Gab es König Artus? Schwer zu sagen. Wir wissen nicht, ob es König Artus gab, wir können es bestenfalls glauben. Er gilt als Sagengestalt und könnte zugleich gelebt haben. Wir können es also vermuten. Wir können auch davon überzeugt sein. Doch das alles sagt auch: Wir wissen es nicht.
Und gab es Ludwig XIV. (1638–1715)? Ja, den gab es. Wir haben ihn zwar nicht getroffen, aber wir verlassen uns auf die Geschichtsschreibung. Und danach ist die Existenz von Ludwig XIV. eine gesicherte Erkenntnis.
»Glauben heißt nicht wissen« – dieser Satz ist einer der wichtigsten Sätze, die ich aus der Schule mitgenommen habe, und zwar aus dem Munde meines inzwischen verstorbenen Geschichtslehrers. Auch dieser Geschichtslehrer hat Ludwig XIV. nie getroffen. Aber er kannte das Prinzip der Geschichtsschreibung, bei der wir die Existenz von Personen und Ereignissen in Chroniken finden und in Berichten, die unabhängig voneinander entstehen. Historiker halten fest, was war und was ist. Sie sichern diese Informationen als Wissen. Seriöse Historiker verdrehen dabei nichts und geben auch keine Vermutungen als Fakten aus.
Zugleich lassen wir Menschen uns oft von dem leiten, was wir glauben. Oft halten wir Annahmen für gesichertes Wissen. Wir vermuten etwas und bilden uns auf dieser Basis unsere Meinungen und treffen Entscheidungen. Zum Beispiel fragen wir unseren Partner entgeistert, wieso er das Gartentürchen offen gelassen hat, dabei hat er das gar nicht getan. Das alte Kastenschloss ist einfach marode und das Türchen ging im Wind von allein auf. Wir unterstellen einfach, dass er es war, und er darf dann erklären, warum er es nicht war. Unfair eigentlich, denn sollten nicht eher wir darlegen, warum er es war? Schließlich stellen wir die Behauptung auf.
Ich schreibe dieses Buch in einer Zeit, in der eine Flut von Falschinformationen über uns hereinbricht. Auf dem Bildschirm sehe ich gerade das Fake-Foto mit den meterhoch gestapelten Heuballen vor dem Eiffelturm, das uns weismachen soll, so sähen die Bauernproteste in Paris aus. Auf X (früher Twitter) erzählen uns zahlreiche User, dass die »Mainstream«-Medien diese Wahrheit angeblich verschweigen.5
Auf solche Fakes fallen nicht nur Leute herein, die sich leicht für dumm verkaufen lassen. Es ist tatsächlich ein Handwerk, die Qualität von Informationen einzuschätzen. Wem dieses Handwerk fehlt, ist gefährdet.
Uns begegnen zahlreiche Falschinformationen – Behauptungen, Vermutungen, Gerüchte, wilde Erklärungen für angeblich Unerklärliches und auch Manipulationsversuche und Verschwörungserzählungen. Wie ordnen wir das alles ein, was wir da »erfahren«? Wie erkennen wir, was stimmt und was nicht?
Womit wir gleich zu einer Spitzfindigkeit kommen, nämlich dem Wort »erfahren«. Ist das, was wir »erfahren«, eine »Erfahrung«? Nein, natürlich nicht. Etwas zu »erfahren« ist etwas anderes als eine »Erfahrung«. Unsere »Erfahrungen« sind das, was wir erleben und erlebt haben – wir waren Zeugen und können das Erlebte in aller Regel als zuverlässiges Wissen abspeichern. Wenn wir also selbst erleben, dass das Auto nicht anspringt, können wir das sicher behaupten.
Nun weiß ich auch, dass wir uns täuschen können und dass uns die Erinnerung Streiche spielen kann. Deswegen gehören aber nicht alle unsere Erfahrungen ins Reich der Legenden. Am Ende haben die allermeisten Menschen ihr Leben vor allem deswegen im Griff, weil sie sich darauf verlassen können, dass stimmt, was sie erleben. Ist unsere Wahrnehmung nicht gestört, können wir die Wirklichkeit beobachten und Feststellungen treffen. So, wie wir das täglich tun, in der Küche, bei der Arbeit. Erkenntnis durch eigenes Erleben ist selten das Problem.
Das Problem liegt eher bei dem, was wir »erfahren«. Das sind die Informationen, die wir nicht selbst ermitteln, indem wir etwas direkt erleben, sondern diese Informationen trägt uns jemand zu. Wir erhalten diese Informationen indirekt, über Bande.
Unsere Meinungen bilden wir uns aufgrund von beidem: Unsere Erfahrung spielt eine Rolle, und was wir von Freunden hören oder bei Instagram lesen, spielt ebenfalls eine Rolle. Das mag banal klingen, ist aber wichtig: Am Ende bilden wir uns unsere Gewissheiten aufgrund dessen, was wir erleben, und aufgrund dessen, was wir erfahren.
Was tun wir, wenn wir eine Information erhalten? Erfahren wir etwas, dann wissen wir erst einmal nicht, ob die Information stimmt.
»Michael Jackson ist tot«, erzählte mir ein Freund Ende Juni 2009 am Telefon. Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich glaube Menschen erst einmal, was sie sagen. Ich lasse erst mal gelten, was ich höre. Ich übernehme nicht sofort jede Meinung, aber ich akzeptiere, dass jemand denkt, wie er denkt. Und wenn mir jemand etwas sagt, was ich niemals für möglich gehalten hätte, bin ich ebenfalls erst einmal geneigt, diese neue Information zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen und nicht sofort anzuzweifeln.
»Ehrlichkeitsvermutung« nennen das die Kognitionspsychologen Daniel Simons und Christopher Chabris in ihrem Buch »Lass dich nicht täuschen«. Freie Gesellschaften brauchen diese Ehrlichkeitsvermutung für die öffentliche Debatte, die die Gesellschaft weiterbringt.
Dass Michael Jackson mit nur 50 Jahren sterben würde, hatte ich nicht erwartet. Ich erhielt die Nachricht von einem Freund. Da dieser Freund mit dem Tod normalerweise keine Späße treibt, glaubte ich ihm. Ohne ihm zu misstrauen, habe ich die Information über die Nachrichten verifiziert.
Von den Terroranschlägen am 11. September 2001 habe ich im Autoradio auf einem öffentlich-rechtlichen Sender gehört. Es gab für mich keinen Grund, an der Information zu zweifeln. Ich habe etwas Unglaubliches geglaubt, obwohl ich nicht dabei war. Aber die Quelle war eben seriös, und so hatte ich eine zuverlässige Information bekommen.
