Einleitung

Am 22. November 2023 hörte ich im Auto den Deutschlandfunk. In der Sendung »Agenda« ging es um die Frage, was wann im Fokus der Medien steht.1 Die Moderatoren Antje Allroggen und Andreas Stopp hatten neben anderen Gästen eine 21-jährige Studentin der bildenden Kunst zu Gast. Diese Studentin sagte zu Beginn der Sendung: »Bei mir gibt es keine Zeitungen zu Hause in meiner kleinen Wohnung. (…) Also, meine Berichterstattung läuft auf jeden Fall nur übers Handy.«

Gefragt nach ihren Quellen antwortete die Studentin: »Ja, tatsächlich Instagram. Die sozialen Medien stehen bei mir da schon an erster Stelle. (…) Auch Radio ist bei mir total weggefallen, seitdem ich nicht mehr irgendwie bei meinen Eltern tatsächlich wohne. Also, ich habe kein Radio zu Hause. Ich fahre kein Auto. Radio spielt tatsächlich leider auch keine Rolle mehr.«

Moderator Andreas Stopp fragte die Studentin: »Haben Sie sich denn heute Morgen (…) ins Bild gesetzt, was über Nacht in der Welt alles geschehen ist? Oder ist das an Ihnen vorbeigelaufen beim Frühstück?«

Die Studentin antwortete: »Ja, tatsächlich mit einem Swipe nach rechts. Links (…) sind dann immer die fünf Schlagzeilen des Tages, die ich auf jeden Fall schon morgens früh mir einmal angucke. Das war es aber tatsächlich. Also bei mir ist das heute Morgen nur (…) ein Überfliegen der Schlagzeilen gewesen.«

Ich saß im Auto und fragte mich: Wie will sich diese junge Frau eine fundierte Meinung bilden über das, was auf der Welt geschieht? Wenn sie ausschließlich Instagram verfolgt, das ihr nur liefert, wofür sie sich ohnehin interessiert, plus ein paar Schlagzeilen?

Vielleicht sagen Sie sich jetzt: Na ja, das ist der Trend. In diese Richtung geht das mit der Nachrichtenauswahl eben. Sie haben recht. Und »früher« war es ja ähnlich: Auch früher haben wir uns selektiv informiert – die einen haben die »taz« und den »Spiegel« gelesen und die anderen »Welt« und »Bild«. Auch dazwischen klafften einst Welten. Aber eines war dann doch anders: Sowohl »Bild«- als auch »taz«-Leser waren über die Nachrichtenlage immerhin einigermaßen zutreffend unterrichtet. Wenn auch unterschiedlich gefärbt.

Nur: Von welcher Qualität sind die Meinungen ahnungsloser Menschen? Und wie gehen wir mit der Flut an Desinformation um, die derzeit über uns hereinschwappt?

Ich dachte also über die Qualität von Meinungen nach. Der Ausdruck »Qualität von Meinungen« mag verwundern, aber Sie werden mir vermutlich zustimmen, dass er zutrifft: Ich beispielsweise kann mir keine qualifizierte Meinung über das Fach der erwähnten Studentin bilden, die bildende Kunst. Denn ich habe davon keine Ahnung. Um mich dazu öffentlich zu äußern, bin ich völlig inkompetent. Also maße ich es mir auch nicht an. Zumal jeder Versuch ohnehin peinlich wäre: Alle Experten würden merken, dass ich Unsinn erzähle.

Gegen Ende der Sendung gab die Studentin ein bemerkenswertes Statement ab. Sie sagte im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg: »Diese Komplexität des Themas und wie das auch mit Deutschland, mit unserem Leben zu tun hat, wie das alles zusammenhängt, das war mir davor einfach nicht klar.« Mit »davor« meinte sie »vor der Sendung«. Sie erklärte, sie müsse etwas nachholen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Und: »Ich habe davon nichts gewusst. Das liegt vielleicht auch an meiner Informationsaufnahme.«

Wissen ist die Basis für die Meinungsbildung

Ich fand das erschütternd. Da lädt die Redaktion Gäste ein, um mit ihnen über Themen und Medien zu sprechen, und dann hat einer dieser Gäste überhaupt keine Ahnung davon, was die aktuelle Nachrichtenlage bedeutet. Um dann durch die Sendung zu erkennen, dass es da bisher einen blinden Fleck gab. Vermutlich wäre sich die Studentin ihres blinden Fleckes gar nicht bewusst geworden, wenn sie nicht Talkgast gewesen wäre. Denn Radio – und damit Deutschlandfunk – hört sie ja nicht.

Genau darum geht es mir in diesem Buch: Wie relevant sind unsere Meinungen, wenn wir ahnungslos sind? Wie sicher können wir sein, uns tatsächlich eine solide Meinung zu etwas zu bilden? Bilden wir uns unsere Meinungen auf der Basis von gesicherten Erkenntnissen oder von Halbwissen und Mutmaßungen? Woran erkennen wir gesicherte Erkenntnisse? Was ist der Unterschied zwischen Erkenntnissen und Annahmen? Und was ist überhaupt eine Meinung? Und wie machen wir uns immun gegen Lügen, Desinformation und Unsinn?

