6
Jonathan

»So fleißig.«

Ich drehe den Kopf. Sally steht im Türrahmen und deutet auf meinen Bildschirm.

»Morgen ist der große Tag, was? Ich mach mich jetzt auf den Weg nach Hause … viel Spaß in Boston!«

Spaß würde ich das zwar nicht nennen – eher eine hochgradig stressende Bestandsprobe meiner Leistungen, und die erste richtige und vielleicht auch einzige Chance, hier in der Kanzlei einen Karrieresprung hinzulegen. Aber ich sage: »Danke, Sally. Übrigens, super Hotel, das du uns da gebucht hast.«

»Man tut, was man kann«, sagt sie und lächelt. »Bei über fünfhundert Dollar die Nacht gehe ich stark davon aus, dass es gut wird. Sogar mit Fitnessraum und Pool.« Sie zwinkert.

»Ob dafür Zeit bleibt …«

»Es muss!«

»Ja, wär schon schön, aber du kennst ja Menasto. Die wollen alles bis ins hinterletzte Detail besprechen. Deren Rechtsabteilung ist bisher die aggressivste, mit der ich je zusammengearbeitet habe. Wenn sich da morgen eine Lücke ergibt, für die ich verantwortlich bin, kann ich hier einpacken.«

»Das wird schon.«

»Das sagst du so.«

»Du kennst doch Hunter. Er tut immer strenger, als er am Ende ist.«

»Nicht wenn es um Menasto geht. Alle Kanzleien schauen uns hier auf die Finger. Wenn wir das nicht richtig hinbekommen, ist der Ruf der ganzen Kanzlei geschädigt.«

Sally lächelt mir beruhigend zu. »Und sonst? Was macht deine Mum?«

»Sie fragt, wann ich mal wieder hochfahre. Aber wie du siehst – ich versinke in Arbeit.«

»Zeit für die Familie muss sein. Geht’s ihr denn wieder besser?«

»Ja, viel besser. Sie macht jetzt Yoga. Dadurch sind die Rückenschmerzen fast ganz verschwunden.«

»Und das Auto?«

»Ist in der Werkstatt. Die Kosten übernimmt die Versicherung des Unfallverursachers.«

»Sie kann von Glück reden, dass sie so gut davongekommen ist. Auch wenn ich mir diese ewigen Rückenschmerzen natürlich schlimm vorstelle.«

»Witzigerweise hat die Reha eigentlich kaum etwas gebracht. Die Schmerzen wurden erst durch das Yoga gelindert.«

»Machst du dir noch Sorgen?«

»Um meine Mutter? Nein, eigentlich nicht.«

»Ist es Menasto? Du siehst belastet aus.«

Ich zucke mit den Schultern.

Lieb, wie Sally sich immer um mich sorgt. Sie hat mich vom ersten Tag an unter ihre Fittiche genommen. Genau wie meine Mutter ist sie alleinerziehend, und außerdem Migrantin. Sally kommt aus Puerto Rico, meine Mutter kam mit siebzehn aus Indien hierher. Einmal, als meine Mutter zu Besuch war, sind Sally, sie und ich zusammen mittagessen gegangen. Seitdem fragt Sally regelmäßig nach ihr.

»Wie geht es Mateo?«

»Gut. Möchtest du die Hochzeitsfotos sehen?«

Während Sally mir die Fotos von der Hochzeit ihres Sohnes zeigt, wandern meine Gedanken zu Anne und Hunter ab.

»Jonathan?«

»Ja?«

»Alles okay?«

»Ja, wieso?«

»Ich hab nur … eben was gefragt.«

»Was denn?«

»Es tut mir leid, Junge. Ich quatsche zu viel. Diese ganzen Sachen interessieren dich wahrscheinlich gar nicht.« Sie lässt ihr Handy zurück in ihre Handtasche fallen.

