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Anne

Die Phantasie hat zum Glück keine Grenzen, denke ich mir. Mein Phantasie-Sex mit Hunter ist jedenfalls ziemlich gut. Und das muss ich ausnutzen, solange ich ihn noch nicht gesehen habe. Die meisten Tinder-Dates überleben den Reality-Check ja leider nicht. Treffen möchte ich ihn aber auf jeden Fall; ich freue mich eigentlich schon sehr auf Montagabend. Aber das muss ich ihm ja noch nicht sagen.

Ich klappe mein Buch zu und lasse mich in die Kissen sinken, zappe mich durch Netflix und bleibe bei einer neuen Dramedy-Serie hängen.

Kurz darauf vibriert mein Handy.

Hey, kommt es wie von Geisterhand. Hunter ist wieder online. Ich klicke auf sein Profil: Irgendwie sieht er geleckt aus, mit seinen akkurat geschnittenen Haaren und seinem weißen Kragen. Dazu noch sein Intro-Text: »Hunter D., 47, 6 Meilen entfernt. Suche smarte Schönheit für gepflegte Unterhaltung und gediegene Stunden in schönem Ambiente. Ich bin Partner bei Donwell & Cron.« Wer schreibt so was schon? Gediegene Stunden? Schönes Ambiente? Wie von einer Marketing-Firma getextet. Total unpersönlich und altbacken. Aber sein im gut geschneiderten Anzug verborgener Körper ist wirklich nicht zu verachten. Ich klicke mich durch die Fotos. Eins zeigt ihn in beigen Shorts und babyrosa Polohemd auf einer (seiner?) Yacht – na ja, Geschmackssache. Angeber halt. Für ein bisschen Ablenkung aber sicherlich der Richtige. Solange er kein Serienmörder und ganz hübsch ist, denke ich mit Blick auf den Fernseher – die Serienheldin, eine Pathologin, seziert gerade eine Leiche – ist ja alles okay.

Hey, hey, schreibe ich. »Mit anonymisierten Nachnamen assoziiere ich selten etwas Gutes. Geht es dir genauso?«, würde ich gerne hinterherschicken, lasse es aber lieber. Wahrscheinlich hat Hunter D. schon genug von mir. Und die Aussicht auf Sex sollte ich mir jetzt nicht verbauen. Ich bin für meine Verhältnisse schon ziemlich weit gekommen.

Hunter schreibt prompt zurück: Und – was sagt dein Ratgeber über autoritäre Führungspersönlichkeiten wie mich?

Gut, dass er sich selbst nicht zu ernst nimmt.

Ich schicke ihm einen Screenshot vom Anfang des Kapitels »Der Top-down-Ansatz«: »Der autoritäre Führungsstil ist ein auf Kontrolle und Befehl beruhender Führungsansatz, der auf einem hierarchisch gegliederten Gehorsam aufbaut. Entscheidungen fließen entsprechend einem Top-down-Ansatz von oben nach unten.

Mit dem Aufschwung flacher Hierarchien mit dem Leitbild mündiger Mitarbeiter werden autoritäre Manager zunehmend als Flexibilitätshemmnis und Kreativitätsunterdrücker kritisiert.«

Interessant, schreibt Hunter. Aber im Bett stehen doch alle darauf!

Was heißt hier »alle«?

Frauen natürlich.

Vielleicht nicht jede.

Wie steht’s mit dir?

Ich dominiere lieber, wenn du es genau wissen willst.

Gemäß eines »Top-down-Ansatzes”?

Yep, schreibe ich und füge schnell hinzu: Wobei ich gegen ein bisschen Abwechslung nichts einzuwenden habe.

Wie sieht’s mit Montagabend aus? Steht die Verabredung?

Wärme schießt mir ins Gesicht. Ich denke an meine Reizunterwäsche, und Rotwein, und nackte Haut.

