I n dieser Nacht machte niemand mehr ein Auge zu. Nur von Toni, die sich im Schlafzimmer verbarrikadiert hatte und von allem anderen nichts mehr wissen wollte, war nichts mehr zu hören.
Grassi hatte zusammen mit Ricci und Feltrinelli ad hoc eine Einsatzbesprechung am Küchentisch anberaumt, zu der auch Capitano Bruzzone hinzugezogen wurde. Gleich zu Beginn machte die Quästorin klar, dass die Polizia di Stato die Federführung bei den Mordermittlungen habe, von den örtlichen Carabinieri erwarte sie sich uneingeschränkte Unterstützung. Hierbei warf sie Bruzzone einen Blick zu, den jeder andere Befehlsempfänger mit einem strammen »Sì, Signora« quittiert hätte. Der Capitano aber war frech genug, den Vorschlag zu machen, den ersten Fall bei den Carabinieri zu belassen, um die »frischen Strukturen« bei der Staatspolizei nicht »überzustrapazieren«. Grassi biss sich auf die Lippen. Doch die Quästorin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir werden Ihren Vorschlag gegebenenfalls später noch einmal prüfen. In der Zwischenzeit muss es darum gehen, nach den bedauernswerten Pannen im Tunnelfall der Bevölkerung das Vertrauen in die Ermittlungsorgane zurückzugeben.«
Das saß. Bruzzone hielt den Mund.
Die Quästorin werde nun umgehend die deutschen Behörden über den Fund des toten Rudolf Weber informieren. Danach müsse man das weitere Vorgehen mit ihnen abstimmen. Die Polizia di Stato stehe weiterhin bereit, das Haus des Toten in Levanto zu durchsuchen. Man käme nun nicht umhin, die beiden Fälle parallel zu bearbeiten und das bisherige Team aufzuteilen. Sie könne jedenfalls keine zusätzlichen Beamten versprechen, denn die Personaldecke sei knapp. Umso wichtiger sei die Unterstützung durch die Carabinieri in Levanto. Grassi und Bruzzone verabredeten sich für den Vormittag in der dortigen Carabinieri-Station.
Bevor sie auseinandergingen, zeigte Ricci ihnen auf ihrem Handy erste Berichte im Netz über den Einsatz inklusive dramatischer Bilder von Grassis mit Blaulicht geflutetem Haus mit unübersichtlich vielen Polizei- und Einsatzfahrzeugen auf Zufahrt und Hausplatz.
Der Commissario war hundemüde und hatte sich eigentlich noch eine Stunde auf das Sofa legen wollen, doch seine innere Unruhe war zu groß. Überall im Haus waren die Spuren der nächtlichen Aktivitäten zu sehen. Der Boden war schmutzig, zahlreiche Gläser und Tassen standen auf Anrichte und Küchentisch wie nach einer Party. Einweghandschuhe lagen achtlos herum, auf der Terrasse hatten Kollegen ihre Schutzanzüge heruntergerissen und einfach liegen lassen. Grassi beschloss, das Chaos nicht Toni zu überlassen, die mit tiefem Schlaf gesegnet schien, und machte sich ans Aufräumen.
Etwa eine Stunde später war das Haus wieder halbwegs bewohnbar. Grassi wartete darauf, dass der Kaffeekocher auf dem Gas zu blubbern begann. Als es so weit war, nahm er die Kanne mit einem gefalteten Handtuch vom Herd, goss die duftende Flüssigkeit in eine weiße Henkeltasse und trat auf die Terrasse. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, die Luft war klar, und die bewaldeten Hänge und Höhenzüge des Tals sahen aus wie frisch gewaschen. Es war so still und friedlich, dass er meinte, das Meer rauschen zu hören. Er atmete tief durch. Was für ein Einstand für ihn. Aber vor allem: Was für ein Schock für Levanto! Zwei Tote innerhalb weniger Tage. Auf den ersten Blick ohne jeden Zusammenhang. Und doch wuchs in ihm längst ein leiser Zweifel daran, dass die Unmittelbarkeit der Ereignisse reiner Zufall war. Er dachte an die nächtlichen Schüsse, die ihn in den ersten Tagen mehrfach aufgeschreckt hatten. Er dachte an seinen Nachbarn Francesco, der nachts im Mad-Max-Aufzug mit einem ungeladenen Gewehr die Gegend unsicher machte, weil er als Ein-Mann-Bürgerwehr für Sicherheit sorgen wollte. Er dachte an einen Deutschen, der in Ligurien vielleicht das Paradies gesucht und den Tod gefunden hatte. Levanto sehen und sterben.
