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Jonathan

In meinem ledernen Schreibtischsessel rolle ich zur verglasten Wand meines Büros im Hochhauskomplex an der 100 King Street West. Mit dem Rücken zur Tür tippe ich »meine« Antwort in den Chat:

Bitte entschuldige die langen Pausen (mein Assistent ist unfähig, muss ihm ständig alles von vorne erklären) Fest oder nicht so fest? ;)

Wie es wohl wäre, wirklich einen Assistenten zu haben? Bei der Vorstellung wird mir einfach nur warm ums Herz. Fast kommen mir die Tränen vor Glück. Fast vergesse ich, dass mir mein Chef mal wieder einen Stapel undefinierbarer Vertrags-Korrekturen vom Mandantentreffen zurückgebracht und auf den Schreibtisch gepfeffert hat. Und dass ich der Assistent bin. Na ja, genaugenommen bin ich Anwalt, Junior-Anwalt. Derjenige, der meinem Chef nicht nur ständig »asap« etwas zuarbeitet, sondern darüber hinaus auch noch seine Tinder-Chats in die Hand nimmt. Weil der Penner keine Zeit zum Chatten hat. Weil der Penner Partner ist und über eine halbe Millionen im Jahr verdient. In den sieben Monaten, in denen ich schon hier bin, habe ich wahrscheinlich mehr Frauenprofile für ihn gesichtet als Gesetzesunterlagen. Und ich dachte, die Berufsbezeichnung »Anwalt« sei geschützt.

Ich lache amüsiert auf, als ich Annes neue Nachricht lese:

Wie hast du’s denn gerne?

Du beflügelst meine Phantasie, schreibe ich und grinse.

Ach ja?

Ja.

Während Anne zu einer Nachricht ansetzt, klicke ich mich zum wiederholten Mal durch ihre Profilfotos: Das Ganzkörperfoto, auf dem sie in schmutzigen Gummistiefeln und engen Jeans vor einem See steht, gefällt mir besonders. Da lächelt sie süß, ihre kinnlangen haselnussbraunen Haare sind etwas zerzaust, und außerdem sieht man den Abdruck ihres BHs durch ihr weißes T-Shirt ziemlich deutlich.

Lange Rede, kurzer Sinn: Lust auf ein Treffen?

Klar, gerne, schreibe ich, während ich mich über ihre plötzlich so forsche Art wundere – wer hätte gedacht, dass die anfangs so zurückhaltende Anne doch noch reagieren würde? Montagabend um 20 Uhr im Michael’s on Simcoe?

Bingo. Kaum habe ich die Nachricht abgeschickt, wechsele ich in den Chat mit Cassy.

Cassy, Cassy …

Na, du?

Das war mal wieder eine Nacht!

Hättest ruhig noch mit zu mir kommen können ;)

Oh. Wusste gar nicht, dass der Chef nicht noch mit zu ihr gegangen ist. Das heißt jetzt wahrscheinlich für mich, dass ich mich auf schlechte Stimmung einstellen muss – wenn der Chef (guten) Sex hat, ist er wesentlich besser drauf, oder zumindest halbwegs gut. Bei einem Choleriker wie ihm macht das einen essenziellen Unterschied, ob er gut gelaunt ist oder nicht.

Nächstes Mal, Sweetheart.

Wie sieht’s denn bei dir am Wochenende aus?

Ein kurzer Blick in den Kalender meines Chefs verrät mir, dass er das morgige Mandantentreffen in New York mit einem dortigen Wochenendaufenthalt verbunden hat. Das erkenne ich daran, dass das gesamte Wochenende geblockt, der Termin aber als »privat« gekennzeichnet und daher für mich nicht einsehbar ist. Das kann nur eines heißen: Ein Wochenende mit seinem Sohn. Mein Chef ist geschieden, und ab und zu jettet er nach New York, um seinen kleinen Sohn zu sehen (ein pummeliger smartphoneabhängiger Siebenjähriger, der alle acht Wochen freitags mit uns beim Japaner luncht).

Da bin ich bei meinem Sohn. Frauen über fünfunddreißig mögen Männer, die Verantwortung jenseits des Berufs übernehmen. Laut Profil ist Cassy einundvierzig. Kinder … du verstehst. Aber wie wäre es mit – ich klicke im Kalender auf »Montag« und sehe, dass der Lunch-Slot noch frei ist – Montag, Lunch?