Diese Dinge habe ich nicht deswegen geglaubt, weil ich sie für möglich hielt – und auch nicht, weil ich sie mir vorstellen konnte. Ich habe sie geglaubt, weil ich keinen Grund hatte, den Radiosender oder einen guten Freund als unseriöse Quellen anzusehen.
Aber: Nur weil ich etwas für möglich halte oder es mir vorstellen kann, halte ich es deswegen nicht für wahr. Natürlich halte ich es für möglich und kann es mir grundsätzlich vorstellen, dass die USA unter Präsident John F. Kennedy (1917–1963) die Mondlandung inszeniert haben. Aber trotzdem halte ich die Behauptung für Unsinn. Was die Befürworter an »Belegen« dafür anführen, sind Verdachtsmomente, die sich entkräften lassen: So hinterlässt eine Landefähre auf dem Mond beispielsweise keinen Krater, weil der Mond keinen »durch Wind, Wasser, Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen geformten Mutterboden« kennt, worauf Holm Gero Hümmler hinweist. Es ist ein Felsboden. Dass auf den Mondfotos keine Sterne im Hintergrund zu sehen sind, erklärt sich durch die Einstellungen des Objektivs.6
Also: Unmöglich wäre der Fake nicht; eine Regierung könnte so etwas tun. Vorstellbar ist es auch, schließlich sind Inszenierungen kein Hexenwerk und kommen durchaus vor. Aber deswegen folge ich dieser Theorie nicht. Wenn sich die angeblichen Belege als haltloses Stochern im Nebel entpuppen, ist auch jede Ehrlichkeitsvermutung fehl am Platz.
Anders als bei einem Radiosender oder bei meinem erwähnten Freund zweifle ich bei Verschwörungsgläubigen an der Absenderkompetenz. Warum? Weil Verschwörungsgläubige an Gerüchte glauben und weil sie uns Verdachtsmomente als Belege unterjubeln wollen. Wer bitte ist ernsthaft von Spekulationen überzeugt? Da ist Vorsicht geboten.
Wo genau wir uns zwischen den Polen »extremes Misstrauen« und »extreme Gutgläubigkeit« ansiedeln, hängt also immer auch davon ab, wie geordnet die Menschen denken können, denen wir zuhören, und wie sie sich ihre Gewissheiten bilden.
Stellen Sie sich vor, Sie schauen durch eine Kamera, auf deren Objektiv Sie einen Rotfilter aufgesetzt haben. Was sehen Sie? Einmal ist natürlich alles rot, klar. Aber zugleich ist das, was tatsächlich rot ist, nicht mehr sichtbar. Es ist maskiert, weil es im gesamten Rot untergeht. So hat man in der klassischen Schwarz-Weiß-Fotografie unschöne Rötungen der Haut weggezaubert. Wenn alles rot ist, ist nichts mehr rot. Wenn Sie so wollen, ist das eine beabsichtigte Wahrnehmungsstörung: Der Kontrast ist weg, durch den wir Dinge erkennen.
Im übertragenen Sinne tragen wir jede Menge Brillen mit farbigen Gläsern, die unsere Wahrnehmung filtern. Ich nenne diese Filter »Prämissen« – sie verkörpern sozusagen die Bedingungen, unter denen wir etwas betrachten. Das kann unsere kulturelle Prägung sein oder unsere Art zu denken. Beim Stichwort »Verkehrsunfall« denken Polizeibeamte, Kfz-Mechatroniker und Verkehrsrechtler an unterschiedliche Dinge. Wer davon überzeugt ist, dass ihn alle beobachten, wird möglicherweise allen misstrauen. Wer glaubt, ein großer Finanzcrash stehe bevor, bunkert vielleicht Vorräte für Jahrzehnte.
Eine Prämisse ist also das, was unser Denken bestimmt. Wenn wir nun Gedanken entwickeln, dann ordnen sich diese Gedanken in aller Regel unseren Prämissen unter. Denn die Prämissen geben den Rahmen vor. Alles, was wir denken und entscheiden, findet unter diesen Prämissen statt.
Eine Prämisse kann eine Behauptung sein wie »Reiche Menschen sind durch Ausbeutung zu ihrem Reichtum gekommen« oder eben auch eine Meinung wie »Ich führe mein Leben richtig und alle anderen leben falsch«. Oft genug bilden sich Menschen dann auf der Basis kurioser Annahmen (»Die Regierung ist Teil einer Verschwörung«) Meinungen, die dann erstaunlich felsenfest sind (»Wir müssen Politik und Medien misstrauen«).
Neben der Färbung unserer Wahrnehmung durch derartige »Brillen« gibt es dann noch das Phänomen der selektiven Wirklichkeit: Wir nehmen nur wahr, was wir wahrnehmen wollen oder sollen und blenden alles andere aus. So entstehen Betriebsblindheit und Fachidiotie; und oft auch Arroganz, weil wir unsere Maßstäbe auf andere anwenden und deren Belange ignorieren.
Wobei es normal ist, Dinge auszublenden: Wir konzentrieren uns auf das, was für uns relevant ist und wofür wir uns interessieren. Wer das kulturelle Leben seiner Stadt ausblendet, lebt deswegen nicht in einer Scheinwelt – er interessiert sich nur nicht dafür. In einer Scheinwelt leben wir, wenn wir Dinge ausblenden, die für unser Leben und Denken maßgeblich sind, beispielsweise entscheidende Informationen. Wenn wir Tatsachen ignorieren, die uns zu anderen Gewissheiten und Meinungen führen würden, haben wir es nicht mehr mit einer sinnvollen Informationsauswahl zu tun.
In einer Scheinwelt leben wir auch, wenn wir uns selektiv an unzutreffende Annahmen halten, die wir für Fakten halten, weil sie unsere Prämisse bestätigen – und zugleich alles ignorieren, was dagegenspricht.
Andere Prämissen sind Logiken: beispielsweise die Eigenart, vage Hinweise als Beweise zu bezeichnen. Vielleicht weil wir es nie anders gelernt haben.
Kurz: Prämissen können bewirken, dass wir an Unsinn glauben und uns anhand von Unsinn eine Meinung bilden. Und weil wir es nicht merken, wenn unsere Prämissen falsch sind, erscheinen uns unsere Ansichten völlig normal.