Gerade als er den letzten Schluck Caffè ausgetrunken hatte, fuhr ein Polizeifahrzeug durch das Tor, und zwei Carabinieri stiegen aus. Die Ablösung für die Bewachung des Tatorts. Die beiden grüßten den Commissario im Vorbeigehen und verschwanden hinter dem Olivenhain. Wenig später kamen zwei müde und durchfroren aussehende Polizisten über den Olivenhain gestapft. Grassi bot ihnen noch einen Caffè an, aber sie lehnten dankend ab, wollten nur nach Hause, setzten sich ins Auto und verschwanden.
Die dreistöckige Carabinieri-Station lag mitten im Ort an der Corsa Roma und war erstaunlich gut gesichert. Ein zweieinhalb Meter hoher Zaun aus dicht stehenden dicken weißen Eisenstangen zog sich um das ganze Gelände. Grassi trat an das vergitterte Tor, drückte die Klingel und hielt seinen Polizeiausweis hoch. Erst hörte er das Sirren der fokussierenden Kamera am Laternenpfahl hinter sich. Dann summte das Schloss, und Grassi drückte das Tor auf. Dahinter musste er durch eine Art vergitterte Schleuse bis zu einer weiteren gesicherten Tür gehen, die sich ebenfalls automatisch öffnete. Er betrat den Empfang und begrüßte den bebrillten Kollegen hinter der Panzerglasscheibe des Tresens. »Guten Morgen. Ich bin Commissario Grassi aus La Spezia.«
»Buongiorno, Commissario. Ich bin Agente Pastorino. Der Capitano erwartet Sie schon. Was haben Sie denn mit Ihren Schuhen gemacht?«
Grassi sah an sich herunter. Seine schwarzen Halbschuhe waren dreckverkrustet bis zur Schnürung und sahen wirklich übel aus. Leider war ihm erst am Morgen, nachdem er sich frisch gemacht hatte, eingefallen, dass sein zweites Paar Schuhe im Schlafzimmerschrank stand. Weil er Toni nicht hatte wecken wollen, war er angeekelt mit seinen frischen Socken wieder in die durchweichten Schuhe getreten und hatte sie mit spitzen Fingern gebunden.
»Ach, das ist von dem unfreiwilligen Waldspaziergang heute Nacht.« Er überlegte kurz, ob er diesen Beamten bei dem Einsatz gesehen hatte. »Sie wissen, wovon ich spreche?«
Pastorino nickte ernst. Offenbar fand er Grassis Bemerkung nicht sonderlich komisch. »Ich bin nicht mehr so oft im Außeneinsatz.« Der Carabiniere deutete auf eine Tür. »Da durch, bitte, und die Treppe rauf.«
Auf dem Weg zu Bruzzones Büro trat der Commissario in eine Toilette und reinigte seine Schuhe notdürftig mit Toilettenpapier. Die Ledersohlen waren hin. Er wusch sich die Hände und sah sich im Spiegel an. Dann bringe ich das mal hinter mich.
Im ersten Stock lief der Commissario einen Flur entlang, bis er durch eine offene Tür Bruzzone am Schreibtisch sitzen sah.