»Doch, doch!«

Sally lacht. »Ach, ich bin da wahrscheinlich wie jede Mama. Mein Sohn ist mein Ein und Alles. Ich schau mir die Fotos jeden Tag an. Es war so ein besonderer Tag!« Sie hält inne. »Aber jetzt zu viel geredet.« Ihre Augen drücken Sorge aus, als sie sagt: »Du arbeitest eindeutig zu viel, Jonathan.«

»Tja, ich hab halt niemanden, der zu Hause auf mich wartet. Von meinem kiffenden Mitbewohner mal abgesehen«, erwidere ich und lächle schief.

»Komm, ich lad dich zu einem Feierabendbier um die Ecke ein.«

»Feierabend?« Ich blicke auf die Uhr. Es ist erst halb acht. Wahrscheinlich schlürfen Hunter und Anne gerade an einem Aperitif und schauen sich tief in die Augen oder so was. Ich seufze.

»Okay. Vielleicht ess ich kurz ’ne Kleinigkeit mit dir und geh danach zurück an die Arbeit.«

Sally lächelt zufrieden. »Na, dann komm.«

Fünf Minuten später sitzen wir uns in einer nahe gelegenen japanischen Fusion-Bar gegenüber, essen Fischburger und trinken Sapporo.

»Gar nicht schlecht«, sagt Sally und liest sich das Etikett ihrer Bierflasche durch. »4,9 Prozent.«

»Apropos Prozent«, sage ich. »Ich hab gehört, Olivia bekommt ab diesem Jahr fünfzehn Prozent Bonus. Weißt du, woher das kommt? Sie hat ja nach mir angefangen …«

Sally blickt auf. »Wegen dem Menasto-Deal natürlich.«

»Was meinst du? Der Deal ist doch noch gar nicht durch.«

»Nein, ich meine den Kontakt.«

»Der Kontakt ging über sie?«

Sally nickt. »Aylin hat es mir erzählt. Ihr Onkel ist wohl im Aufsichtsrat von Menasto.«

»Verstehe.« Ich nehme einen großzügigen Schluck vom Bier und versuche, den Ärger darüber, dass manche Menschen allein durch ihre Verbindungen Karriere machen, hinunterzuspülen. Olivia geht jeden Tag pünktlich um achtzehn Uhr, während ich jeden Tag zig Überstunden leiste.

»Ich weiß, was du denkst. Aber deine Zeit kommt schon noch«, sagt Sally. »Da bin ich mir sicher.«

»Fünf Prozent mehr Bonus könnte ich gut gebrauchen …«

»Mit so einem hässlichen Deal möchtest du nicht reich werden, Junge.«

»Wieso das denn?«

Sie hebt eine Augenbraue.

»Ich weiß, Menasto steht in den USA immer wieder in der Kritik, aber ich hab mich mit den Details ehrlich gesagt noch nicht auseinandergesetzt. Bei so großen Unternehmen gibt es immer negative Presse, nenn mir eins, bei dem es nicht so ist.«

»Das stimmt.«

Sie scheint ihren Gedanken nachzuhängen. Deshalb hake ich nach: »Oder worauf willst du hinaus?«

Wissend lächelnd sagt sie »Ach« und winkt ab. Vielleicht sollte ich wirklich mal mehr Recherche betreiben, aber dafür fehlt mir einfach die Zeit.

»Sag doch mal«, bitte ich.

»Vielleicht ein andermal. In einem anderen Setting.« Sie blickt sich um.

»Noch ein Bier?«, frage ich und hebe meine leere Flasche.

Nach unserem zweiten Bier verabschiedet sich Sally in den Feierabend, und ich kehre ins Büro zurück. Im ganzen Gebäude brennt nur noch ein einziges Licht. Ich gehe hinein und steige in den Aufzug. Auf der vierzehnten Etage angekommen, laufe ich den stillen Korridor entlang, bis ich vor der richtigen Tür stehe. Auf dem Schild steht »Belanger, F.« Fleur ist die Rechtsassistentin. Ich klopfe und höre ihre Stimme.