Ja, die steht. Ich überrasche mich selbst mit dieser Antwort. Obwohl Hunter und ich ja wirklich nicht kompatibel sind, kann ich nicht umhin, mich von seinem unnachgiebigen Interesse an mir geschmeichelt zu fühlen. Wie wär’s mit acht Uhr im Pizza Panna? Die Pizza mit karamellisierten Zwiebeln, Birnen und Blaukäse ist einfach nur lecker, die musst du probieren!

Acht Uhr im Michael’s on Simcoe.

Ich google »Michael’s on Simcoe« und klicke mich durch Fotos von Tischen mit gestärkten weißen Tischdecken. Hm. Spießig. Sieht noch dazu ziemlich kostspielig aus. Momentan investiere ich mein ganzes Geld in Julies und mein Geschäft. Wir haben sogar einen Kredit aufgenommen. (Notiz an mich selbst: Ab Dienstag weniger Geld ausgeben.)

Ich freue mich auf dich, schickt Hunter hinterher. Das wird bestimmt interessant mit uns beiden.

Dann tauschen wir unsere Nummern aus und wechseln zu WhatsApp.

Später, weit nach Mitternacht, und einige Serienfolgen und Weingläser weiter, werde ich unerwartet kühn – ich schicke ihm eine ellenlange Nachricht, über mich, meine Enttäuschung über Cooper, meine Ansichten über Männer im Allgemeinen, und ein bisschen noch was über Gott und die Welt oder so, bereue das dann aber spätestens nach dem Zähneputzen – das grelle Badezimmerlicht macht mich plötzlich unangenehm wach – und lösche sie gleich wieder in der Hoffnung, dass der Typ schon schläft.

Am nächsten Morgen hab ich nicht nur einen leichten Kater, im Chat steht außerdem ein Fragezeichen als Antwort auf meine gelöschte Nachricht. Korrektur: Nachrichten!

Nachricht gelöscht.

Nachricht gelöscht.

Nachricht gelöscht.

Nachricht gelöscht.

Nachricht gelöscht.

Nachricht gelöscht.

Da ich die Regeln des Datens ohnehin nicht beherrsche, muss ich mich jetzt ernsthaft fragen, ob das peinlich ist?

Ich entscheide, mir erst mal einen Kaffee zu machen, eine Aspirin zu nehmen und Julie eine Nachricht auf Band zu hinterlassen. Sonntagmorgens ist sie nie zu erreichen; Samstag ist ihr »Tindertag«, an dem datet sie mindestens drei Männer im Akkord, und mit einem von denen verbringt sie dann meistens auch den Abend, oder, wenn keiner der drei ihrem Gusto entspricht, schlägt sie bei ihrem friend with benefits, Vincenzo, auf.

»Na du? Sag mal, ist es schlimm, ich hab Hunter mehrere Nachrichten geschickt und sie dann wieder gelöscht, er hat mir daraufhin ein Fragezeichen geschickt, was soll ich ihm jetzt antworten? Hoffe, du hattest einen netten Abend, pass auf dich auf, miss you.«

Ich finde eine Packung Blaubeeren im Tiefkühlfach. Bis die aufgetaut sind, schneide ich eine Banane klein, rühre einen Pancake-Teig zusammen, nippe immer wieder an meinem Kaffee und höre Lokalnachrichten. Der Bürgermeister spricht über seinen neuen Stadtplan zur Förderung der Infrastruktur. Sein Schnellstraßenprojekt ist ziemlich umstritten. Kein Wunder, die Straße, die er plant, verbindet zwei Autobahnen und verläuft quer durch die Stadt. Mehr Feinstaub braucht Toronto nun wirklich nicht, aber er spricht nur beschönigend von einer »Investition in die Zukunft« und dem »Anlocken internationaler Investoren«. Ich schüttele den Kopf und warte. Kommt da noch was? Das große Menasto-Debakel hat er bisher nicht kommentiert, dabei ist es seine Partei, die Konzerne wie Menasto durch die Steuerbegünstigungen aus den USA anlockt.

Vor lauter Ärger vergesse ich, mir den Happen Pancake, der aufgespießt auf meiner Gabel darauf wartet, verzehrt zu werden, in den Mund zu schieben. Bevor ich schließlich zubeiße, dippe ich ihn in extra viel Ahornsirup.