»Kommen Sie rein. Sie sehen aus, als könnten Sie einen Caffè vertragen?«
»Danke, ich hatte schon einen.«
»Ganz wie Sie meinen.« Bruzzone gab sich beflissen, aber der Commissario glaubte, die Kränkung in seinen kleinen Augen ablesen zu können. »Setzen Sie sich doch. Die hohen Damen und Herren haben also entschieden, den Fall Amoretti an Sie zu übertragen, dann soll es so sein.« Der Capitano lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Selbstverständlich unterstützen wir gern und nach Kräften unsere Kollegen von der Polizia di Stato. Ich würde mich freuen, wenn Sie das Hilfsangebot annehmen würden …« Er lächelte fein. »Allerdings waren Sie in Rom wohl eher als Einzelkämpfer bekannt, oder?«
Grassi ignorierte die Spitze. »Allora. Ist der Tunnel wieder abgesperrt?«
»Ja. Meine Männer haben ihn von der zweiten Galleria bis zum Spiaggia di Cani gesichert. So haben wir für die Leute immerhin den Strandzugang an der ersten Galleria gewährleistet. Das war dem Bürgermeister sehr wichtig.«
»Strand? Wichtig? Im März?«
Der Capitano zuckte mit den Schultern und legte mit großer Geste einen Stapel Papiere auf den Tisch: »Ich rekapituliere: Bei dem Opfer im Tunnel handelt es sich um Luisa Amoretti, fünfzig Jahre alt, hier geboren. Sie hat zusammen mit ihrem Mann Alberto ein Agriturismo in der Nähe von Montaretto betrieben. Es gibt noch einen siebzehnjährigen Sohn, Zeno.« Er deutete auf die Akten. »Das hier sind alle bisherigen Ermittlungsergebnisse zu dem Fall. Ich dachte, Sie als Polizist alter Schule mögen es vielleicht lieber analog.«
Grassi war aufgestanden und hatte sich mit fest verschränkten Armen an die Fensterbank gelehnt. Stronzo, dachte er. »Was soll das, Bruzzone. Sie haben Mist gebaut, deshalb muss ich den Fall übernehmen. Sie können jetzt einfach so weitermachen und mich bei jeder Gelegenheit provozieren, aber damit sind schon andere nicht gut bei mir gefahren. Oder wir können gemeinsam versuchen auszumisten. Was bevorzugen Sie?«
Bruzzone nahm seine Uniformmütze ab und ließ sie durch die Finger gleiten. Es arbeitete in ihm, aber schließlich gab er sich sichtbaren einen Ruck. »Dann will ich auch ganz offen sein. Ich mag Sie nicht besonders, Grassi. Ihre Schnüffeleien schon am ersten Tag, Ihre langen Haare, Ihr römisches Gehabe, Ihr albernes Auto, wie Sie mit Penza dicketun … Ich glaube nicht, dass Sie sich hier lange halten werden.« Er schob die Unterlippe vor. »Aber bis dahin bin ich bereit, unsere Differenzen hintanzustellen und meine Pflicht zu erfüllen.«
»Gut, dann wäre das ja vorläufig geklärt.«
Grassi schob einen Bürostuhl auf Bruzzones Seite des Schreibtisches, und der drehte den Monitor so, dass der Commissario darauf schauen konnte.
Auf dem Bildschirm war eine detaillierte Karte des Parco Nazionale delle Cinque Terre mit angrenzendem Küstenstreifen zu sehen, auf der das Tunnelsystem der ehemaligen Bahnstrecke gut zu erkennen war. »Hier haben wir die Leiche gefunden.« Bruzzone legte den Finger auf die Karte. »Im zweiten Tunnelabschnitt kurz hinter dem Spiaggia.«
Grassi deutete auf den längeren offenen Abschnitt nördlich des Fundorts. »Kommt man hierhin über irgendeinen anderen Weg als durch den Tunnel?«
»Nur, wenn man über Privatgelände geht und gut über Zäune und Felsen klettern kann.«
»Ich habe gesehen, dass es am Tunnel Kameras gibt.«
»Ja, am Eingang jedes Abschnitts. Im Prinzip jedenfalls. Bei der Überprüfung der Aufnahmen haben wir leider feststellen müssen, dass nur die Kameras an den Tunneleingängen in Bonassola und Levanto einigermaßen brauchbare Bilder liefern. Letztere ist zudem ziemlich verschmutzt.« Bruzzone zuckte mit den Achseln. »Kot.«
»Was?«
»Möwenscheiße.«
»Wer ist für die Wartung der Kameras zuständig?«
»Ein externer Dienstleister. Der kommt aber nur auf Anforderung, und wir können nicht ständig alle Kameras checken. Sie sind ja auch nicht für eine lückenlose Überwachung vorgesehen, sondern dienen der Sicherheit.«
Grassi hatte in seiner Polizeikarriere immer wieder frustriert feststellen müssen, dass Kameraaufnahmen in den allerwenigsten Fällen zur Verbrechensaufklärung beitragen konnten. In Zeiten, in denen bewegte Bilder von jedem Hafenarbeiterstreik in Südgeorgien innerhalb von Sekunden in HD -Qualität um die Welt gingen, waren die Aufnahmen von Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen ein Witz. Grottig schlecht in der Qualität, auch bei besten Lichtverhältnissen verpixelt bis zur Unkenntlichkeit und rechtlich umstritten. Bei einem nächtlichen Museumsraub in Rom Monate vor seinem Versetzungsantrag, bei dem Grassi die Ermittlungen leitete, hatten die Diebe an alles gedacht: Baupläne, Dienstpläne, Alarmanlagen. Nur die vielen Kameras auf dem Platz vor dem Museum schienen sie überhaupt nicht zu interessieren. Und als Grassi die Aufnahmen seinerzeit prüfte, begriff er auch, warum. Die Gestalten, die auf dem ruckelnden Filmchen zu sehen waren, hätten Astronauten oder Hobbits oder die Hollywood-Stars aus Ocean’s Eleven sein können. Oft genug hatte er sich im Clinch mit Datenschützern befunden, aber beim Thema CCTV gab er ihnen unumwunden recht. So, wie es war, sollte man die Kameras auf öffentlichen Straßen und Plätzen einfach abmontieren.
