Mit einem quietschenden Geräusch öffnete sich die schwere Eisentür des Parks. Die Geocacher starrten gespannt auf ihr GPS-Gerät und nahmen dann Kurs auf die Grabkapelle der Fürsten zu Fürstenberg. Thomas Winterhalter ging voran und betrat als Erster die Anlage, die wie ein verwunschener Garten wirkte. Seine Begleiter betrachteten den dezent angebrachten Hinweis auf dem Emailleschild, das unmissverständlich klarmachte: »Höfliche Bitte, die Parktüre zu schließen!« Sie kamen der Bitte zwar höflich, aber keineswegs geräuschlos nach. Es quietsche erneut und ließ die Geocacher ein wenig erschauern.
Vor ihnen ragte – umgeben von einigen Bäumen – die Gruftkapelle empor, die mit ihrer Kuppel ein bisschen wie eine Miniatur des Petersdoms wirkte. Wie es sich für ein Fürstengrab gehörte, versprühte sie einen herrschaftlichen Glanz, auch wenn der Park mit den Jahren etwas verwildert war. Zur einen Seite hin entspann sich ein undurchdringbares Wirrwarr aus Sträuchern, Büschen und Bäumen, an deren Ende das alte Pfarrhaus durchschimmerte.
Die Geocacher schauten auf ihre Koordinaten: 47° 54' 45''N 8° 34' 14''O. Hier im Park musste der »Cache«, der Schatz, liegen.
Thomas, Johanna, Sandra und Martin gingen entlang der Parkmauer, die an einigen Stellen durchbrochen war und deren Steine sich im Laufe der Jahre steil abwärts in Richtung Donauufer verabschiedet hatten. Die vier Freunde betrachteten die Kreuze, die nicht nur auf die Bestattungen von früheren Fürsten, sondern auch auf deren treue Gönner, Diener und Stallmeister hinwiesen. Ein mächtiger Grabstein zeigte an, dass der Friedhof früher zu einem Kloster gehört hatte: »Hier ruht die gnädige Frau Äbtissin des Klosters Maria Hof Neudingen«.
Als Thomas Winterhalter und seine Schatzsucher plötzlich laute Schreie hörten, erschauderten sie. Doch dann wurde ihnen klar, dass es keine menschlichen Stimmen waren, sondern die Jungen eines Reihers, die auf den Wipfeln eines Parkbaumes saßen und ungeduldig auf Futter warteten.
Die Geocacher untersuchten den Bereich neben der Grabplatte des letzten Fürsten und seiner Gemahlin. Nichts, kein Schatz. Also nahmen sie das leerstehende, halb verfallene Pfarrhaus genauer in Augenschein. Doch sie fanden nichts. Womit im Grunde nur eine Möglichkeit blieb. Entschlossen steuerten sie auf die Gruft zu, die an diesem Tag ausnahmsweise geöffnet war, weil zu Ehren des letzten verstorbenen Fürsten ein Gottesdienst im Park abgehalten werden sollte. Auf dem Weg dahin kam ihnen in einiger Distanz ein früher Spaziergänger entgegen, der sie im Vorbeigehen jedoch nur schweigend musterte.
Thomas, dessen ohnehin immer rötliche Wangen vor Aufregung glühten, war auch der Erste, der die Kirche betrat, die an diesem besonderen Tag ebenso wie das Fürstengrab prächtig mit Blumenschmuck ausstaffiert worden war. Durch den Saal unter der Kuppel zogen zarte Dunstschwaden, die das einfallende Licht noch heller erscheinen ließen.
Aus der Mitte der Kirche strahlte den Geocachern zudem ein glitzernder, kugelartiger Schäppel entgegen. Sie dachten, sie hätten den Schatz gefunden, und liefen zu der glitzernden Kugel. Doch dann erkannten sie, dass eine auf einer Holzbank liegende Gestalt den Schatz auf dem Kopf trug.
»Da liegt eine Leiche!«, rief Thomas mit einer Mischung aus Schock und Begeisterung.
»Eine Leiche? Mach jetzt bitte keine üblen Scherze …«, flüsterte Johanna.