Du hast einen Sohn? Das wusste ich ja gar nicht.

Einen Sohn aus erster Ehe. Aber geschieden.

Aha.

Es gibt so vieles, was du noch nicht über mich weißt, Cassy …

Ach ja? :) :) :)

Ich bin ein Mann mit vielen Facetten.

Und vor allem gutem Geschmack. Das Abendessen gestern war wirklich vorzüglich. Danke noch mal für die Einladung. Lunch am Montag passt mir gut. Im Spring Sushi, 13 Uhr?

13 Uhr im Matisse.

Matisse? Ja, das geht auch.

Geht auf mich.

Manchmal macht es Spaß, das dominante Alphamännchen-Gehabe, das mein Chef ständig an den Tag legt, zu mimen. Im Bett mit ihm könnte die Frau sonst schlecht überrascht werden, könnte ich mir vorstellen – beziehungsweise will ich mir eigentlich lieber nicht vorstellen. Mein Chef isst außerdem immer und ausschließlich im Matisse zu Mittag. Er ist dort Stammkunde und wird behandelt wie ein König. Wahrscheinlich genießt er den Ruf eines Womanizers: Bei den vielen Frauen, mit denen er da (dank mir) aufkreuzt, kommen die Kellner sicherlich nicht mehr mit. Nur freitags geht er zum Japaner. Er ist ein Mann, der die Routine liebt. Und vor allem teures Essen. Je teurer, habe ich die Erfahrung gemacht, desto besser. Bei zu niedrigen Preisen wird er misstrauisch und bildet sich ein, das Essen sei nicht gut genug.

Wenige Minuten, nachdem ich den Lunch-Termin mit Cassy in den Kalender geschrieben habe, höre ich die dröhnende Stimme meines Chefs hinter mir.

»Watson.«

Ich drehe mich um und sehe Hunter im Türrahmen stehen. Die eine Hand liegt locker in seiner maßgeschneiderten Anzughose, in der anderen wendet er einen Golfball.

Ich versuche mir möglichst nicht anmerken zu lassen, dass ich mich immer noch nicht mit Hunters Angewohnheit, seine Untergebenen beim Nachnamen anzusprechen, angefreundet habe. »Wie liefen die Gespräche?«, frage ich.

Als hätte er meine Frage nicht gehört, stellt er mir prompt eine Gegenfrage:

»Mit dem Zugriff auf meinen Kalender kommen Sie zurecht?«

»Ja, doch, klar«, sage ich und frage mich, worauf er hinauswill. »Wieso?«

»Ich sehe keinen Termin für Montag.«

»Doch, eigentlich … eigentlich müsste da ein Lunch mit dieser Cassy stehen. Den habe ich doch gerade eben …« Ich vergrößere Hunters Kalender auf meinem Computerbildschirm und will auf »Montag« klicken, als er mir dazwischenfährt:

»Den habe ich soeben gelöscht. Wissen Sie, ich mag keine Frauen mit …« Sein Gesicht verzieht sich leicht, und mit dem Zeigefinger seiner freien Hand gestikuliert er an seiner Wange herum. »Leberflecken. Merken Sie sich das.«

»Alles klar. Ist notiert.« Ich mache mir tatsächlich eine Notiz in meiner extra dafür angelegten Excel-Liste. Bei all den Dos and Don’ts meines Chefs verliere ich sonst den Überblick. »L-e-b-e-r-f-l-e-c-k-e-n.« Dann rolle ich zurück an meinen Schreibtisch und lösche den Termin mit Cassy. Cassys Glück, denke ich im Stillen und sage laut: »Gelöscht.«

»Prima. Finden Sie einen Ersatz, und zwar asap. Sonst sind Sie es am Ende noch, der mir Montagmittag Gesellschaft leisten muss, und das will wahrscheinlich keiner von uns beiden.« Er lacht auf. »Sagen Sie mal, sind Sie mit den Korrekturen schon durch?«

Wäre ich längst, wenn ich nicht an Ihrer statt tindern müsste, denke ich. »Ja, fast.«

»Watson! Was heißt denn hier ›fast‹? Der Telefontermin ist Montag um neun Uhr dreißig«, sagt er mit Blick auf seine Rolex.