»Haben Sie Live-View der Levanto-Kamera?«
Bruzzone war schnell an der Tastatur. »Bitte sehr.«
Das Livebild zeigte leicht getrübt den Tunneleingang in Levanto in Schwarz-Weiß. Man sah allerdings nur einen Ausschnitt des Fahrrad- und Fußgängerweges. Die Kameraperspektive war nach links verschoben, ein Haus war zu sehen, der Hang dahinter, kein Strand und kein Meer.
»Hier müsste man den Blickwinkel mal wieder einstellen«, murmelte Bruzzone.
»Das scheint mir auch so. Hat denn Ihre Überprüfung der Aufnahmen irgendetwas Interessantes zutage gefördert?«
»Im fraglichen Zeitraum sieht man Luisa Amoretti um 21 :55 Uhr den Tunnel von Levanto aus betreten.«
»Andere Bewegungen im Tunnel um die Zeit?«
»Um 22 :05 fährt der Radfahrer von Bonassola aus in den Tunnel, der sie … der über sie gestürzt ist. Soweit wir das nachvollziehen können, waren in diesem Zeitfenster nur diese beiden Personen im Tunnel.«
»Und vor diesem Zeitraum?«
»Von Levanto einige Personen bis ungefähr halb neun, offenbar vor allem hier vom Strand herkommend.« Bruzzone deutete auf den schnurgeraden Abschnitt nach dem zweiten kurzen Tunnelstück. »Aber niemand mehr zwischen halb zehn und halb elf. Erst um kurz vor halb elf taucht der Radfahrer in Levanto wieder auf.«
»Betrunken und mit Erinnerungslücken.«
»Leider ja.«
»Liegt der Mann noch im Krankenhaus?«
»Ja, einer meiner Männer sitzt vor der Tür.«
»Den können Sie abziehen, der hat sicher Sinnvolleres zu tun, meinen Sie nicht?«
Bruzzone schob das Kinn vor und machte sich wortlos eine Notiz.
»Sie haben mit ihren Angehörigen gesprochen? Mit …«, Grassi suchte die Namen in den Unterlagen vor sich, »… Alberto Amoretti und seinem Sohn Zeno?«
»Nicht persönlich. Zwei Kollegen haben den Ehemann aufgesucht, der Sohn war nicht zu Hause.«
»Sie haben als leitender Ermittler dem Ehemann die Nachricht vom Tod seiner Frau nicht persönlich überbracht?«, fragte Grassi ungläubig.
Bruzzone wirkte erstmals kleinlaut. »Na ja, es war ja nur ein Unfall … dachte ich … und …« Er ließ die Hände sinken. »Ich bin nicht so gut darin. Zufrieden?«
»Die Fotos aus dem Tunnel sind alle hier drin?« Grassi klopfte auf den Stapel.
»Selbstverständlich.«
»Gibt es außer dem Radfahrer weitere Zeugen?«
»Eine amerikanische Touristin hat die Leiche gefunden. Eine Mrs Johnson. Sie und ihr Mann wohnen in einer Ferienwohnung hier im Ort. Ich habe sie gebeten, dort zu bleiben und sich zur Verfügung zu halten.«
»Haben Sie Mrs Johnson vernommen?«
»Die Kollegen. Das Protokoll ihrer Aussage ist in den Unterlagen. Sie hat an diesem Morgen niemanden in der Nähe der Leiche gesehen.«
»Tutto qui? Mehr haben Sie nicht?«
»Was erwarten Sie?«
Der Commissario sah den Capitano ungläubig an. »Haben Sie persönlich überhaupt irgendetwas gemacht?«, entfuhr es ihm.
