Wahrheiten

S ie standen am Fenster in ihrem Büro, jeder mit einer Tasse Caffè in der Hand.

»Was meinen Sie, Ricci, hätte Luisa Amoretti wirklich ihre Familie für einen Mann verlassen, mit dem sie vor fast zwanzig Jahren mal eine Affäre hatte?«

»Mit dem zusammen sie immerhin einen Sohn hatte.«

»Was Luisa die ganze Zeit gewusst haben musste.«

»Es gibt Gewissheiten, die einen erst anspringen, wenn jemand sie laut ausspricht. Und einmal ausgesprochen, gehen sie nicht wieder weg.«

»Kann man nicht versuchen, damit zu leben?«

»Es wird zumindest schwieriger, je mehr Zeit vergangen ist.«

Ricci ging vom Fenster an ihren Schreibtisch, öffnete die Fallakte und blätterte bis zu dem Bild, das die fröhliche Familie in München zeigte. Nach einer Weile sagte sie: »Wissen Sie, was ich glaube, Grassi? Ich glaube, wenn Weber in dieser Nacht wirklich Luisa im Tunnel getroffen hätte, hätte sie ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren.«

»Was macht Sie so sicher?«

»Weil dieser Rudolf Weber am Ende war. Seine Firma pleite und er selbst ein Verfahren am Hals. Auch im Privatleben gescheitert. Der konnte doch sein Glück kaum fassen, als er Luisa im Bierzelt getroffen hat. Die kleine Italienerin, mit der er mal Spaß hatte. Und wen hat sie denn da bei sich? Hat der junge Mann nicht irgendwie meine Nase? Wie alt bist du denn, Zeno? Und zack: Da ist das neue Leben, der sichere Hafen, in das sich das Wrack retten konnte.«

»Sie hat aber erst mitgespielt.«

»Weil sie sich wirklich gefreut hat, ihn wiederzusehen. Ganz ohne Hintergedanken. Ist das für Männer so schwer, sich das vorzustellen? Und dann haben natürlich schnell der Zweifel und das schlechte Gewissen wegen Zeno an ihr genagt. Nein, ich bin sicher, sie hätte sich für Rudolf nicht von Alberto getrennt.« Sie schlug die Akte zu. »Schon komisch. Wenn es um Männer geht, ertragen wir Frauen die Machos und die ewigen Kinder, die Angsthasen, die Wichtigtuer und die unberechenbaren Stänkerer.« Sie sah ihn schräg an.

»Ich bin nicht …«

»Aber die verzweifelten Verlierer, die ertragen wir einfach nicht.«

Es klopfte an Riccis Bürotür, und Toni trat ein. Sie hatte bei Falcone ihre Aussage zum Leichenfund richtiggestellt und ihre Version der Ereignisse am Bracco zu Protokoll gegeben. »Ich bin fertig und fahre jetzt nach Hause. Kommst du mit, Vito?«

Grassi sah auf die Uhr, aber Ricci kam seiner Antwort zuvor: »Gehen Sie ruhig. Ich bin auch keine Freundin von Papierkram, aber wenn ich keine Lust mehr habe, lasse ich Ihnen für morgen noch was übrig.«

 

Grassi ließ den Seat in der Questura. Er wollte sich daran gewöhnen, an Bürotagen den Regionalzug nach La Spezia zu nehmen.

Als sie in Riomaggiore aus dem langen Tunnel kamen und das erste Mal auf der Fahrt den Blick auf das Meer und die Küste genießen konnten, schloss Grassi die Augen und ließ die Sonnenstrahlen lebendige goldene Muster auf das Innere seiner Lider malen.

»Wie ist die Küste bei Rom?«

»Flach. Verbaut. Kein Vergleich.«

»Noch ein Grund für dich, zu bleiben.«

Der Zug hielt im Bahnhof. Grassi dachte über ihren Satz nach. Er wollte gerade etwas sagen, da spürte er sein Handy in der Hosentasche brummen, nahm es heraus und erkannte Feltrinellis Nummer. Seit ihrer Drohung, ihn nach Rom zurückzuschicken, hatten sie keinen persönlichen Kontakt mehr gehabt. Grassis Puls beschleunigte sich. »Momento, da muss ich ran.«

»Commissario«, sagte Feltrinelli ohne Umschweife, »ich rufe Sie an wegen der DNA -Probe, die Sie widerrechtlich bei den Amorettis von der Klobrille gewischt haben.«

Grassis schluckte. Er hatte so was schon befürchtet, versuchte aber, cool zu bleiben. »Das trifft sich gut. Ich denke gerade laut darüber nach, ob Ligurien wirklich das Richtige für mich ist. Wenn Sie mir die Entscheidung jetzt abnehmen, sage ich ›Wildschwein‹ und fahre nach Rom zurück.«

Toni warf Vito einen alarmierten Blick zu.