»Ich beeile mich.«

»Enttäuschen Sie mich nicht.« Hunter lässt den Golfball in seine Hosentasche gleiten und zögert noch, bevor er das Büro verlässt. »Ach, noch eins, Watson.«

»Ja?«

»Der Mandant hat für das nächste Treffen um mehr Pünktlichkeit gebeten.«

»Pünktlichkeit?«

»Der Flug war verspätet. Und als ich ankam, blieben nur noch zwei Stunden für das Meeting. Jetzt muss ich morgen wieder hinfliegen.«

»Ich hatte ihre E-Mail sofort an Sally weitergeleitet. Sally sagte, es gab keinen anderen Flug, auf den sie Sie hätte umbuchen können. Das war der letztmögliche Flieger nach Boston, sorry.«

»Jetzt hören Sie mir mal zu: Erstens war das nicht der letztmögliche Flieger. Zweitens interessiert es mich nicht, was Sally meint. Wenn ich eine E-Mail an Sie schicke, erwarte ich, dass Sie es sind, der sich darum kümmert. Haben Sie mich verstanden?«

Was soll man auf so etwas antworten? Die Wahrheit ist: Ich habe die Reisegesellschaft angerufen, die mich wiederum an den Reise-Service verwiesen, der mich wiederum in der Warteschleife hat ausharren lassen. Und dann habe ich an Sally übergeben. Sally ist schließlich die Rechtsanwaltsgehilfin, ich der Anwalt. Hunter scheint das immer noch nicht durchleuchtet zu haben.

»Watson, ich rede mit Ihnen!«

Und wieso nennt mich der Kerl immer beim Nachnamen? Ich komme mir vor wie in einer Haftanstalt.

»Ist notiert«, sage ich.

»Was?«

»Ist notiert«, wiederhole ich, diesmal etwas lauter.

»Nicht notieren, Watson. Verstehen!«

»Verstanden, Hunter.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr auf meinem Computer: Nur noch einundzwanzig Minuten bis zur Lunchbreak. Und mal wieder Zeit, Hunter den Riegel vorzuschieben. »Lassen Sie mich jetzt weiterarbeiten, oder muss ich Sie aus meinem Büro schmeißen? Die Verträge korrigieren sich schließlich nicht von selbst.«

Für einen Moment scheint Hunter zu überlegen, ob er ausflippen oder einlenken soll – bei Typen wie ihm ist das meiner Erfahrung nach keine Frage der Nettigkeit, sondern entscheidet sich schlicht danach, wie sie am effektivsten an ihr Ziel zu kommen gedenken.

»Na, gut«, sagt er schließlich. »Dann machen Sie mal Ihre Arbeit. Und wenn Sie mich bei der nächsten Flugverspätung nicht hängen lassen, nehme ich Sie das nächste Mal auch mit nach Boston. Und falls Sie sich jetzt fragen, was das eine mit dem anderen zu tun hat: Fragen Sie sich mal, Watson, wie Sie milliardenschwere Konzerne verklagen wollen, wenn Sie es nicht mal durch die Warteschleife einer Reisegesellschaft schaffen.«

»Doppio?«

»Ja. Und die Rechnung, bitte.«

Ich sitze beim Italiener gleich um die Ecke vom Büro und hätte große Lust, mich auf eine Bank zu legen und einzuschlafen. Gestern war ich bis zwei Uhr morgens im Büro, heute Morgen um neun wieder am Schreibtisch.

Das Date mit Cassy habe ich abgesagt, daraufhin hat sie das Match aufgehoben. Ich habe schon weitaus schlimmere Reaktionen auf Hunters plötzliche Absagen erlebt und empfinde Cassy gegenüber deshalb eine seltsame Dankbarkeit. Ersatz für Hunters Lunch-Date am Montag habe ich keinen gefunden, eine ausgewiesene Fitness-Trainerin im Radius von weniger als einer Meile hat sich leider erst für nächste Woche bereit erklärt, aber immerhin ging das schnell. Wer würde sich schon nicht gerne ins Matisse einladen lassen? Ich glaube, selbst ich würde mich für ein paar kostenlose Austern und ein gratis Schlückchen Beaujolais zu einem Date mit meinem Chef kompromittieren. Hehe.

Hey, warte mal.

Anne ist wieder online. Jetzt erst sehe ich, dass sie »unser« Date noch gar nicht bestätigt hat.