»Piano, piano, ich habe immerhin den Radfahrer überführt.«
Grassi schnaubte. »Überführt ist gut. Non importa, ich werde mit den Zeugen sowieso noch einmal reden.«
»Wenn ich mir noch einen Rat erlauben darf: Sie sollten auch mit dem Bürgermeister sprechen, Commissario. Levanto ist das Tor zur Cinque Terre, und die Menschen kommen aus der ganzen Welt, um die einmalige Natur und Kultur zu erleben. Die Schlagzeilen haben Bürgermeister Mastino deshalb sehr beunruhigt. Er wird eine Erklärung für die neuerliche Aufregung verlangen.«
Grassi konnte es nicht leiden, bei seiner Arbeit von Lokalpolitikern beobachtet zu werden. Ihm ging es um Aufklärung, jenen meist um Marketing. Sollte sich die Quästorin um die Diplomatie bemühen, er war ohnehin nicht gut darin.
»Das haben Sie schön gesagt. Möchten Sie ihm die neuerliche Aufregung erklären? Ich glaube, Sie kennen ihn etwas besser als ich. Grazie.«
Auf der Straße blickte er auf sein stumm geschaltetes Handy und stellte fest, dass Ricci zweimal versucht hatte, ihn zu erreichen. Er drückte auf Rückruf.
»Ich bin es. Wie haben die deutschen Kollegen reagiert?«
»Die sind schockiert und unterstützen uns mit allen Mitteln. Die Ermittlungen leiten wir. Die Münchner checken in der Zwischenzeit vor allem Webers Geschäftspartner und Gläubiger. Er hatte offenbar auch italienische Lieferanten. Außerdem wollen sie medizinische Daten und – wenn aufzutreiben – Genmaterial des Toten schicken. Ich habe inzwischen den Durchsuchungsbefehl für Webers Haus.«
»Sehr gut. Da sehen wir uns heute Nachmittag um. Ich brauche in Levanto Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort Erkundigungen über Rudolf Weber einholen: Wer hat ihn wann gesehen, mit ihm gesprochen? Worüber? Wo ist er einkaufen gegangen, und wo hat er seinen Caffè getrunken? Und jemand soll Weber im Netz recherchieren. Als Modeunternehmer hat er sicher Spuren hinterlassen.«
»Falcone spricht Deutsch. Das kann sie übernehmen.«
Grassi versuchte sich zu erinnern, welche Kollegin ihm am Tag zuvor als Falcone vorgestellt worden war. »Falcone, ja, bitte helfen Sie mir.«
»Groß. Blond. Kurze Haare. Hatte noch einen Blumenstrauß von ihrem Geburtstag auf dem Schreibtisch stehen.«
»Richtig. Agente Falcone spricht Deutsch? Molto bene. Dann ist sie unsere Kontaktfrau zu den Deutschen. Die sollen uns alles liefern, was sie über Weber haben. Hatte er Familie? Angestellte? Besondere Hobbys? Schreiben Sie mit?«
»Muss ich nicht, kann ich mir merken.«
»Gute Kellner schreiben Bestellungen immer auf.« Das hätte er sich sparen können.
»Ich bin keine Wasserträgerin, falls Sie das meinen.«
»Mi dispiace, so war es nicht gemeint.«
»Wie wollen Sie beim Tunnelmord weiter verfahren?«
»Heute Vormittag befrage ich die amerikanische Touristin, die Luisa Amoretti gefunden hat. Danach schaue ich mich am Tatort um. Außerdem müssen wir beide mit den Angehörigen sprechen.«
»Ehemann und Sohn. Alberto und Zeno Amoretti.«
»Richtig. Aber eins nach dem anderen.« Er sah auf die Uhr. »Können wir uns um dreizehn Uhr an der Agip in Levanto treffen? Und bringen Sie Penza und sein Team mit. Wir nehmen uns Webers Haus vor.«
Das Ferienapartment der Johnsons lag in Strandnähe an der Corso Italia. Grassi fuhr das kurze Stück bis zum Parkplatz am Meer und spazierte die Promenade entlang. Die Szenerie hatte sich dramatisch geändert. Es war windig, und am Horizont türmten sich bedrohlich aussehende, ambossförmige Wolkengebilde. Gestern war das Meer noch spiegelglatt gewesen, doch jetzt schlugen beeindruckende meterhohe Brecher an den Strand, und das schien sich schnell herumgesprochen zu haben. Einzelne Surfer waren schon jetzt, um kurz vor neun, auf ihren Brettern und brachten sich paddelnd zwischen den Molen für die guten Wellen in Stellung. Nur ein paar Minuten lang gönnte der Commissario sich die Beobachtung dieses schwerelos aussehenden Spiels mit den Elementen. Doch schon in dieser kurzen Zeit hatte sich der Parkplatz mit weiteren Autos gefüllt, die allesamt Bretter auf dem Dach hatten und aus denen junge Menschen stiegen, um sich unter zeltartigen Tüchern in Neoprenanzüge zu zwängen.