Bei manchen Menschen regt sich hier Widerspruch. Wie können Prämissen falsch sein? Wie kann »nicht stimmen«, woran wir glauben? Der Widerspruch regt sich, wenn Menschen die Wirklichkeit und vor allem auch die Wahrheit für subjektiv oder auch für relativ halten. Denn: Haben wir nicht alle einen anderen Blickwinkel auf die Welt?
Der Gedanke der »subjektiven Wirklichkeit« ist ein Grundgedanke in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Wichtige Befürworter der Strömung, wonach die Wirklichkeit subjektiv ist, waren beispielsweise der Systemtheoretiker Niklas Luhmann (1927–1998) und der Vertreter des »Radikalen Konstruktivismus« Paul Watzlawick (1921–2007). Grob gesagt konstruieren wir unsere Wirklichkeit gemäß dem »Radikalen Konstruktivismus« selbst. Doch ob Watzlawick seine Steuerbescheide als »subjektive Wirklichkeit« irgendwelcher Finanzbeamten zurückgewiesen hat? Ich schätze: nicht.
Und was ist, wenn es regnet? Sie und ich sind in derselben Straße, Sie sind im Haus und ich sitze draußen im Auto. Sie sehen den Regen durchs Fenster und freuen sich, dass Sie heute den Garten nicht gießen müssen. Ich denke an den Bremsweg meiner Reifen. Dass wir die Wirklichkeit unterschiedlich erleben, mag stimmen, und dieses unterschiedliche Erleben können wir als »subjektive Wirklichkeit« bezeichnen. Aber dass es regnet, bestätigen wir doch beide, oder? Ist der Regen also nicht eine objektive Realität?
Apropos Auto: Haben Sie eine Fahrerlaubnis? Dann bewegen Sie sich offenbar souverän in der objektiven Wirklichkeit. Sonst wären Sie vermutlich durch die Fahrprüfung gefallen. Gut, dass Sie die objektive Wirklichkeit erkennen und darauf reagieren. Sonst wäre Ihre Teilnahme am Straßenverkehr ein Risiko für alle.
Mir ist es sehr wichtig, von einer objektiven Wirklichkeit auszugehen. Wir ordnen diese objektive Wirklichkeit subjektiv ein und blenden möglicherweise auch mal etwas aus. Wir schauen durch unsere farbigen Brillengläser und erkennen deshalb verschiedene Dinge vielleicht nicht. Aber, wie Dieter Lange sagt, Weltreisender und spiritueller Coach: Auch wenn wir durch blaue Brillengläser auf eine Zitrone schauen – die Zitrone wird nicht grün. Sie ist und bleibt gelb.
Kennen Sie die alte philosophische Frage, ob der Baum im Wald umfällt, wenn wir es nicht sehen? Die Subjektivisten sagen, wir konstruieren diesen Vorfall als Realität. Na ja. Ob der Baum fällt, soll von mir abhängen? Ist meine Wahrnehmung so wichtig? Demnach wäre die Verschmutzung des Weltalls nicht real, nur weil wir sie nicht sehen. Das fände ich schon etwas ignorant. Demnach gibt es auch keine Radioaktivität, denn für sie haben wir keinen Sinn. Trotzdem entsteht plötzlich Krebs. Oder haben Sie schon einmal einen Todesfall erlebt? Mit dem Tod des Menschen endete seine »subjektive« Wirklichkeit, aber die Welt dreht sich weiter.
Den »Wahrheitsrelativismus«, bei dem wir die Wahrheit als eine Frage der Meinung oder auch des Gefühls ansehen, halte ich in einem Buch über Erkenntnisgewinn und Meinungsbildung für wenig pragmatisch. Denn es gibt durchaus eine objektive Wirklichkeit: Juristen sprechen von »objektiven Tatbeständen«. Ärzte diagnostizieren realen Krebs, Zahnärzte behandeln tatsächlich vorhandene Zahnfleischentzündungen. Naturwissenschaftler weisen objektiv Spuren von Quecksilber im Wasser nach. Auch für Historiker ist der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 nicht subjektiv oder relativ, sondern Fakt.
Wirklichkeit und Wahrheit sind am Ende ganz einfache Dinge. Fast die ganze westliche Welt hält sich bei der Definition der Wirklichkeit an Ludwig Wittgenstein (1889–1951), der die objektive Wirklichkeit die »Gesamtheit aller Tatsachen« nennt. Diese Realität umgibt uns alle. Dazu gehören Erlebtes und Erfahrenes.
In der Praxis halten wir uns außerdem an folgende Unterscheidung:
Würden wir die Wirklichkeit selbst erschaffen, würde eine unwahre Behauptung über die Wirklichkeit die Wirklichkeit verändern. Das tut sie aber nicht. Wir liegen einfach nur falsch.
Was wir hier gerade machen, ist die Basis dessen, was wir zur Meinungsbildung brauchen. Es klingt vielleicht einfach, ist aber wichtig. Zum Beispiel die Feststellung, dass bei der Frage nach Erkenntnissen letztlich nur zwei Zustände zählen:
Es gibt dabei keine Zwischentöne oder Kompromisse. Es mag sein, dass von zwei gemeinsam geäußerten Behauptungen eine zutrifft und die andere nicht (»Die Sonne wärmt die Erde, die um den Mars kreist«), aber dann haben wir es eben nicht mit nur einer Behauptung zu tun, sondern mit zweien. Die sollten wir auseinanderhalten.
Diese Art von »geordnetem Denken« beherrschen die meisten von uns auch, denn die meisten bekommen ihren Alltag gemeistert. Da jonglieren wir eine Menge Dinge und Informationen und entscheiden oft auch auf der Basis unbekannter Variablen.
Zunächst also ist etwas Fakt oder eben nicht. Was unsere Kenntnis der Dinge betrifft, gibt es ebenfalls nur zwei Zustände:
Auch dazwischen gibt es im Grunde keine Grauzone. Wenn wir etwas ahnen oder vermuten, wissen wir es nicht. Wir sind im Bereich der Annahmen. Stellen Sie sich beispielsweise vor, jemand hat Ihren Autoreifen aufgestochen und Sie verdächtigen Ihren Nachbarn. Sie sind sich ganz sicher. Denn schließlich gibt es mit dem Mann immer wieder Streit. Mit niemandem haben Sie so viel Ärger wie mit ihm. Außerdem haben Sie kürzlich sein Kind vom Spielplatz verjagt. Entsprechend können Sie sich vorstellen, dass er es war. Zu Hause entspinnt sich der folgende Dialog:
»Bist du dir wirklich sicher, dass der Nachbar den Autoreifen aufgestochen hat?«
»Wer soll es denn sonst gewesen sein?«
Hier wird klar: Oft halten wir Dinge für »sicher«, die reine Mutmaßungen sind. Das kann gefährlich sein, wenn wir mit dem Verdacht zur Polizei marschieren. Eine Anzeige wegen falscher Verdächtigung (§ 164 StGB) ist kein Spaß.