»Auf das Angebot komme ich vielleicht später noch einmal zurück, aber im Moment wollte ich Ihnen etwas anderes sagen. Ich habe Dottore Penza am Wochenende gebeten, eine weitere Analyse vorzunehmen. Er war nicht besonders erfreut und hat Sie für die Sonntagsarbeit verantwortlich gemacht. Ich soll Ihnen übrigens von ihm ausrichten, dass er zurzeit besonders gern ›Mack the Knife‹ pfeift. Was immer das auch heißen mag. Jedenfalls hat der Dottore bei genauerer Untersuchung festgestellt, dass das Material die DNA von zwei Individuen enthält. Zwei Individuen, die eindeutig miteinander verwandt sind.«

Grassi lachte auf. »Rudolf Weber war gar nicht Zenos Vater?«

»Nein.«

»Weiß Zeno es schon?«

»Ich finde, das sollten Sie ihm sagen.«

»Was glauben Sie, wie er es aufnimmt?«

»Wenn sich herausstellt, dass sein Leben doch keine einzige Lüge war? Dass sein richtiger Vater noch lebt und er nicht allein ist auf der Welt? Vielleicht wird es ihm helfen, mit allem fertigzuwerden.«

»Danke, Questore.«

»Wir sehen uns morgen im Büro.«

»Gute Nachrichten?«, fragte Toni.

»Eher tragisch.«

»Was wird mit dem Jungen passieren?«

»Zeno ist noch keine achtzehn, für ihn gilt das Jugendstrafrecht. Und dann kommt es ganz darauf an, wie der Richter den Fall bewertet. Totschlag im Affekt? Fahrlässige Tötung? Körperverletzung mit Todesfolge? Alles ist möglich, und es gibt nur Zenos Aussage. Und wenn man bedenkt, dass der Junge eigentlich schon gestraft genug ist …«

»Was ist mit Francesco?«

»Der darf nach Hause, aber ab sofort nur noch mit Wasserpistolen spielen.«

Der Zug setzte sich in Bewegung, sie wurden vom nächsten Tunnel verschluckt und kaum eine Minute später in Manarola schon wieder ausgespuckt. Touristen tauschten die Plätze. Ein junges Pärchen mit großen Rucksäcken ließ sich geschafft in die Sitze gegenüber fallen. Um diese Jahreszeit musste noch niemand stehen.

»Direkt über uns ist jetzt Volastra«, sagte Toni in die Dunkelheit des nächsten Tunnels hinein. »Das ist hier die älteste und beste Weinlage.« Sie sah Grassi für einen Augenblick nachdenklich an, dann sprang sie plötzlich auf. »Komm mit, wir steigen hier aus.«

»Warum?« Er verdrehte die Augen, folgte ihr aber. Als er auf den Bahnsteig von Corniglia trat, war sie schon an der Treppe zur Straße. Er sah sich um. Der Bahnhof schien zwischen Wasser und Bergen im Nirgendwo zu stehen. »Warte, Toni, wo willst du hin?«

Es ging bergauf. Erst erträglich, doch am Ende der Straße begann eine nicht enden wollende Treppe aus unebenen roten Ziegelsteinen, die sich steil den Hang hochwand. Grassi ließ Toni ziehen, sie würde schon warten. Immer wieder blieb er stehen, ließ sich von anderen überholen und tat so, als sauge er das Panorama in sich auf, das mit jeder Windung der Treppe großartiger wurde. In Wirklichkeit musste er sich ausruhen. Er schwitzte, obwohl die Lufttemperatur angenehm war. Grassi hasste es zu schwitzen.

Am Ende der Treppe wartete Toni. Aber nur so lange, bis sie Blickkontakt aufgenommen hatten, und schon setzte sie sich wieder in Bewegung. Er sah sie über die schmale Straße dem Ort zustreben und an einem kleinen Platz links zwischen den Häusern verschwinden. Am Ende der engen Gasse stand sie unter einer Platane auf einer kleinen Piazza umgeben von bunten hohen Häusern und einer alten Kirche.

»Und was machen wir hier?«

»Ich habe mich entschlossen, deine Neugierde zu stillen. Aber bilde dir ja keine Schwachheiten ein, verstanden?«

Sie mussten noch eine steile Treppe hinabsteigen und einer schattigen Gasse folgen, bis Toni vor einem Haus stehen blieb, ihn auf ihre typische strenge Weise ansah und die Tür öffnete.

»Santo cielo, che ci fai qui Toni? Es ist doch gar nicht Donnerstag! Ist etwas passiert?« Aus dem Schatten des langen kühlen Ganges trat eine alte Frau. Krumme Beine lugten unter ihrer grünen Kittelschürze hervor. Sie war so klein und gebeugt, dass sie den Kopf zur Seite drehen musste, um Grassi durch die dicken, großen Gläser ihrer unmodischen Brille mit ebenso grauen frechen Augen anschauen zu können. Ihre langen grauen Haare waren zu einem losen Zopf gebunden.

»Das ist Emilios Sohn, Mamma. Du erinnerst dich doch an Emilio.«

»Emilio, ja.« Sie lächelte Vito an und nahm fest seine Hände in ihre. Sie fühlten sich trocken, glatt und weich an.

»Vito ist Commissario.«

Sie ließ ihn los. »Ein Polizist? Wollen Sie meine Tochter endlich verhaften?«

Vito hob abwehrend beide Hände. »Oh, keine Angst, Signora, ich käme nicht im Traum darauf!«

 

Fine