Das Apartmentgebäude lag dem alten Casino schräg gegenüber. Grassi suchte die Klingel mit der entsprechenden Apartmentnummer, und als sich eine Stimme durch die Gegensprechanlage mit breitem »Pronto?« meldete, sagte Grassi mit korrektem Schulenglisch: »This is Commissario Grassi. Sorry to disturb you. I have a few questions for Mrs Jennifer Johnson.«
An einer Tür im zweiten Stock stand ein großer Mann und erwartete ihn mit verkrampftem Lächeln. Es sah eher so aus, als würde er die Zähne fletschen. Mr Johnsons muskulöser Körper steckte in einem T-Shirt, auf dem Boston Cancer Run 2018 Finisher zu lesen war. Er trug kurze Cargohosen und die Art absurder moderner bunt-zerklüfteter Turnschuhe, bei denen die Sohlen doppelt so breit aussahen wie der restliche Schuh. Grassi trug nie Turnschuhe oder Sneaker.
Mr Johnson streckte eine dicke sommersprossige Hand aus.
»How do you do, Mr Johnson, ich hoffe, Sie genießen Ihren Urlaub! Ich bin Commissario Grassi.«
»Buongiorno«, sagte Mr Johnson, und aus seinem Mund klang das wie banccharno. Kaum hatte der Mann die Tür hinter ihnen geschlossen, da quoll es auch schon aus ihm heraus: »OfcoursewecooperatecommissariobutwecantgetdraggedintoanythingthathasreallynothingtodowithusandmywifeisveryupsetespeciallyafterthewholebusinesswithAmandaKnoxwhichwasashameandwithallduerespectdidnthelpwhenitcomestotrustingitalianauthorities …«
Grassi musste sich konzentrieren. Sein Englisch war nicht schlecht, aber der Mann sprach viel zu schnell: »Wir kooperieren natürlich, Commissario, aber wir können uns in nichts reinziehen lassen, mit dem wir nun wirklich gar nichts zu tun haben. Meine Frau ist sehr erregt, vor allem nach dieser Amanda-Knox-Geschichte, die bei allem Respekt nicht gerade das Vertrauen in die italienische Justiz gestärkt hat …«
Erstaunlich, wie leicht manche Menschen die Grenzen des guten Benehmens überschritten, dachte Grassi. Aber er war nicht in der Stimmung, sich von einem Amerikaner über Rechtsstaatlichkeit belehren zu lassen. »Langsam, langsam, Mr Johnson. Jetzt haben Sie gesagt, was Sie sagen wollten, aber ich bin ehrlich gesagt nicht hier, um mit Ihnen zu sprechen. Sondern mit Ihrer Frau. So please.«
»Ich habe gute Anwälte«, sagte Mr Johnson, wenn Grassi ihn richtig verstanden hatte. Der Commissario musste sich nach dieser Provokation sehr anstrengen, nicht ausfallend zu werden.
»Ihre Frau hat einen Leichnam entdeckt und dankenswerterweise die örtliche Polizei informiert. Ich möchte sie als Zeugin um eine Aussage bitten. Sie wird nicht verhört und auch nicht verdächtigt …«
Grassis Englisch war entweder so schlecht oder sein Akzent so stark, dass Mr Johnson offenbar nur das letzte Wort »suspicion« verstanden hatte und sofort dazwischenfuchtelte.
»Sie verdächtigen meine Frau …?!«
»… nicht! Sie wird nicht verdächtigt. Not under suspicion, you understand? Only …« Grassi suchte nach der Vokabel. Nicht widow, das war was anderes … »Witness, only witness. Jetzt halten Sie Ihren …« – Mrs Johnson kam in diesem Moment ins Zimmer – »… now hold your horses, please!« Sagte man das so? Egal. Mr Johnson schien verstanden zu haben.
»Mrs Johnson, ich bin Commissario Grassi, ich hoffe, Sie verstehen mein Englisch, es ist nicht besonders gut.« Sie gaben sich die Hand.