Hey. Ist alles gut?, schreibe ich. Passt Montagabend nicht?

Marco, der Kellner, serviert den Espresso und legt die Rechnung hin.

»Amore?«, sagt er und zwinkert.

»Ja, genau«, sage ich. »Amore …« Ich wünschte.

Na ja …, schreibt Anne. Kann ich das am Wochenende bestätigen? Ich habe Dienstag einen Termin und weiß noch nicht, ob ich Montag rechtzeitig mit den Vorbereitungen fertig werde. Ich werde die nächsten Tage versuchen, ordentlich voranzukommen.

Klar, schreibe ich und frage mich, ob sie Hunter möglicherweise zugunsten eines anderen Dates abblitzen lässt. Es geschähe im jedenfalls recht. Kein Ding. Dann hoffe ich mal, dass du rechtzeitig fertig wirst. Ich würde Montagabend ungerne auf dich verzichten.

Das sagst du jetzt so. Dabei weißt du ja gar nicht, was dich erwartet!

Was erwartet mich denn?

Gute Frage!!!

Und?

Lass mich überlegen …

Während Anne überlegt, zahle ich die Rechnung, trinke meinen Espresso doppio und zerkaue einen Amarettino. Ich weiß ja eigentlich ganz genau, was mich erwartet: Ein weiterer Abend am Büroschreibtisch, während Hunter in den Genuss eines Dates kommt, das er meinem Charme zu verdanken hat.

Ich wollte dir eigentlich gerade ein Foto schicken, aber dafür ist es noch zu früh ;)

Ein Foto? Was für ein Foto?, schreibe ich. Jetzt wäre es eigentlich mal an der Zeit, etwas zu ihrem Intro-Text zu sagen. Etwas Persönliches. Ich klicke mich zu ihrem Profil:

Anne H., 28, 6 Meilen entfernt.

Letzter …

Film, den ich gesehen habe: Wild

Buch, das ich gelesen habe: Wandern in Kolumbien

Schokoriegel, den ich gegessen habe: Trader Joe’s Dunkel

Cocktail, den ich getrunken habe: Gimlet

Land, das ich bereits habe: Kolumbien

Typ, den ich nach rechts gewischt habe: Wird sich wohl noch herausstellen

Gimlet. Kein schlechter Cocktail.

Na ja, ein Foto halt ;), schreibt Anne. Überlasse ich deiner Phantasie.

Mhm. Ist das Foto von dir vor der Tallandschaft aus deiner Kolumbienreise?

Ja.

Ist das das Cocora-Tal?

OMG, ja! Warst du dort selbst mal wandern?

Ja, ich war selbst auch schon dort. Aber das kann ich von Hunter wahrscheinlich nicht behaupten. Es sei denn, im Cocora-Tal gibt es irgendwo ein legendäres Fünf-Sterne-Hotel mit Spa-Bereich und Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.

Nein, kann aber gut sein, dass ich in meinem Helikopter mal drübergeflogen bin.

Lol.

Phantastische Aussicht, soweit ich das richtig in Erinnerung habe.

Angeber.

Ich grinse. Wo sie recht hat, hat sie recht.

»Jonathan, du bist ja immer noch hier. Möchtest du nicht auch langsam mal los?«

Sally lugt in mein Büro. In den Händen hält sie eine Zimmerpflanze – die nimmt sie übers Wochenende stets mit nach Hause, weil sie behauptet, sie würde sonst wegen der Büroluft austrocknen. Eine Weile steht sie da, bis das automatische Flurlicht ausgeht und nur noch meine Bürolampe brennt. Wenn Sally geht, werde ich der Letzte im Büro sein, und so, wie es aussieht, werde ich auch morgen wieder herkommen müssen. Ich versuche es eigentlich zu vermeiden, samstags zu arbeiten, aber das versuche ich schon seit einem guten halben Jahr.

»Ich bin heute nicht so gut durchgekommen und muss das hier« – ich nicke in Richtung des erst halb durchgearbeiteten Vertragsstapels, der neben meiner Tastatur auf dem Schreibtisch liegt – »bis Montag fertig haben.«

»Mach nicht zu lang, ja?«

Sally hat etwas Beruhigendes an sich. Selbst Hunter wird in ihrer Anwesenheit ein besserer, na ja, zumindest weniger aufbrausender Mensch. Sie geht auf die siebzig zu, und von einer Rechtsanwaltsgehilfin wird eigentlich nicht erwartet, dass sie eine der Letzten ist, die das Büro verlässt. Alle hier respektieren Sally. Sie war schon Rechtsanwaltsgehilfin bei Donwell & Cron, als bei Hunter noch Dinge wie Pausenbrot und Flummispiele an der Tagesordnung standen.

