Gewalt zur Rechenschaft zieht bzw. wie sich das mächtig gewordene Medienpublikum – ohne institutionelle Adresse und verantwortungsethische Erreichbarkeit – gleichsam selbst zivilisiert. Denn natürlich hat der Kommunikationswissenschaftler Tanjev Schultz recht, wenn er schreibt: Die fünfte Gewalt »tritt eben keineswegs nur in Gestalt einer Kontroll- und Gegenmacht auf, die berechtige Ansprüche vorträgt und zu Unrecht marginalisierten Positionen eine verdiente Aufmerksamkeit verschafft. Hinter ihr verbergen sich oft auch Penetranz, Populismus, Extremismus, Dilettantismus, Vorurteile, Verschwörungstheorien, Desinformation, Propaganda und Mobbing. Kurzum: Die Peripherie der Peripherie ist, wenn sie sich zur fünften Gewalt aufschwingt, ebenso Chance wie Gefahr für die deliberative Demokratie.«80 Wer vermag also die neue Kontrollinstanz im Diskursuniversum zu kontrollieren? Eine Kontrolle ist prinzipiell kaum möglich, weil es in der Regel keine klar identifizierbaren Einzelpersonen und keine berechenbare Schrittfolge der Abläufe gibt. Man kann nicht einfach einen Einzelnen als den zentralen Akteur ausfindig machen und bei Bedarf auch zur Rechenschaft ziehen, weil sich die Netzwerkeffekte nicht in dieser Weise personalisieren lassen. Die Macht der vernetzten Vielen manifestiert sich in zirkulär miteinander verflochtenen Wirkungsketten und im energetischen Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte, die einen einzelnen Anlass plötzlich zum Großereignis explodieren lassen. Ein Beispiel für die spontane Mobilisierung ohne klar identifizierbare Anführer und die diskursprägende Wirkung plötzlich durchdringender Anstöße liefert die #aufschrei-Debatte, die das Thema des Alltagssexismus auf die allgemeine Agenda katapultiert hat. Wie hat alles angefangen? Die erste Antwort: Es gab eine allgemeine Sensibilisierung für das Thema des Sexismus, weil Magazine wie Spiegel und Stern zuvor über Übergriffe und Anzüglichkeiten berichtet hatten. Die zweite Antwort lautet jedoch: Alles begann – eben in einer Stimmung der gesteigerten Sensibilität – mit einem einzigen Tweet. In der Nacht des 24. Januar 2013 liest die Netzaktivistin Anne Wizorek eine Botschaft ihrer Online-Bekanntschaft Nicole von Horst, die sie erschüttert: »Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuches im Krankenhaus lag.« Es ist dieser aufs äußerste verknappte Bericht von einem Übergriff, der sie auf die Idee bringt, solche Erfahrungen sexistischer Brutalität unter dem Hashtag #aufschrei zu sammeln. Und plötzlich werden jede Menge dummer Sprüche sichtbar, aber auch Gewalt, Schläge, Attacken. Als sich immer mehr Frauen mit ihren Erlebnissen zu Wort meldeten, schreibt Anne Wizorek überwältigt: »Ich heule gerade, aber hört nicht auf.« 60.000 Tweets kommen allein innerhalb der ersten beiden Wochen zusammen – schockierende Mini-Narrative, erzählt in einer Länge von maximal 140 Zeichen. Man sieht hier, gruppiert um einen Hashtag, eine Organisation ohne Organisation. Es handelt sich um eine pulsierende, in Intensität und Größe changierende, durch das Teilen von Information entstandene Gemeinschaft, die man – im Unterschied zu einem strikt hierarchisch geprägten Kollektiv – als Konnektiv bezeichnen könnte.81 Kollektive (man denke nur an eine Partei oder ein beliebiges Unternehmen) agieren auf der Grundlage klarer Absprachen, gemeinsamer Grundsätze und starker Bindungen, orientiert an deutlich erkennbaren Entscheidungs- und Machtzentren. Es gibt die Möglichkeit von Anweisung und Anordnung. Das konnektive Handeln ist demgegenüber weniger fremdbestimmt, stärker am individuell-persönlichen Selbstausdruck ausgerichtet, ermöglicht und geprägt von digitalen Medien. Es gibt keine klar definierten Innen-außen-Grenzen. Man kann einem Konnektiv keine Befehle erteilen, ein gemeinsames Vorgehen erzwingen und die Zugehörigkeit autoritär festlegen. Niemand kann sagen: »So, Schluss jetzt! Nun aber in die andere Richtung!« Konnektive besitzen die Gestalt einer Individualmasse, sie verbinden die Wucht des gemeinschaftlichen Auftritts mit dem persönlichen Selbstausdruck, der ungefiltert und ohne Einpassung in ein verordnetes Schema sichtbar bleibt. Es sind Ich-Wir-Gemeinschaften, deren Attraktivitätsgeheimnis in der Mischung aus Zugehörigkeitsversprechen, Offenheit und einem Individualisierungsangebot in Form von eigenen Geschichten, Bildern, Filmen und Beiträgen besteht.