Unter dem Strich jedenfalls bilden sich Menschen ihre Meinungen anhand dessen, was sie zu wissen glauben, und seien es Falschinformationen.
Auch wenn wir etwas von jemandem erfahren, haben wir es zunächst mit Nichtwissen zu tun. Wir wissen nur, dass jemand etwas sagt. Aber ob stimmt, was er sagt, wissen wir zunächst einmal nicht. Erst wenn wir es gesichert wissen, können wir sagen, dass es zutrifft.
Das gilt vor allem für Dinge, die wir hören oder lesen. Nur was wir selbst durch Erfahrungen erleben, können wir als gesicherte Erkenntnis festhalten: Wir erleben selbst, dass Mittwoch ist, dass der Paketdienst ein Päckchen geliefert hat, dass das Benzin mal wieder teurer geworden ist. Diese Dinge stellen wir dann fest. Eine Feststellung ist im Grunde eine Behauptung über eine Sachlage uns selbst gegenüber. Wir sagen uns selbst, dass etwas Tatsache ist.
Alles außerhalb dieser Erfahrung sehen, hören und lesen wir vermittelt, wir »erfahren« es also nicht von der Wirklichkeit selbst, sondern indirekt – jemand sagt uns etwas, wir lesen etwas, wir belauschen ein Gespräch. Anders als direkt Erfahrenes können wir indirekt Erfahrenes naturgemäß zunächst nicht sicher wissen.
Wie nun können wir klären, ob stimmt, was wir glauben? Damit wir nicht an Unsinn glauben, brauchen wir eine Sicherheitsschleife namens Verifikation. Was wir selbst erlebt haben, müssen wir – zumindest für unsere eigene Erkenntnis – nicht verifizieren, denn wir haben es ja erlebt. Allerdings sollten wir es möglicherweise belegen, wenn wir die Information weitergeben. In jedem Fall sollten wir verifizieren, was wir indirekt erfahren.
Wir sehen also den Preis an der Tankstelle und sagen nicht: »Vermutlich ist das Benzin teurer geworden.« Sondern es ist teurer geworden. Und das sagen wir auch.7
»Wissen« bedeutet dabei die Gewissheit, dass eine Information stimmt. Da genügt keine hohe Wahrscheinlichkeit und auch nicht, dass sich die Behauptung schlüssig anhört und wir uns etwas vorstellen können. Es geht bei der Erkenntnis nicht darum, dass wir uns etwas zusammenreimen. Es geht darum, dass etwas gesichert ist. Bevor wir etwas behaupten, sollten wir es wissen.
Wissen wir etwas nicht, gehen wir aber davon aus, dann »glauben« wir es. Wir halten eine Information für wahr, ohne zu wissen, ob sie wahr ist. Geben wir diese ungesicherte Information weiter, kennzeichnen wir sie als Hypothese oder Annahme, aber geben sie nicht als Fakt aus.
So gehen gläubige Menschen davon aus, dass es einen Gott gibt. Sie haben keinen Gottesbeweis. Sie vermuten auch nicht, dass es einen Gott gibt, sondern sie sind sich sicher. Obwohl sie es nicht wissen. Sie sind davon überzeugt. Also glauben sie.
Zu wissen, dass wir etwas nur vermuten, ist eine wirklich wichtige Schlüsselkompetenz im Umgang mit Informationen: Wir sollten Vermutungen von Tatsachen unterscheiden und uns darüber bewusst sein, dass unsere Annahmen Annahmen sind.
Etwas völlig anderes ist dann die Kommunikation über dieses Wissen und unsere Annahmen. Wenn wir sagen, was wir wissen, mag es für uns selbst eine gesicherte Erkenntnis sein – für andere ist es erst einmal nur eine Behauptung. Und schon unterscheiden sich die Gewissheiten. Gläubige sprechen innerhalb ihrer Gemeinde ganz selbstverständlich von Gott, außerhalb müssen sie erst einmal deutlich machen, dass sie an Gott glauben.
Nehmen wir also an, Sie wissen gesichert, dass Ihr Nachbar Ihren Autoreifen aufgestochen hat. Sie haben es gesehen. Auch können Sie einen Doppelgänger ausschließen, weil der Nachbar keinen Zwillingsbruder hat und nach der Tat mit seinem Haustürschlüssel in sein Haus gegangen ist. Da sind Sie also ganz sicher.
Trotzdem ist die Äußerung aus Sicht der Polizei lediglich eine Behauptung. Und wir wundern uns möglicherweise, dass man uns nicht glaubt, weil wir keine Beweise vorlegen – dabei wissen wir doch, dass stimmt, was wir sagen. Aus Sicht der Polizei ist hier aber noch gar nichts gesichert. Damit die Polizei unser Wissen als Gewissheit akzeptiert, müssen wir es sichern. Es ist ein elementares Prinzip im wissenschaftlichen Denken: Unsere Erkenntnis muss samt Beweisführung für andere nachvollziehbar sein. Das heißt, wir müssen Beweise liefern.
Noch verzwickter wird es, wenn wir Vermutungen kommunizieren. Eine Falle dabei ist, dass Vermutungen und Behauptungen bisweilen gleich klingen. Wir sagen: »Der war das.« Auch wenn wir es nur vermuten. Das ist unsauber, aber so kommunizieren Menschen.
Ob wir es mit einem Fakt zu tun haben oder einer Vermutung, ist an der Formulierung häufig nicht zu erkennen, daher interpretieren wir einen Satz wie »Der war das« erst einmal als Behauptung. Im Grunde müssten wir nach einem Beweis fragen, aber das tun wir oft nicht, und so halten wir eine Vermutung für einen Fakt.
Darum sollten wir Vermutungen kennzeichnen. Waren Sie nicht Augenzeuge, verdächtigen Ihren Nachbarn aber aus anderen Gründen, könnten Sie sagen: »Ich vermute, dass er das war.« Auf diese Weise würden wir keine Gewissheit formulieren, wie wenn wir Zeuge von etwas geworden sind. Stattdessen markieren wir unsere Äußerung ausreichend deutlich als Vermutung.