»Keine Sorge«, sage ich und überlege, was ich mir zum Abendessen ins Büro bestellen soll. Mein Magen knurrt schon wieder.

»Ich habe einen neuen Lieferservice entdeckt, falls du später Hunger hast«, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Äthiopisch. Ich schick dir den Link.«

»Du bist die Beste.«

»Also dann, mein Lieber. Schönes Wochenende.«

»Bye, Sally.«

Sallys Schritte entfernen sich, das Licht auf dem Flur geht aus. Beim Blick aus dem Fenster sehe ich, wie das Nachtleben draußen langsam Gestalt annimmt – Büromenschen eilen aus den Hochhäusern und steigen in Taxen, die ersten Grüppchen Feiernder erscheinen auf den Bürgersteigen. Im Hochhaus gegenüber brennt in dem ein oder anderen Büro ebenfalls noch Licht – gut zu wissen, dass ich nicht der einzige Idiot bin, der noch am Schreibtisch festhängt.

Nachdem ich Sallys Empfehlung gefolgt bin und Essen bei Lalibela bestellt habe, sitze ich jetzt in der Küchenecke des Büros und genieße das Injera-Fladenbrot mit allerlei Wots. Ich lese die Nachrichten des Tages und prüfe immer wieder den Chat mit Anne, aber sie hat seit ihrer »Angeber«-Nachricht nicht mehr geschrieben. Ich frage mich, was sie an einem Freitagabend so treibt, und ob ich sie mit der Helikopter-Sache abgetörnt habe.

Hi Anne, schreibe ich. Hier der Angeber.

Ich kaue gefühlt eine halbe Stunde an einem Reststück Fladenbrot herum, bis sie endlich antwortet.

Lol.

Ist es immer noch zu früh für ein Foto?

Haha. Du bist lustig!

Na ja, du hast es fatalerweise angesprochen … jetzt bin ich eben neugierig.

Schick mir gerne eins von dir, dann kriegst du auch eins von mir!

Gut. Ein Foto, auf dem mein Kopf abgebildet ist, werde ich ihr wohl kaum schicken können. Dann eben eins allein von meinem Oberkörper, mit der Krawatte, vielleicht beflügelt das ihre Phantasie.

Ich setze mich aufrecht hin und überprüfe mein Hemd, meine Krawatte und mein Jackett auf Soßenflecken. Alles sauber. Perfekt. Ich atme tief ein, halte den Atem an, schieße das Foto und schicke es ihr. Hunter ist etwas durchtrainierter und breiter als ich. Ich hoffe, ihr fällt der Unterschied nicht allzu sehr auf, wenn sie ihn demnächst hoffentlich mal trifft.

Keine Antwort.

Erst bin ich enttäuscht, dann beginnt meine Phantasie damit, Purzelbäume zu schlagen. Was ist, wenn sie sich gerade auszieht?

Aber meine Hoffnungen werden nicht erfüllt. Anne schickt mir ein identisches Foto von sich, dieselbe Pose, nur ohne Krawatte: ihr aufrechter Oberkörper, der in einer schwarzen Bluse steckt. Toll.

Darf ich ganz ehrlich sein?, schreibe ich.

Yep.

Ich hatte mit mehr Freizügigkeit gerechnet.

Geht mir genauso.

Einer muss den ersten Schritt machen. Ich sage: Ladies first!

Gewieft.

Ach, Mann. Diese Anne. Ganz schön stur. Und eigentlich viel zu zeitintensiv. Normalerweise hake ich Matches, die nicht sofort zu einer Verabredung führen, sofort ab.

So stur! Was machst du eigentlich beruflich?

Ich sattele gerade um.

Von was auf was?

Ich habe ein paar Jahre für unterschiedliche NGOs gearbeitet und mich vor kurzem selbstständig gemacht. Jetzt produziere ich Ahornsirup und eröffne bald zusammen mit einer Freundin einen eigenen Laden. Beziehungsweise wir mieten eine relativ große Fläche eines Cafés an.