»Wie wir uns eine fundierte Meinung bilden«, lautet der Untertitel dieses Buches. Sie fragen sich vielleicht: Genießen wir nicht Meinungsfreiheit und dürfen meinen, was wir wollen? Was fällt diesem Autor ein, darüber zu urteilen, welche Meinungen fundiert sind und welche nicht?

Ich bin mir ziemlich sicher: Das tun Sie auch. Stellen Sie sich vor, ein Freund sagt Ihnen, er finde es schade, dass Martina wegzieht – obwohl Martina das gar nicht vorhat. Wie fundiert ist dann seine Meinung über Martinas Umzugspläne? Nicht sehr. Bei aller Liebe zur Meinungsfreiheit.

Wenn wir uns eine Meinung auf der Basis von Unsinn bilden, zum Beispiel anhand von Fehlannahmen, ist diese Meinung kaum fundiert. Wir dürfen sie natürlich vertreten, aber möglicherweise ist sie dann eben nicht unbedingt sinnvoll.

Und damit sind wir schon bei einer Hauptprämisse dieses Buches: Allem, was wir meinen, liegt irgendeine Sachlage zugrunde. Wenn wir Martinas Wegzug schade finden (unsere Meinung), liegt dem zugrunde, dass Martina wegziehen will (die Sachlage). Hat Martina das gar nicht vor, ist die Meinung, das sei schade, eine Meinung mit falschem »Tatsachenkern«, wie es Juristen nennen. Die Meinung beruht auf einer Fehlannahme.

Insofern sind zutreffende Informationen die Basis für jede Meinungsbildung. Wollen Sie sich Ihre Meinungen auf der Basis von Denkfehlern und Irrtümern bilden? Ich kenne niemanden, der das will. Zugleich fürchte ich, dass immer mehr Menschen genau das tun: Viele Meinungen beruhen auf äußerst wackeligen Annahmen, andere auf Unwahrheiten.

In jedem Fall also sollten die Informationen, die uns zur Meinungsbildung dienen, stimmen. Deshalb sollten wir uns zuerst mit der Frage befassen, was eine gesicherte Erkenntnis ist – nicht, dass wir an Unsinn glauben. Dazu betrachten wir, welchen Informationen und Meinungen wir so ausgesetzt sind, gerade in der öffentlichen Kommunikation. Wie gehen wir damit um? Und danach setzen wir uns mit der Frage auseinander, wie wir uns eine fundierte Meinung zu den gesicherten Informationen bilden, die uns vorliegen.

Medienkompetenz und Informationskompetenz

Derzeit ist viel zu lesen über Medienkompetenz und darüber, dass Jugendliche in den Social Media Fake News erkennen sollen – und wie seriös welche Kanäle sind.

»Medienkompetenz« umfasst nach Dieter Baacke die Medienkritik, die Medienkunde, die Mediennutzung und die Mediengestaltung. Ralf T. Kreutzer, Professor für Marketing, definiert »Medienkompetenz« im Gabler-Wirtschaftslexikon so: »Medienkompetenz beschreibt die Fähigkeit, sowohl die verschiedenen Medienkanäle als auch deren Inhalte kompetent und vor allem kritisch zu nutzen sowie mit und in diesen Kanälen zu agieren.« Für ihn setzt sich Medienkompetenz aus vier Elementen zusammen:

Das sind alles erstrebenswerte Kompetenzen. Wobei ich mich hier nur auf einen Teilbereich konzentrieren will: auf den Umgang mit Informationen an sich. Dabei spielen viele weitere Aspekte eine Rolle:

Medienkompetenz ist fraglos wichtig. Nur geht es dabei meines Erachtens nicht nur um Jugendliche und Social Media. Es geht um die Breite unserer Gesellschaft, in der viele Menschen ohne publizistisches Wissen bei Facebook & Co. Fake News verbreiten, nur weil sie ihnen plausibel erscheinen und ihre Vorstellungen bestätigen.

Daher möchte ich hier einen neuen Begriff vorschlagen: Wir brauchen nicht nur Medienkompetenz, sondern vor allem auch »Informationskompetenz«. Damit meine ich die Fähigkeit, mit Informationen professionell umzugehen – sie treffend einzuordnen und kritisch zu hinterfragen. Stimmt überhaupt, was wir lesen und hören?

Wir alle sind Sender und brauchen publizistisches Handwerk

Gerade weil wir alle inzwischen nicht mehr nur Medienkonsumenten sind, sondern längst auch Multiplikatoren und Sender, ist die Einordnung von Informationen eine Schlüsselkompetenz. Wir senden Blogbeiträge, Podcasts, Facebook-Postings, TikTok-Beiträge und Tweets. Wir teilen auch Beiträge anderer, möglicherweise ohne einschätzen zu können, ob wir Unsinn multiplizieren.