Nach dem Frühstück putze ich meine Wohnung, was – leider – ziemlich schnell getan ist; meine Wohnung ist nämlich gerade mal so groß wie ein Schuhkarton. Es ist eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Minibad. In dem einen Zimmer befindet sich alles: Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Mein sogenanntes »Schlafzimmer« alias eine einsame Queensize-Matratze auf zwei aufeinandergestapelten Paletten, mit denen angeblich Ahornsirup nach Europa transportiert wurde, ist durch eine Schiebetür vom Rest des Raums getrennt. Öffnet man die Tür, fällt man quasi sofort auf die Matratze. Meinen »Nachttisch« habe ich deshalb an der Wand angebracht – eine hölzerne Ahornsirup-Box, die ich abgeschliffen und glasiert habe. (Versprechen an mich selbst: Ich werde dem Drang widerstehen, aus meiner Wohnung einen Ahornsirup-Themenpark zu machen.)

Meine Wohnung befindet sich in der zwölften Etage eines neuen Hochhauses im Junction Triangle, westlich von Downtown Toronto. Die Nachbarschaft ist rund um ein Stück stillgelegter Zuggleise angesiedelt, ein großer Teil davon ist jetzt ein Mix aus Industriegebiet, Cafés und Künstlerstudios. Alle zwei Monate macht irgendwo ein altes Restaurant oder eine Bar zu und was Neues auf. Das neue Eckrestaurant, das meinen liebsten Take-away in der Nachbarschaft ersetzt hat, ist für mich jetzt kaum noch bezahlbar. Doch obwohl die Mietpreise stetig steigen, ist meine Miete zum Glück noch die alte.

Ein Gutes hat das Hochhaus, in dem ich wohne: Von außen sieht es zwar ziemlich trist aus, aber es ist – surprise – hoch, so dass man von hier oben bis zum Lake Ontario sehen kann, der etwa fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt liegt. Der See ähnelt einem Meer. Gigantisch, weit und scheinbar uferlos.

Wenn man in meine Wohnung kommt, fällt der Blick bei geöffneten Vorhängen sofort hinaus auf den See. Links vom Fenster steht ein Sofa, davor ein Teetisch, und gegenüber der Fernseher. An der Wand um den Fernseher hängen ein paar gerahmte Fotos, eins meiner Eltern und eins von Julie und mir. Früher gab’s da auch noch Cooper zu sehen, aber die Rahmen liegen jetzt fotolos in der Fernsehkommode und verstauben. Wenn Julie und ich unsere Marke launchen, hänge ich ein Bild von unserer Eröffnungsfeier auf, hab ich mir fest vorgenommen. Rechts vom Fernseher ist die Tür zu meinem Schlafzimmer, daneben befindet sich die Dusche, und gegenüber davon eine Kücheninsel, die durch einen Bartisch optisch vom Rest des Raumes abgetrennt wird. An den Wänden rechts und links der Eingangstür habe ich Bücherregale und eine Kleiderstange angebracht. Na ja, alles etwas improvisiert, aber etwas anderes geht in dem Raum einfach nicht.

So wohne ich. Klein. Julie nennt es »gemütlich«, aber ich komme mir wirklich manchmal vor wie eine Maus im Schuhkarton. Doch auch wenn ich es mir sehnlichst wünsche, das finanzielle Risiko, eine größere Wohnung zu mieten oder sogar eine zu kaufen, kann ich gerade nicht auf mich nehmen. Erst muss unser Geschäft anlaufen und der Kredit abbezahlt werden.

Wie gesagt, mit dem Putzen bin ich schnell durch. (Notiz an mich selbst: Alles hat seine Vor- und Nachteile!)

Nach dem Duschen gleiche ich die Wettervorhersage aus dem Radio durch einen Blick aus dem Fenster ab: Der Himmel ist grau und könnte in den nächsten Stunden ebenso Sonne wie Hagel bereithalten. Aber es ist warm, und die Prognose lautet: Sonnenschein.