»Besser als mein Italienisch«, erwiderte Jennifer Johnson freundlich und wirkte gleich viel sympathischer als ihr Mann, dem sie einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Sie war eine gut trainierte Mittvierzigerin, trug lila Laufkleidung von Kopf bis Fuß und hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. In der Hand hielt sie eine Kamera mit Teleobjektiv. »Wollen wir uns auf den Balkon setzen? Wir wollen ja bald wieder abreisen, und ich würde gern jede Minute mit diesem Blick auskosten. Haben Sie die Brandung gesehen? Ich fotografiere die Surfer. Sehen sie nicht fantastisch aus?« Eine nette Frau, dachte Grassi, auch wenn sie die Angewohnheit vieler Amerikaner hatte, auch noch in den banalsten Satz eine Spur zu viel Emotion hineinzulegen. Sie sah ihren Mann an. »Und warum gehst du nicht solange unten in der Bar an der Ecke einen Kaffee trinken, Matt? Ich rufe dich an, wenn wir hier fertig sind, okay?«
Matt Johnson blieb einen Moment unschlüssig stehen, dann sagte er »Alright, darling« und verschwand.
Mrs Johnson hatte nicht übertrieben. Der Blick vom Balkon aus über den Strand und die Bucht war spektakulär. Die schräg von Osten durch das Tal einfallenden Sonnenstrahlen ließen die Gischt der sich brechenden Wellen wie riesige zarte Vorhänge gegen den Horizont des Meeres erstrahlen.
Sie brachte ihm ein Glas Wasser.
»Ich kenne die Aussage, die Sie bei der Polizei gemacht haben«, begann Grassi. »Trotzdem möchte ich Sie bitten, sich noch einmal so an diesen Morgen zu erinnern, als wäre ich der erste Mensch, dem Sie davon erzählen, okay?«
Jennifer Johnson nickte. »Ich versuche es.«
»Gut. Dann fangen Sie bitte an. Ich möchte das gerne aufnehmen.« Er legte sein Handy auf das Tischchen zwischen sie.
Jennifer Johnson erzählte, dass sie jeden Morgen sehr früh joggen gehe, weil die Luft dann am besten sei. Sie hatte am Montagmorgen vorgehabt, zunächst die Promenade nach Süden zu den Villen zu wählen, dann kehrtzumachen und durch die Tunnel bis zum Hundestrand zu laufen, bevor sie wieder umdrehte und noch einen Schlenker durch Levanto machte. »Zu Hause in Boston laufe ich viel länger, aber wenn man die Gegend nicht so gut kennt …«
»Wann sind Sie losgelaufen?«
»Viertel vor sechs war ich aus dem Haus.«
»Und wie viel Zeit ist von da vergangen, bis Sie die Leiche entdeckt haben?«
»Ich habe erst noch ein paar Minuten Stretching gemacht. Zu den Villen und zurück zum Tunnel werden so zwei Kilometer sein, und von da aus noch mal ein paar Hundert Meter. Ich würde sagen, ungefähr um Viertel nach sechs war ich an der Stelle. Ich habe den Körper ja schon von Weitem gesehen und dachte erst, das sei ein Obdachloser, der sich schlafen gelegt hat. Man rechnet ja nicht damit …«, sie stockte bei der Erinnerung, »… also einen toten Menschen zu finden.«
»Haben Sie die Leiche angefasst?«
Ms Johnson nickte nervös und rieb sich mit beiden Händen über die Oberschenkel. Sie nickte schuldbewusst. »Ich wollte nur helfen. I’m sorry.«
»Das war nicht sehr klug. Und Sie hätten es in Ihrer ersten Vernehmung sagen sollen. Wenn Sie Ihre Aussage korrigieren wollen – jetzt ist die Gelegenheit.«
»Sie lag auf dem Rücken, ganz friedlich mit gefalteten Händen. Also bin ich näher ran und habe ›Hallo‹ oder so was gerufen. Ein- oder zweimal.« Mrs Johnson wich Grassis Blick aus und schaute auf die Tischplatte. »Und als sie nicht reagiert hat, habe ich sie auf den Bauch gedreht, damit sie besser atmen kann.« Sie hob hilflos die Hände. »Es war ein Impuls. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen. Ich weiß, das war dumm von mir.«
Grassi verzog das Gesicht beim Versuch, seinen Ärger zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht ganz, und ihm rutschte ein »Allerdings, Madonna!« heraus. Immerhin hatte er durch diese Dummheit eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Die Hände der toten Luisa Amoretti waren – anders als Penza zunächst vermutet hatte – erst nach dem Zusammenprall mit dem Radfahrer von jemandem gefaltet worden.