»Ja?«

»Hey«, sage ich. »Sag mal, hast du einen Moment?«

Sie löst ihren Blick vom Monitor. »Wenn’s sein muss.«

»Hast du dich schon mit Menasto befasst?«

Sie kräuselt ihre Lippen. »Rate mal, was ich gerade mache.«

»Sind viele Fehler im Vertrag?«

»Du hättest ihn mir ruhig ein bisschen früher schicken können.«

»Sorry.«

»Schon okay. Bis jetzt sind es nur ein paar kleine Tippfehler. Und ich habe ›Sorgfaltsmaßstab‹ durch ›Sorgfältigkeitsmaßstab‹ ersetzt.«

»Ist doch dasselbe.«

»Ja, aber so klingt es konsistenter.«

»In deinem Job wäre ich verloren.«

»Ich war schon immer eine kleine Pedantin.«

»Na dann …«

Sie lächelt. Ruhig. Souverän. Und mir fällt wieder mal auf, dass Fleur echt ganz nett ist. Irgendwas ist anders an ihr, ich kann aber nicht genau sagen, was.

»Sonst noch was?«, fragt sie und klickt ein paar Mal mit dem Kuli in die Luft.

»Wieso?«

»Du bist hier reingekommen, Jonathan. Was gibt’s?«

»Darf man einer Kollegin nicht mal mehr Hallo sagen?«

»Hallo«, sagt sie und lacht. »War’s das?«

Vielleicht sollte ich sie mal fragen, ob sie Lust hätte, was trinken zu gehen, denke ich. »Ähm, ich wollte dich fragen, was du über Menasto weißt.«

»Viertgrößter internationaler börsennotierter Zementhersteller mit Headquarter in Houston, Umsatz 27,32 Billionen, wieso?«, sagt sie ungeduldig. »Bist du morgen nicht bei den Verhandlungen dabei?« Ihre Augenbrauen verengen sich vor Skeptizismus.

»Keine Sorge, ich hab meine Hausaufgaben gemacht.«

»Ah ja? Wirkt nicht so.«

»Sehr witzig. Ich meinte eher: Was weißt du über das, was Menasto nachgesagt wird?«

»Musst du dafür wirklich mich fragen? Google es doch einfach. Die Nachrichten sind voll davon.«

»Ich merk schon, ich halte dich auf.«

»Hast du mal auf die Uhr geguckt?«

»Hab ich mir abtrainiert bei all den Überstunden.«

Sie schnaubt. »Sollte ich wahrscheinlich auch mal tun.« Sie klickt wieder mit dem Kuli und schürzt nachdenklich die Lippen.

»Hast du vielleicht Lust, noch was trinken zu gehen?«

»Warst du nicht grad eben schon weg? Was machst du eigentlich noch hier?«

»Boston vorbereiten natürlich.«

»Ich mache zehn Kreuze, wenn der Deal endlich vom Tisch ist.«

»Ich würde mit Post Closing Disputes rechnen.«

»Aber diesmal macht ihr den Vertrag ein bisschen früher fertig, ja?« Sie zeigt mit der Kulispitze auf mich. »Und jetzt entschuldige mich, bitte. Ich muss hier langsam echt mal fertig werden.« Sie lässt ein paar Sekunden verstreichen, in denen keiner von uns etwas sagt. »Wenn’s sonst nichts mehr gibt: Viel Spaß in Boston, Jonathan.« Und mit diesen Worten widmet sie sich wieder ihrem Screen, als hätte ich den Raum schon verlassen.

Als ich nach Mitternacht als Letzter das Büro verlasse, bin ich so müde, dass meine Gedanken komplett leer gefegt sind. Das ist das Gute daran, wenn man vor Arbeit untergeht: Es macht die Dinge irgendwie einfacher. Selbst die kurze Vorstellung von Hunter und Anne zusammen im Bett rührt mich nicht. Nicht, dass mich das je gejuckt hätte, oder?