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Jonathan

Ich bin der einzige Mann im Café. Sonst nur Frauen mit Kindern oder Laptops. Als ich vor der Glasvitrine stehe und die Auswahl an Kuchen und Sandwiches betrachte, bin ich latent überfordert – Zitrus-Zucchinikuchen, Limettentarte mit Eischnee aus Kichererbsen, Brownies, Käsekuchen ohne Käse … Ich bestelle der Einfachheit halber einen doppelten Espresso und setze mich auf den einzigen freien Platz, einen Ohrensessel in der Ecke. Es ist kurz nach eins. Mein Handy habe ich zu Hause gelassen. Ich habe Sally geschrieben, dass ich krank bin, und Hunters Nachrichten schlicht ignoriert.

Das Black Sheep ist ein kleines Café mit einer Terrasse in einem efeuumrankten Innenhof. Heute ist es allerdings etwas zu kalt, um sich rauszusetzen. Drinnen ist es weniger besonders – eine kleine Theke, ein paar Tische und Sessel, alles gemütlich, aber recht minimalistisch, bis auf eine Wandlampe in Form eines schwarzen Schafes.

Ich greife zu einer Frauenzeitschrift und blättere darin herum. Allein dabei lerne ich schon ziemlich viel über Frauen – sie zerbrechen sich viel zu sehr den Kopf über Männer! Jeder zweite Artikel handelt von Sex oder Liebe oder die richtige Kommunikation in der Beziehung. In einem weiteren Artikel mit Fotostrecke unter dem Titel »Umzug ins Grüne«, ist ein Paar in einem Haus in der Natur abgebildet – der Mann trägt ein Holzfällerhemd, hat einen Bart und einen Zopf. Auf den Fotos sieht man das Paar schreinernd oder eigenes Gemüse anpflanzend. Eine Art Modern Living im Vorort, also ungefähr so, wie ich mir die Hölle vorstelle, aber egal. Der Typ hat genau den Stil, den ich mir aneignen sollte, denke ich. Das würde ganz gut zu meiner neuen Aktivistenidentität passen.

Ich überlege. Der ganze Tag steht mir frei. Ich sollte meine Social-Media-Profile aktualisieren. Aber dafür muss vorher noch eine kleine Verwandlung her …

Eine halbe Stunde später stehe ich in einem Outdoorgeschäft und lasse mich von einem Verkäufer beraten, dessen Fitness ich im Verhältnis zu meiner auf 10 zu -0,5 schätze. Ich sollte mal wieder, ähm … mehr Gewichte heben? Klettern gehen? Vielleicht etwas mehr tun, als am Schreibtisch zu sitzen und nur einmal die Woche mein Cardioprogramm am Laufband abzuziehen? Das würde mir sicher auch dabei helfen, die nötigen Muskeln aufzubauen, um nächste Woche auf einen Baum zu klettern … wobei sich Muskeln sicher nicht so schnell aufbauen lassen, aber egal. Ich ärgere mich. Über mich selbst. Anwälte wären in der freien Natur sofort Frischfleisch.

Nachdem ich verschiedene Paar Wanderschuhe anprobiert habe, suche ich mir wahllos ein paar Pullover und Hemden heraus, aber ehe ich in der Umkleidekabine verschwinde, eilt der Verkäufer herbei und berät mich.

Das Ergebnis der Beratung ist, dass ich am Ende aussehe wie sein unsymmetrischer Zwilling, nämlich zwei Nummern kleiner – Baumfällerhemd, darüber ein blauer Pullover mit Reißverschluss. Allein besehen sähe ich gut aus, aber neben ihm schneide ich … wahrscheinlich eher schlecht ab.

»Ich sollte mehr Sport machen«, erkläre ich. »Kennst du eine gute Kletterhalle?«

Er empfiehlt mir zwei. Als ich anschließend an die Kasse gehe, um dasselbe Outfit in gleich mehreren Farben und Ausrichtungen zu kaufen, inklusive Wanderschuhe, nenne ich das einen effizienten Shoppingtrip. Vielleicht sollte ich meinen Hang zum Onlineeinkauf überdenken.

Ich habe mich für die Woche krankschreiben lassen – das erste Mal seit Berufseinstieg. Die nächsten drei Tage verbringe ich damit, mir Klettervideos anzusehen und in der Kletterhalle zu üben, an Wänden hinaufzukraxeln. Die Halle hat weiche Matten auf dem Boden und kurvige Wände verschiedener Steillagen und Längen, die von bunten Hand- und Fußgriffen durchsetzt sind, und sieht ein bisschen so aus wie eine Höhle mit Konfetti. Eine sehr nette Kursleiterin namens Maria hat sich bereit erklärt, mir spontan ein paar Stunden Einzelunterricht zu geben.

Als Erstes lerne ich die richtige Dehn-, Fuß- und Armtechnik, dann das richtige Atmen. Am ersten Tag schaffe ich es tatsächlich, eine mittelschwierige Wand ganz hochzuklettern, doch erst am dritten Tag machen wir uns daran, die Seiltechnik zu erproben: Das richtige Anbringen der Ausrüstung, sicheres Stürzen und die Kommunikation mit dem Seilpartner stehen an der Tagesordnung.

»Und vergiss nicht: Nicht klammern. Locker lassen. Das geht sonst zu sehr in die Arme«, erinnert mich Maria nach unserer letzten Session und wünscht mir noch viel Glück bei der Demo.

Ich schüttele meine Arme. Der Muskelkater von gestern ist immer noch nicht weg. Meine vom Chalk weißen Hände haben innerhalb der wenigen Tage eine dicke Haut an Fingerkuppen und Handballen gebildet – immerhin, keine Schreibtischhände mehr!