Als würde man heute nicht den Todestag des Fürsten begehen, sondern eine neuerliche Bestattung zelebrieren, lag die Gestalt unter der mächtigen Kuppel aufgebahrt da – mit gefalteten Händen und in Tracht gekleidet.
Genauer gesagt war es die Frauentracht aus dem ehemaligen Herrschaftsgebiet der Fürstenberger im Kinzigtal: mit einem Tschobe, einer schwarzen, kurzen Jacke, die an den Ärmeln mit Elfenbeinknöpfen ausstaffiert war. Darüber trug die aufgebahrte Gestalt ein fransiges Seidentuch, das mit Blumenmotiven reich bestickt war. Auch die Seidenschürze war mit Blumenmotiven verziert. Unter ihr schauten die mit weißen, dicken Strümpfen bekleideten Beine hervor.
»Die wollten es wohl besonders gruselig machen und haben hier extra eine Figur aufgebahrt. Vermutlich eine Puppe aus irgendeinem Trachtenmuseum. Großartige Idee«, flüsterte Sandra.
»Ja, die haben sich echt was einfallen lassen. Cool«, sagte Thomas und machte einige Selfies von sich und der aufgebahrten Gestalt, mal alleine, dann zusammen mit Sandra, Johanna und Martin.
»Krasse Idee.« Martin begann, die Gestalt in Frauentracht genauer zu betrachten.
»Ich stelle die Fotos gleich mal bei Facebook und Instagram ein«, sagte Thomas begeistert.
»Das ist doch hoffentlich auch wirklich eine Puppe?«, fragte Johanna etwas unsicher, als das Fotoshooting beendet war.
Thomas erwog, die Puppe anzufassen, zögerte aber. Seinen Begleitern ging es nicht anders, woraufhin sie ihre Stimmen weiter dämpften.
»Wirkt eher wie ein Mann als eine Frau«, sagte Sandra nach einer längeren Pause.
»Ist aber definitiv eine Frauentracht«, flüsterte Johanna.
Thomas zuckte mit den Schultern.
»Wahrscheinlich hatten sie nur eine Männerpuppe zur Hand und haben sie in die Tracht gesteckt.« Er deutete auf den Kopfschmuck der Figur. »Unser Schatz ist wahrscheinlich der Schäppel. Ist übrigens die Fürstenberger Tracht.«
Thomas’ ganze Familie war im Trachtenverein Linach aktiv.
Sein Vater, im Hauptberuf Kriminalhauptkommissar bei der Mordkommission Villingen-Schwenningen, hielt ihm immer wieder Vorträge über Schwarzwälder Trachten. Und diese hier war neben der weltbekannten Bollenhuttracht die prächtigste.
»Die Leiche wirkt tatsächlich ganz schön echt«, sagte Thomas dann und schaute auf das fahle Gesicht. »Sie ist wirklich gut gemacht.«
»Vielleicht ist es keine Puppe, sondern ein Schauspieler«, warf Sandra ein.
Sie standen nun etwa drei Meter entfernt.
»Und wahrscheinlich springt der gleich auf und erschreckt uns.«
Thomas riss sich zusammen, trat zum angeblichen Toten hin und strich ganz vorsichtig mit seiner Hand über die Wange.
Er bemerkte einen Geruch, den die reglose Gestalt zu verströmen schien. Ein vertrauter Geruch, trotzdem kam er nicht darauf, was es war. Knoblauch?
Doch er hatte nun ganz andere Sorgen.
»Fühlt sich tatsächlich echt an, weich«, sagte er dann. »Und etwas kalt.«
Thomas rüttelte an der Gestalt. Nichts.
Dann noch mal. Als sie sich erneut nicht bewegte, erschrak er.
»Das ist …«, setzte er dann stockend an und ging nun wie die anderen auf Abstand, »… das ist, glaube ich, ein echter Mensch. Also, eine echte Leiche.«
Johanna stieß einen Schrei aus, der gespenstisch durch die Gruft hallte.
Dann kam Bewegung in die kleine Gruppe: Sie rannten aus der Gruft und hielten erst an, als sie das quietschende Parktor erreicht hatten.
»Thomas, wir müssen die Polizei rufen. Telefonier am besten gleich mit deinem Vater«, schlug Martin keuchend vor.
Und Thomas nahm das Handy und wählte den Eintrag »Bapa«.