Welches Café?

Wahrscheinlich in meinem absoluten Lieblingscafé – das Black Sheep. Ist aber alles noch nicht unter Dach und Fach.

Kenne ich nicht. Und warum Ahornsirup?

Ahornsirup ist eine gute Alternative zu Honig.

Was ist falsch mit Honig?

Es ist extrem schwer, Honig kommerziell und gleichzeitig tierfreundlich herzustellen.

Verstehe. Und was ist mit Agavensaft?

Du lässt wohl nicht locker, wie?

Berufskrankheit ;)

Agavensaft ist zumindest aus ökologischer Sicht nicht so gut, weil er importiert wird. Ahornsirup hingegen kann man lokal herstellen. Besser fürs Klima, verstehste?

Kapiert.

Warum sitze ich eigentlich immer noch hier? Es ist schon fast zehn, und ein Date wird aus diesem Chat heute sowieso nicht mehr – vor allem keins mit mir.

Deiner Krawatte nach zu urteilen bist du noch im Büro?

Ja. Und was machst du?

Ich bin gerade vom Yoga zurückgekommen.

Yoga. Das sehe ich immer nur von Weitem in meinem Fitnessstudio.

Wo trainierst du?

Im Seven’s. Und du?

Kleines Yogastudio in China-Town, The Little Green House.

Und jetzt?

Sitze ich auf meinem Sofa und lese einen Ratgeber für Führungskräfte ;) Bei einem Glas Rotwein.

Frag lieber mich – ich bin eine Führungskraft! Schön wär’s.

Du lässt wohl keine Gelegenheit aus, deine Kompetenz hervorzuheben, wie? Ich meine aber eher die Führungskraft des 21. Jahrhunderts (Teamplayer, schwache Hierarchien usw.), nicht so den Helikoptertyp mit Assistent. Deinen Rat kann ich also nicht so gut gebrauchen :)

Ganz schön frech.

Das hätte aber auch nach hinten losgehen können, schreibe ich.

Hätte, hätte, Fahrradkette.

Wie viel Wein hast du denn schon intus?

Ich?

Ich grinse. Gucke auf die Uhr. Stelle das Handy auf lautlos und packe es weg. Dann räume ich den Tisch auf und gehe zurück in mein Büro. Die Schreibtischlampe brennt und wirft einen Lichtkegel auf meine Arbeitsfläche. Trotzdem kommt es mir hier plötzlich seltsam dunkel vor.

Mein Blick fällt auf die Kommode an der Wand, die für Büromaterial vorgesehen ist. Hunter verstaut dort außerdem Werbegeschenke – verpackte Bücher, Alkohol und anderes Zeug. Wenn es sich nicht gerade um kubanische Zigarren handelt, verschenkt mein Chef diese Dinge meist einfach weiter. Ich habe schon mehrmals in unsere Gesprächen einfließen lassen, dass ich ein Fan von Whisky bin, Scotch vor allem, aber er scheint das bisher nicht mit der unangetasteten Flasche Yamazaki in Verbindung gebracht zu haben – jede Woche schaue ich mindestens einmal nach, ob die Flasche noch da ist. Meines Erachtens gehört sie zu mir, bin ich ihr natürlicher Besitzer. Hunter weiß so einen feinen Tropfen gar nicht zu schätzen, sonst hätte er ihn nicht einfach dort abgestellt.

Ein Gedanke führt zum anderen, und schließlich finde ich mich mit einem halbvollen Gläschen in meinem ergonomischen Schreibtischstuhl wieder, lehne mich so weit es geht zurück und genieße das Feuer, das meine Kehle hinunterrinnt und sich angenehm in meinem Magen ausbreitet.

Manchmal stelle ich mir einen Quickie in meinem Büro vor … wie mir eine Frau die Augen mit einer Krawatte zubindet und mit mir macht, was sie will. Gedanken an diese Art von Kontrollverlust beim Sex erregen mich. Und ohne dass ich es direkt steuern kann, schießen mir Bilder von Anne in den Sinn und spulen eine Szene vor meinem inneren Auge ab, die ich zu gerne erleben würde.

Ich verliere das Gefühl für die Zeit, versuche vergeblich weiterzuarbeiten. Schließlich gebe ich auf und packe zusammen.