Jetzt ist es fast halb zwölf. Ich entscheide, spazieren zu gehen, in Richtung des Black Sheep, Julies und meinem Lieblingscafé. Es liegt um die Ecke von der Beratungsfirma, in der sie arbeitet, mit der U-Bahn eine halbe, zu Fuß eine ganze Stunde entfernt von mir. Leider ist es nicht das, in dem wir die Fläche für den Sirup werden anmieten können – gestern Nachmittag kam die Absage von der Managerin. Es ist ziemlich klein, aber vor allem auch überhaupt nicht vegan. Die Managerin hatte Angst, unseren Sirup inmitten von buttrigen Croissants, Brownies und Milkshakes als vegane bzw. »gewaltfreie« Alternative zu Honig zu verkaufen.

Aber Julies und mein Lieblingscafé wird es trotzdem bleiben – es liegt am Rand von China-Town, in einem begrünten Innenhof an einer ruhigen Seitenstraße nahe ausgefallener Vintagestores, Friseursalons, chinesischer Restaurants und billiger Massenwarenläden. Eine kleine Oase der Ruhe inmitten eines eher hektischen Viertels.

Als ich es nach einer guten Stunde Fußmarsch erreiche, ist mir warm geworden, deshalb lasse ich meinen Mantel gleich auf einen freien Stuhl im Freien fallen, um ihn zu reservieren. Dann gehe ich hinein, wo mich der Duft von geröstetem Kaffee und aufgeschäumter Kuhmilch begrüßt – ein blöder Nebeneffekt davon, keine Kuhmilch mehr zu trinken, liegt darin, dass man den Unterschied plötzlich viel stärker wahrnimmt. Der Geruch ist nicht störend, nur ganz auffällig tierisch.

Ich bestelle einen Flat White mit doppeltem Espresso und Hafermilch, und einen Brownie – das Stück ist ziemlich groß und sieht aus, als könnte es mich glücklich machen. Ausnahmsweise bin ich froh, dass Julie gerade nicht da ist, denn der Brownie ist nicht als vegan gekennzeichnet, da steckt wahrscheinlich ordentlich Butter drin – ich frage lieber nicht nach. Ich bin da nicht so konsequent wie Julie, die mir in diesem Moment bestimmt ’ne kleine Standpauke halten würde.

Mit meiner Bestellung kehre ich an den Tisch im Freien zurück, hole meinen Laptop aus der Tasche und checke meine Mails. Gestern Nachmittag habe ich nach Designern für unser Logo gebrowst und schon ein paar von ihnen angeschrieben; zwei haben geantwortet und mir einen Kostenvoranschlag gemacht. Ich antworte, mit Julie im CC, und schreibe nur kurz danke und dass ich mich in Kürze melde.

Zwei Stunden später habe ich immer noch nichts von Julie gehört. Bisher hat sie weder auf meine Mails noch auf meine Telefonnachricht reagiert.

Ich werfe einen letzten Blick auf meine Excel-Tabelle, in der ich die Kontakte der angeschriebenen Designer festgehalten habe – insgesamt sind es vierzehn, einige davon sind sehr vielversprechend, jetzt muss nur noch der Preis stimmen. Anschließend gehe ich noch mal die Präsentation für Dienstag durch – Dienstag treffen Julie und ich eine potenzielle Investorin. Dann klappe ich meinen Laptop zu und gestatte mir zum ersten Mal seit dem Morgen einen Blick in den Chat mit Hunter. Vielleicht sollte ich mal auf sein Fragezeichen antworten.

Die Messages waren nicht an dich gerichtet, sorry. Etwas Besseres fällt mir nicht ein.

Beim Gedanken an meinen Nachrichtenschwall verziehe ich kurz das Gesicht und versuche, die Erinnerung so weit wie möglich zu verdrängen. Und das geht am allerbesten mit noch einem Flat White und noch einer Arbeitseinheit, entscheide ich. Allerdings ist es hier draußen schon wieder frischer geworden, ein paar Wolken verdecken hartnäckig die Sonne. Also packe ich meine Sachen zusammen und mache es mir drinnen gemütlich.