Vielleicht merken Sie, dass wir es hier mit einer ganzen Menge an unterschiedlichen Ebenen zu tun haben. Was ist die Sachlage? Was wissen wir? Was sagen wir darüber? Und: Welche Meinung haben wir dazu? Lassen Sie uns hier erst einmal für Ordnung sorgen.
Damit wir bei den einzelnen Schritten vom Erkenntnisgewinn zur Meinungsbildung nicht durcheinanderkommen, schlage ich vor, fünf Ebenen zu unterscheiden:
An diesen fünf Ebenen sehen Sie, wie wichtig eine zutreffende Einschätzung der Sachlage ist. Ohne eine zutreffende Gewissheit über die Realität können wir nichts Zutreffendes äußern und uns keine fundierte Meinung über diese Realität bilden. Und ohne eine Meinung zu haben, können wir keine Meinung äußern.
Selbst wenn wir gesehen haben, dass unser Nachbar unseren Autoreifen aufgestochen hat, genügt das nicht als Beweis. Aus Sicht der Behörden ist es lediglich eine Zeugenaussage. Aber ob die stimmt?
Die Sachlage lautet somit aus unserer Sicht: »Unser Nachbar hat unseren Autoreifen aufgestochen.« Aus Behördensicht lautet die Aussage anders: »Der Anzeigenerstatter behauptet, sein Nachbar habe seinen Autoreifen aufgestochen.«
Gefragt sind bei solchen Dingen Beweise. Denn es geht nicht darum, was wir wissen, sondern was wir beweisen. Wir sind bei Ebene 3, also bei dem, was wir über unsere Gewissheiten sagen. Es geht um Tatsachenbehauptungen. Und hier stellt sich die Frage: Was können und dürfen wir sagen und was nicht? Welche Äußerungen sind seriös, welche nicht?
Mir ist bewusst: Die Frage, was wir sagen dürfen, impliziert schon, dass wir nicht alles sagen dürfen. Darauf reagieren manche im Affekt mit Abwehr und berufen sich auf die Meinungsfreiheit nach dem Motto: »Ich lasse mir doch den Mund nicht verbieten!« Diese Herangehensweise ignoriert allerdings einige Details, beispielsweise strafbare Äußerungen. Oder die Frage, ob unwahre Behauptungen von der Meinungsfreiheit geschützt sind. Wir gehen noch darauf ein.
Die Frage ist zunächst: Wer hat den Beweis zu führen? Darauf hat die aufgeklärte westliche Welt eine Antwort: wer die Behauptung aufstellt. Wir sind damit bei einem elementaren Grundsatz des modernen westlichen Denkens: »Wer behauptet, belegt.«
Das leuchtet auch ein: Wer eine Behauptung aufstellt, ist in der Beweispflicht. Wenn also jemand behauptet, wir hätten seinen Autoreifen aufgestochen, muss dieser Jemand das bitte beweisen. Intuitiv ist uns völlig klar, dass es nicht andersherum ist. Die Unschuldsvermutung im Rechtsstaat bewahrt uns davor, dass wir als Beschuldigter unsere Unschuld beweisen müssen, sondern wir gelten erst einmal als unschuldig. Das ist eine Prämisse im rechtsstaatlichen Denken.
Darüber hinaus aber stellt sich die Frage, und zwar nicht nur im Strafrecht, sondern auch in der Wissenschaft: Wer ist in der Beweispflicht, wenn zwei Menschen einander widersprechende Behauptungen aufstellen? Wer muss dann den Beweis antreten? Beide Seiten etwa?
Und da sind wir an einem wichtigen Punkt. Denn nicht beide Seiten müssen den Beweis führen, sondern nur eine. Im wissenschaftlichen Denken kommt es darauf an, wer dem aktuellen Wissensstand widerspricht und etwas behauptet, das die bisherigen Vorstellungen infrage stellt. Den Beweis hat anzutreten, wer eine neue Idee als gesicherte Erkenntnis im Kanon des Wissens verankern will. Wer also eine neue Information als »Wissen« etablieren will, ist in der Beweispflicht.
Maßstab dafür ist der »Stand des Wissens« oder auch der »Stand der Wissenschaft«, der »Stand der Forschung« oder »Forschungsstand« oder auch der »Stand der Wissenschaft und Technik«. Es geht sozusagen um den Status quo, um die aktuelle Erkenntnislage, um den »Stand der Dinge«, um den »state of the art«. Das ist die Gesamtheit aller Erkenntnisse, die auf genau diese Weise gesichert wurden: Wer etwas behauptet, belegt es.
So ist der aktuelle Wissensstand, dass die Erde zumindest ungefähr eine Kugel ist. In keinem Fall ist sie eine Scheibe. Behauptet nun jemand, die Erde sei eine Scheibe, dann widerspricht er dem Stand der Wissenschaft und hat entsprechend den Beweis zu führen.
Die Vertreter des wissenschaftlichen »Mainstreams«, also sämtliche Wissenschaftler, die sich an die bisher gesicherten Erkenntnisse halten, müssen dagegen nichts beweisen – denn dass die Erde eine Kugel ist und keine Scheibe, ist ja bereits gesichertes Wissen. Der Beweis ist längst geführt. Also führen wir ihn nicht noch mal. Dass die Erde allerdings eine Scheibe sein soll, ist noch nicht bewiesen, also möge derjenige diesen Beweis führen, der solches behauptet.
»Zeigt uns einfach das Ufo« lautet also die Überschrift eines Interviews von Bernd Harder, Chefreporter bei der Zeitschrift »Skeptiker«, mit dem Autor Christian Schiffer über angebliche Belege für die Annäherung Außerirdischer an die Erde.8 Und das ist auch Schiffers Appell: Statt die Wissenschaftsgemeinde damit aufzuhalten, sich mit unbelegten Behauptungen herumschlagen zu müssen, haben diejenigen den Beweis zu führen, die die Behauptung aufstellen.
Ein einfaches Prinzip, oder? Es hilft der Wissenschaft, eine Menge Zeit zu sparen und keine doppelte Arbeit zu machen.
Wer den Stand des Wissens infrage stellt, mag durchaus zum Wissensfortschritt beitragen. Allerdings hat er zu beweisen, dass seine neue, abweichende Behauptung stimmt. Und das kommt auch oft vor: Galt in der Medizin eine bestimmte Betäubung oder Narkose als Stand der Forschung, mussten sämtliche späteren Entwicklungen den Beweis antreten, ebenfalls wirksam oder besser zu sein.