»Haben Sie auf der Strecke jemanden beobachtet? Haben Sie zum Beispiel jemanden in Levanto aus dem Tunnel kommen sehen? Oder ist Ihnen im Tunnel jemand entgegengekommen. Oder weggelaufen?«
»Nein, nein, im Tunnel war niemand. Das habe ich auch so ausgesagt.«
»Ist Ihnen irgendetwas anderes aufgefallen oder seltsam vorgekommen? Das können Kleinigkeiten sein. Ein Auto im Parkverbot? Stimmen aus einem Fenster? Oder ein verlorenes Kleidungsstück?«
»Hm. Lassen Sie mich überlegen.« Sie schaute für einige Sekunden konzentriert auf das Meer und befühlte mit dem Zeigefinger das Grübchen an ihrem Kinn. »Eine Sache vielleicht, die ich bisher nicht erwähnt habe, weil sie mir unwichtig erschienen ist. Ich weiß nicht, ob …«
»Alles kann wichtig sein. Machen Sie nicht denselben Fehler zweimal.«
»Nein, nein. Ich will ja helfen! Also, kurz bevor ich in den Tunnel gelaufen bin, lag da ein Backpack an der Mauer am Straßenrand.«
»Sie meinen einen Rucksack. Okay. Und?«
»Wenn man so viel reist wie wir, wird man ein bisschen sensibilisiert für herrenlose Gepäckstücke, wenn Sie wissen, was ich meine. Man fragt sich sofort: Wem gehört der wohl? Dieser Gedanke ist mir beim Joggen auch durch den Kopf geschossen.«
»Aber Sie haben ja schon gesagt, dass Sie niemanden gesehen haben, richtig?«
»Genau.«
»Jemand hatte also einen Rucksack liegen lassen. Das erscheint mir an sich noch nichts Ungewöhnliches. Das kann passieren.« Grassi legte den Kopf schief.
»Das war kein Rucksack, den man irgendwo einfach liegen lässt, sondern so ein Backpacker-Rucksack. Groß und schwer. So ein Ding, mit dem man um die Welt reisen kann.«
Grassi zog die Augenbrauen hoch. Er verstand immer noch nicht, worauf sie hinauswollte. »Und was genau kam Ihnen daran merkwürdig vor?«
»An dem Rucksack selbst kam mir nichts merkwürdig vor, sondern dass er kurz danach weg war.«
Der Commissario beugte sich vor. »Wie, weg?«
Mrs Johnson sammelte sich und senkte die Stimme. »Also, beim Reinlaufen in den Tunnel ist mir dieser Rucksack aufgefallen. Er lag am Mäuerchen auf der Meerseite kurz vor dem Tunneleingang. Kurz darauf habe ich im Tunnel die Tote entdeckt und bin zurückgerannt. Ich bin also höchstens ein paar Minuten später wieder an der Stelle vorbeigekommen, wo zuvor der Rucksack gelegen hatte. Aber er war nicht mehr da.«
»Nun, Mrs Johnson, Sie hatten in diesen wenigen Minuten eine ziemlich schreckliche Entdeckung gemacht. Ist es möglich, dass Sie den Rucksack auf dem Rückweg vor Aufregung einfach übersehen haben?«
Sie schüttelte energisch ihren blonden Pferdeschwanz. »Nein, Commissario, ich achte auf Details. Und ich bin nicht besonders schreckhaft. Ich habe zwei Touren mit der Army in Afghanistan hinter mir. Die Frau im Tunnel war nicht die erste Tote, die ich in meinem Leben gesehen habe. Glauben Sie mir, dieser Rucksack war erst da, und dann war er weg. Ob das irgendetwas zu bedeuten hat, müssen Sie sagen.«
Ja, dachte Grassi wenige Minuten später, nachdem er sich von Mrs Johnson verabschiedet hatte. Der rätselhafte Rucksack hatte etwas zu bedeuten. Sogar etwas sehr Wesentliches. Er bedeutete, dass noch jemand ganz in der Nähe der Leiche und des Tatorts gewesen war. Jemand, der sich früh am Morgen lieber vor einer herannahenden Joggerin versteckte, als sich blicken zu lassen. Vielleicht ein weiterer Zeuge, der sich bisher nicht gemeldet hatte, weil er nicht in einen Mordfall verwickelt werden wollte. Vielleicht aber auch der Mörder, der Luisa nach seiner Tat die Hände gefaltet hatte.