Dass alle senden können, ist prinzipiell eine feine Sache im Sinne einer demokratischen Gesellschaft. Der sogenannte Gatekeeper ist ein wenig in den Hintergrund geraten – der »Torhüter«, der bestimmt, welche Informationen das Licht der Öffentlichkeit erblicken und welche nicht, beispielsweise in Gestalt einer Leserbriefredaktion. Redaktionen erfüllen zwar nach wie vor eine Gatekeeper-Funktion – sowohl die klassischen als auch die »alternativen Medien« entscheiden, was sie bringen und was nicht –, aber grundsätzlich können wir alle heute sofort ein Blog aufsetzen und mit dem Publizieren anfangen. In unserem Blog sind wir der Gatekeeper.

Die Kehrseite dieser Medaille ist eine unfassbare Inflation an Falschinformationen im Internet, auf die wir möglicherweise hereinfallen. Wie können wir ausschließen, Unsinn zu teilen? Wie erkennen wir Desinformation und Propaganda?

Und hier sind wir beim Handwerk der öffentlichen Kommunikation. Dieses Handwerk ist für meine Begriffe entscheidend. Im Grunde brauchen wir alle heute das Know-how der Publizistik. Denn der Glaube an Unsinn und die daraus folgende Meinungsbildung nehmen inzwischen Ausmaße an, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden können. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Februar 2024 halten inzwischen 84 Prozent der Menschen vorsätzlich verbreitete Falschinformationen für ein großes oder sehr großes Problem, 81 Prozent sehen darin eine Gefahr für die Demokratie.3

»Schweigespirale«: Wenn die Minderheit zur Mehrheit wird

Vor der Revolution des Internets war die Kommunikation der meisten Menschen aufs Private begrenzt. Und was im Privaten läuft, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle. Millionenfaches Geschimpfe an Stammtischen blieb über Jahrhunderte ohne Belang, weil jeden einzelnen diffamierenden Spruch nur fünf Leute hörten. Heute verbreitet der Stammtisch seine Inhalte auf zahlreichen Kanälen öffentlich, und die Millionen finden zueinander und vernetzen sich. Und: Die Äußerungen bleiben dokumentiert, als Texte, in Fotos und Videos, und zwar ebenfalls nicht privat, sondern öffentlich.

Anders als beim klassischen Stammtisch, bei dem das Schimpfen mit der Sperrstunde endet und beim nächsten Frühschoppen von Neuem beginnt, knüpfen die Verbreiter von Falschinformationen und auch Hassbotschaften an ihre bisherigen Veröffentlichungen an und bauen darauf auf. Es entsteht der Eindruck einer breiten Bewegung.

Der Effekt erinnert an das Konzept der »Schweigespirale« der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann: Danach wird eine laute Minderheit irgendwann durch Opportunitätsdruck zur Mehrheit, weil die Leute die Minderheit wegen deren Lautstärke als Mehrheit wahrnehmen und sich gerne der Mehrheit anschließen.4

Nun spricht generell nichts dagegen, dass eine Gruppe sich vergrößert und Mehrheiten gewinnt – das ist der Wesenskern der Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet. Nur: Wenn sich eine Gruppe durch Falschbehauptungen und Diffamierungen zur Mehrheit emporarbeitet, sprechen wir von Demokratiegefährdung. Denn wenn diese Gruppe dann die Öffentlichkeit systematisch mit Falschbehauptungen versorgt und die Menschen daran glauben, bildet sich irgendwann niemand mehr eine fundierte Meinung. Wie wir wissen, gibt es solche Regime: Dort gibt es massive Eingriffe in die Meinungsfreiheit, und die Bevölkerung als Opfer ständiger Desinformation ist schlicht nicht im Bilde über die wahren Verhältnisse.

Meinungsbildung anhand von Halbwahrheiten und Lügen

Derzeit sind zahlreiche Agitatoren im Begriff, unsere Gesellschaft mit Unsinn zu füttern und damit politisch handlungsunfähig zu machen. Mit dieser Propaganda verwandt sind interessanterweise die vielen Verschwörungsmythen, die uns derzeit begegnen, so sinnlos sie dem aufgeklärten westlichen Menschen auch erscheinen mögen. Am Ende bilden sich immer mehr Menschen ihre Meinungen anhand einer kruden Mischung aus Halbwahrheiten, Lügen, Verdrehungen, Gerüchten und Verschwörungslegenden.

Insofern ist es heute zentral, dass wir Behauptungen und auch Meinungen professionell betrachten. Wir brauchen die Fähigkeit, Desinformation schnell zu identifizieren – als Gesellschaft, um die Destabilisierung zu stoppen, und als Einzelne, damit wir individuell qualifiziert mitreden können.

Der Kern der Informationskompetenz ist die Fähigkeit, Äußerungen verschiedener Qualität zu differenzieren. Und darum soll es in diesem Buch gehen: Tatsachen, Vermutungen, Meinungen, Perspektiven, Belege, Überzeugungen, Argumente, Unwahrheiten, Lügen, Irrtümer, Denkfehler, Desinformation, Gerüchte, Behauptungen, Andeutungen, seriöse und unseriöse Quellen, qualifizierte und unqualifizierte Äußerungen, Wahrheit, Plausibilität, Propaganda – und so weiter. Wären die Kenntnisse zur öffentlichen Kommunikation in der Bevölkerung stärker repräsentiert, hätten Lügner und Demagogen kein so leichtes Spiel.