Nun stellen Sie sich vor, auf einem Wissenschaftskongress behauptet jemand, seine neue Tablette zerstöre nach nur einer Einnahme nebenwirkungsfrei jeden Krebs. Das wäre eine Sensation, oder? Das Problem ist nur: Der Vortragende präsentiert keinen einzigen Beleg dafür. Er behauptet einfach nur, dass seine Tablette wirkt, er führt keine Studie an. Was würde geschehen?
Die Anwesenden werden sich vermutlich zuallererst ärgern, und zwar vor allem über die verlorene Zeit. Profis reisen nicht zu einem Kongress, um sich halb gares Zeug anzuhören. Laien dagegen – also Menschen ohne Kenntnis des wissenschaftlichen Denkens – lassen das oft mit sich machen: Viele besuchen Veranstaltungen, bei denen Redner Behauptung um Behauptung aufstellen, ohne sie zu beweisen. Oft hagelt es Behauptungen und Andeutungen, und oft sind vollmundig angekündigte Beweise dann doch wieder nur Behauptungen. Ein Laienpublikum ist davon schnell beeindruckt – durch den pseudowissenschaftlichen Anstrich entsteht der Eindruck, es handele sich um eine Weiterbildungsveranstaltung mit intellektuellem Tiefgang. Scharlatane erreichen also durchaus Laien, die vom wissenschaftlichen Denken nicht so viel verstehen.
Profis dagegen fordern, dass der Redner seine Theorie mit Fakten untermauert. Denn der aktuelle Stand ist: Krebs ist medikamentös nicht von jetzt auf gleich heilbar. Weil es darum geht, diesen Stand der Forschung zu erweitern, muss ein Beweis her.
Doch statt seine These zu beweisen, beklagt sich der Vortragende darüber, man beschneide seine Meinungsfreiheit. Jetzt wissen die Wissenschaftler im Raum, dass sie es mit einem Amateur zu tun haben: Es geht nicht um die Meinungen des Referenten, sondern um seine Behauptungen. Und die müssen belegt sein. Ansonsten hören wir bitte den nächsten Referenten.
Dieses Transparenzgebot gehört zum wissenschaftlichen Denken seit der Aufklärung. Die Fachwelt sagt dazu »Reliabilität« und meint damit so etwas wie Nachvollziehbarkeit. Diese Reliabilität ist der Standard, Geheimniskrämerei eher ein Indiz für Scharlatanerie.
Unbelegte Behauptungen, Andeutungen, Gerüchte, Hörensagen, Raunen – alles das verorten wir eher in der Dorfkneipe, daher die Bezeichnung »Stammtischniveau«. Auch Okkultes und Obskures gehört nicht in die moderne Wissenschaft, sondern bestenfalls in die mittelalterliche Alchimie oder in die heutige Esoterik.
Sowohl das Stammtischniveau als auch die Esoterik lehnen seriöse Wissenschaftler als Denkmodelle ab. Journalisten auch. Denn diese Denkmodelle sind wissenschaftsfern, oft wissenschaftsfeindlich und häufig auch wahrheitsrelativierend.
Mit halb garem Zeug werden übrigens auch immer wieder Redaktionen konfrontiert. Wir haben das regelmäßig erlebt: Ohne Termin und ohne konkreten Ansprechpartner kommt jemand mitten im anstrengendsten Tagesgeschäft ohne Rücksicht auf die Zeit der Redakteure mit einem Aktenordner voller angeblicher Beweise für einen riesigen Skandal in die Redaktion und erklärt, das müsse unbedingt in die Zeitung. Jedenfalls war das noch in Zeiten so, als Redaktionen noch keine Security hatten, die Besucher ohne Termin aufgehalten haben.
Was macht eine Redaktion da? Wenn sich dieser »Leser« nicht abwimmeln lässt, nimmt sich jemand die Zeit, schaut die Unterlagen höflich durch und hört sich alles an. Und was soll ich sagen: Im Grunde ergeben solche Besuche nie ein brauchbares Thema. In aller Regel umfasst der Aktenordner keine Beweise, sondern bestenfalls Hinweise, jede Menge zusammengereimte Gedanken und Kopien letztlich unbrauchbarer Quellen. Denn die Leute, die auf solche Art in Redaktionsräume reinmarschieren, haben erfahrungsgemäß selten die nötige Ahnung davon, wie Informationen zu bewerten sind. Sie halten ihre halb garen Ideen für handfest, aber das sind sie nicht.
So gut wie nie gelingt es solchen Besuchern übrigens auch, in wenigen Sätzen zu sagen, worum es ihnen im Kern geht. Sehr viele dieser Hinweisgeber trennen gedanklich nicht zwischen den erwähnten Ebenen: Sie glauben, nur weil etwas ein gewisses Gesamtbild ergibt, was sie sich in ihrer Fantasie zusammenreimen, sei es wahr.
Vielleicht ist das schon einmal ein entscheidender Unterschied in der Herangehensweise an Informationen zwischen Profis und Laien. Es geht nicht darum, jemanden nicht anzuhören. Vielmehr geht es darum, ob wir das, was jemand sagt, seriös verwenden können – also ob sich aus dem vermuteten Wissen eine relevante und vor allem zutreffende Veröffentlichung machen lässt, ob wissenschaftlich oder publizistisch.
Und das ist eben selten der Fall, wenn jemand nicht weiß, dass Behauptungen zu belegen sind und was der Unterschied zwischen einer Annahme und einer Tatsache ist. Manche dieser Hinweisgeber meinen allen Ernstes, eine Redaktion durchforste das gesamte Konvolut und prüfe jede einzelne Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt. Von der Regel »Wer behauptet, belegt« haben die meisten noch nie gehört.
Es gilt also: Wer behauptet, belegt. Das heißt, der Referent mit seiner Krebs-Tablette darf nicht vom Publikum fordern, ihm doch zu beweisen, dass er ein Scharlatan ist. Kennen Sie das, wenn jemand die Beweislast umzukehren versucht? Oft sind es politische oder auch historische Behauptungen, die wir widerlegen sollen, manchmal auch wissenschaftliche, etwa bei der Impfthematik in den vergangenen Jahren.