Eines sei jedoch gleich hinzugefügt: Die Ad-hoc-Bildung solcher Konnektive bedeutet mitnichten, dass Kollektive – NGOs, professionelle Kampagneros, institutionell stabile Interessengruppen – überflüssig werden und überall nur noch die instabile Formation des Schwarms regiert, der sich spontan bildet, um dann wieder ins Nichts der Desorganisation zu zerfallen. Vielmehr können klassische Kollektive (und natürlich auch mächtige Einzelne und smarte PR-Strategen) die Bildung von Konnektiven mehr oder minder zielgerichtet inspirieren – und dadurch Debatten und Diskurse prägen. Sie liefern den Vielen, die sich plötzlich zuschalten, vorfabrizierte Materialien, ausformulierte Protestschreiben, aufrüttelnde Bilder, einfache, massenwirksame Botschaften und animieren sie zum Twittern und Klicken. So nutzte etwa die Umweltorganisation Greenpeace, ein klassisches Kollektiv, 2010 zum ersten Mal soziale Netzwerke offensiv als Kampagnenmedien und trieb den Riesenkonzern Nestlé mit vorbereiteten Online-Petitionen und Schock-Videos vor sich her. Der Konzern sollte dazu gebracht werden, auf den Palmöl-Kauf bei jenen Anbietern verzichten, die in illegale Urwaldrodungen in Indonesien verwickelt waren. Die Strategie der umfassenden Mobilisierung war erfolgreich. Empörte Kunden und Konsumenten twitterten einen endlosen Strom von Protestbotschaften, artikulierten ihren Unmut in sozialen Netzwerken und verlinkten die Schock-Videos, die vom Tod von Orang-Utans in einem zerstörten Urwald handelten. Nestlé, der Weltkonzern, knickte schließlich ein. Das heißt, erneut allgemeiner betrachtet: Die Macht der vernetzten Vielen isoliert zu denken ist nicht möglich. Mal ist es die gesellschaftliche Stimmung im Verbund mit dem Anstoß eines Einzelnen, die die Erregung forciert; mal ist es eine Kampagnenidee, die plötzlich Resonanz erzeugt. Und in der Regel sind es die klassischen Massenmedien, die eine Verknüpfung von Mikro- und Makroöffentlichkeit herstellen, die Themensetzung mit der nötigen Wucht versorgen.

Unabweisbar ist in all diesen Prozessen der Beeinflussung des Diskurses jedoch, dass das einst gesichtslose, zur Passivität verdammte Heer der Medienkonsumenten eine aktive Rolle übernommen hat und dass der Homogenität suggerierende Gebrauch des Kollektivsingulars – das Publikum – sinnlos geworden ist im Übergang von der Mediendemokratie zur Empörungsdemokratie. Es sind Leute, die »früher Publikum genannt wurden«, wie der Journalist Jay Rosen formuliert.82 Sie prägen mit unterschiedlichen Absichten und Anliegen, mal gelassen und mal wütend, mal konstruktiv und mal destruktiv, das große, öffentliche Gespräch, das die Gesellschaft über sich selbst führt.