Stand der Wissenschaft ist hier zum Beispiel: Für Impfstoffe brauchen wir keine Langzeitstudien, weil der Körper mit Impfstoffen völlig anders umgeht als mit Medikamenten. Die einzige Hinterlassenschaft eines Impfstoffs im Körper ist die Immunreaktion – und selbst die verblasst nach einiger Zeit, weswegen wir Impfungen immer wieder auffrischen müssen. Sicher können Impfstoffe Nebenwirkungen haben, doch treten diese in aller Regel bald nach der Impfung auf.9
Vermutlich haben auch Sie die enorme Empörung aus einigen Ecken darüber erlebt, dass »die Pharmaindustrie« sich angeblich der Langzeitforschung verweigere – eine Empörung, die auf einer Falschinformation beruht. Wer behauptet, Impfstoffe könnten ihre Nebenwirkungen auch in ferner Zukunft entfalten, möge diese Behauptung beweisen, weil sie den Stand der Wissenschaft verändern würde. Jede Beweislastumkehr ist hier wissenschaftlich unzulässig. Entsprechend muss nicht die Pharmaindustrie erklären, weshalb sie keine Langzeitstudien macht.
Die Regel »Wer behauptet, belegt« ist eine der wichtigsten Grundlagen für geordnetes Denken und eine sinnvolle Meinungsbildung. Der Rechtsstaat interpretiert die Regel als Unschuldsvermutung: Als »Stand der Dinge« gilt, dass das Individuum unschuldig ist. Wer etwas anderes behauptet, hat es zu belegen. In den liberalen westlichen Demokratien hat das wissenschaftliche Denken auf diese Weise Eingang in die Justiz gefunden.
Wenn wir also gegenüber den Behörden behaupten, unser Nachbar habe unseren Autoreifen aufgestochen, dann zählt im Rechtsstaat nicht, wer welches Parteibuch, welchen Glauben oder welche Hautfarbe hat, sondern es zählt allein der Beweis. Der Rechtsstaat lässt lieber einen Schuldigen laufen, als einen Unschuldigen zu belangen. Im Totalitarismus ist es umgekehrt: Dort zählen Parteibuch, Glaube und Hautfarbe. Dort belangen Regime lieber Unschuldige, als einen Schuldigen laufen zu lassen.
Wenn wir nun im Rechtsstaat zur Behörde gehen und behaupten, unser Nachbar hätte unseren Autoreifen aufgestochen, dann folgt alles Weitere den Prinzipien wissenschaftlicher Wahrheitsfindung. Und dazu gehört das Prinzip »Wer behauptet, belegt«. Wer behauptet? Wir. Also liegt die Beweislast bei uns, weil wir dem »Stand der Dinge« widersprechen, wonach der Nachbar grundsätzlich als unschuldig gilt.
Den Angeklagten seine Unschuld beweisen zu lassen, ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen also eine unzulässige Beweislastumkehr. Und obwohl die Gesellschaft das längst akzeptiert hat, ignorieren heute immer noch zahlreiche Menschen den Grundsatz »Wer behauptet, belegt«. Statt selbst den Beweis für ihre oft haarsträubenden Behauptungen anzutreten, verlangen sie von anderen, diese Behauptungen zu widerlegen.
Daher fliegen Menschen, die im Wissenschaftsbetrieb immer wieder gegen den Grundsatz »Wer behauptet, belegt« verstoßen, irgendwann aus dem Wissenschaftsbetrieb raus. Über Rechtsverstöße sprechen wir dabei selten, meist ist es eine Qualitätsfrage. Die Beweislastumkehr, die im Rechtsstaat mitunter juristisch unzulässig ist, ist in der Wissenschaft methodisch unzulässig.
Aus dem Verbot der Beweislastumkehr ziehen der Wissenschaftsbetrieb und auch die Publizistik den nächsten Schluss: Wer etwas behauptet und sich beharrlich weigert, Belege anzubringen, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Lügner oder Scharlatan. Denn würde stimmen, was er sagt, hätte er schließlich keine Probleme damit, seine These zu beweisen.
Die Anhänger und vielleicht sogar Jünger des Scharlatans wissen das nicht. Sie fressen ihm aus der Hand. Der Scharlatan selbst ist zwar aus der Uni geflogen, weil die Uni ihren Ruf nicht mit unwissenschaftlichen Arbeitsweisen verschmutzen will, aber der Scharlatan verbreitet seine halb garen Behauptungen nun eben in populären Büchern ohne wissenschaftlichen Anspruch. Weil sein Publikum das Konzept nicht versteht, erkennt es in seinem Guru ein Opfer des »Mainstreams«, das zensiert werde.
Das Publikum stört sich auch nicht an anderen Methoden von Lügnern und Scharlatanen wie ihren drei typischen Strategien:
Diese drei Taktiken sind massive Verstöße gegen die Prinzipien des modernen Denkens. Doch immer wieder fallen gutgläubige Menschen darauf herein, Wissenschaftler und Journalisten dagegen eher nicht. Diese Profis beharren auf Beweisen und lassen sich nicht hinhalten – ganz egal, wie laut jemand irgendwelche Vorwürfe formuliert, wir seien misstrauisch und damit unhöflich.
Gerade Beweise zu verweigern und die Leute zugleich in Informationsmassen zu ertränken, erweist sich als sehr wirksame Methode: Statt uns eine uferlose Recherche anzutun, glauben wir lieber, was wir hören, und lassen unsere anerzogene Ehrlichkeitsvermutung entscheiden. Wissenschaftlich-publizistische Profis allerdings wollen es genau wissen und haken immer wieder hartnäckig nach. Diese Hartnäckigkeit entlarvt den Unsinn irgendwann.
Bei allen Ausflüchten sollten wir wach sein und aufs wissenschaftliche Denken verweisen: Nicht die etablierte Wissenschaft muss dem angeblichen Wunderheiler nachweisen, dass er falschliegt. Nein, der Wunderheiler muss beweisen, dass er richtigliegt. Denn er ist es, der mit einer Behauptung etwas möglicherweise Neues liefert, was das bisherige Wissen infrage stellt oder ergänzt.
Aus dem Grundsatz »Wer behauptet, belegt« in Kombination mit der verbotenen Beweislastumkehr sollten übrigens drei Missverständnisse nicht folgen:
Dass uns jemand die nötigen Informationen zur Prüfung verweigert, ist übrigens selten Zufall. Meist steckt eine Methode dahinter. Wir kommen zum wichtigsten Merkmal trügerischer Behauptungen: Sie sind nicht nur unbewiesen – was logisch ist, weil sie ja unzutreffend sind –, sondern sie sind zudem auch nicht prüfbar. Wir können sie entweder gar nicht oder nur mit immensem Aufwand prüfen. Damit lässt sich die Lüge nicht widerlegen. Wir können den Gegenbeweis gar nicht erst antreten.
Bevor wir uns unsere Gehirne verknoten, schauen wir uns ein Beispiel an: Versuchen Sie mal zu widerlegen, dass es außerhalb der Erde Leben im Weltall gibt. Das wird Ihnen nicht gelingen. Sie können außerirdisches Leben nicht ausschließen, denn niemals können Sie das gesamte Weltall durchsuchen. Wir wissen: Dass es außerhalb der Erde Leben im Weltall gibt, wurde bisher auch nicht bewiesen. So steht eine bisher unbelegte Behauptung im Raum, die zugleich unprüfbar ist. Das ist eine geniale Kombination, um Lügen zu verbreiten. Der Lügner schließt damit möglichst sicher aus, dass die Lüge als solche zu entlarven ist. Genau dieses Merkmal mancher Aussagen – unbewiesen und zugleich unprüfbar zu sein – ist unter Wissenschaftlern als sicheres Scharlatanerie-Indiz bekannt. Das Modell ist eine kleine Teekanne.
Stellen Sie sich vor: Irgendwo zwischen Mars und Erde kreist eine Teekanne um die Sonne. Allerdings ist diese Teekanne so klein, dass sie kein Teleskop sichtbar machen kann. Was fangen Sie mit einer solchen Behauptung an? Wir können es nur glauben oder auch nicht. Weder können wir die Existenz der Teekanne belegen noch können wir sie widerlegen.
Nun gehört es zum modernen westlichen Denken, dass wir Dinge nicht einfach glauben, sondern sie verstehen wollen. Dazu müssen wir sie nachvollziehen können. Wer uns das verweigert, handelt nicht wissenschaftlich. Und darum, sagt der Wissenschaftsbetrieb, sind unbelegte und zugleich unprüfbare Behauptungen nicht nur müßig, sondern auch gegenstandslos. Sie sind reine Zeitverschwendung.
Das Modell der Teekanne stammt von dem Philosophen Bertrand Russell (1872–1970). Er sah die Beweislast bei dem, der eine Behauptung aufstellt, und war darüber hinaus der Ansicht, dass sich Behauptungen überprüfen lassen sollten. Nicht die anderen sind aufgerufen, eine neue Idee zu widerlegen, sondern es gilt: »Wer behauptet, belegt.« Wer mit einer neuen Behauptung daherkommt, hat sie nicht nur zu belegen, sondern auch die Beweisführung nachvollziehbar zu machen. In der Wissenschaft bedeutet das oft, alle Unterlagen öffentlich verfügbar zu machen.
Russells Folgerung daraus ist bemerkenswert: Da es weder beweisbar noch widerlegbar ist, dass es diese Teekanne gibt, kann auch niemand beanspruchen, dass ihm jemand diese Geschichte abnimmt.10 Das Modell der Teekanne von 1952 ist Russells überdeutliches Beispiel für eine unbelegte und unprüfbare Theorie, mit der wir uns schlichtweg nicht auseinandersetzen müssen.
Vermutlich hat sich Russell dabei auf einen weiteren wichtigen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker bezogen, nämlich auf Karl Popper (1902–1994). In seinem Buch »Logik der Forschung« beschreibt Popper im Jahr 1935 das Prinzip des »Falsifikationismus«. Demnach sollten sich Behauptungen grundsätzlich falsifizieren, also angreifen lassen. Und damit wir eine Behauptung angreifen können, brauchen wir alle Belege und auch sämtliche Informationen über das Zustandekommen dieser angeblich neuen Erkenntnis. Das meint der Wissenschaftsbetrieb mit der erwähnten Reliabilität, also Nachvollziehbarkeit.
Und das ist außerordentlich konkret gemeint: Lässt sich eine Behauptung grundsätzlich überprüfen? Können wir uns überhaupt damit befassen? Liegen uns alle nötigen Daten vor? Ist die Überprüfung rein praktisch möglich? Erhalten wir Zugang zu allen relevanten Informationen? Oder enthält uns jemand die Unterlagen vor?
Mit seinem Konzept wollte Popper keine neuen Ideen ablehnen. Er wollte lediglich die Qualität der Forschung erhöhen und es ermöglichen, dass die Forschungsgemeinde neue Thesen offen und kritisch diskutieren kann. Da liegen alle Fakten auf dem Tisch. Ein seriöser Forscher hält nichts geheim, sondern sollte vielmehr offen sein für kritische Fragen zu seinen Behauptungen. Er sollte nach Popper sogar von sich aus versuchen, seine Theorie anzugreifen, also nach Irrtümern und Denkfehlern abzuklopfen.
Heute nennen wir ein solches Denken »ergebnisoffen«, also ohne ein »Priming« zugunsten einer bestimmten Idee oder auch Ideologie. Forscher sollten eben unvoreingenommen sein.
Wer seriös arbeitet, hat kein Probleme damit, seine Überlegungen der Kritik anderer auszusetzen – Wissenschaftler kennen die Praxis des Peer-Review« zur Qualitätssicherung. Es ist ein Standard vor jeder Veröffentlichung, den Text erst einmal fachkundigen Kollegen vorzulegen und deren Feedback abzuwarten. Einfach auch, um Wissenslücken und Denkfehler auszuschließen.
Wenn Sie sich das Konzept von Russells Teekanne einmal vor Augen halten, stellen Sie vermutlich fest: Zahlreiche scheinbare Gewissheiten, an die viele Menschen glauben, lösen sich so in Luft auf. Ist etwas unbewiesen und unprüfbar zugleich, sollten wir keine Zeit damit verschwenden. Kennen Sie Menschen, die sich angesichts unprüfbarer Behauptungen tagelang im Internet vergraben, um die angebliche Wahrheit herauszufinden? Das ist im Grunde ein mittelalterliches Vorgehen, an dem die Erkenntnisse modernen wissenschaftlichen Denkens vorbeigegangen sind. Entweder finden wir bei einer Recherche rasch den Gegenbeweis, dann ist die Behauptung Quatsch – oder aber uns will jemand zermürben und verunsichern angesichts schlimmster Unwägbarkeiten in einer obskuren Welt voller übler Geheimnisse.
Bei uns in der Redaktion hießen solche Ideen »Spekulatius« – zu vage, um etwas damit anfangen zu können. Vielleicht ist was dran, aber wenn wir es nicht sichern können, ist die Information wertlos. Was die betreffenden Hinweisgeber dann natürlich empört, weil sie denken, der »Mainstream« lasse sie mit ihrer skandalösen Enthüllung nicht zu Wort kommen oder unterdrücke ihre Meinung.
Halten wir fest: Das Merkmal »unbewiesen und zugleich unprüfbar« ist ein Wesenskern vieler Irrtümer und Verschwörungstheorien.