Marie drückte das Gaspedal auf der kurvigen Straße bis zum Anschlag durch. Es brauchte schon die gesamte PS-Zahl ihres metallicroten Fiat Panda, um diesen Berg zu erklimmen. »Eleganza« hieß das Modell, Baujahr 1992. Aber wenn man ehrlich war, schien die Eleganz des Wagens irgendwann um die Jahrtausendwende verflogen zu sein.
Mit einem Finger schob Marie ihre Brille zurück auf die Nase. Eigentlich konnte sie hervorragend sehen, aber die Fensterglasbrille verlieh ihr eine gewisse Seriosität, jedenfalls hoffte sie das. Ihr Gesicht – große braune Augen, leichte Stupsnase und ein Hauch von Sommersprossen – führte dazu, dass die Leute sie gerne für jünger hielten, als sie eigentlich war. Besser gesagt: für jünger und unerfahrener. Ein süßes, nettes Mädchen. Was zum einen nicht stimmte, und zum anderen in ihrem Job nicht gerade vorteilhaft war. Daher die Brille.
Heute, an ihrem ersten Arbeitstag, trug sie ein halbwegs konservatives Outfit. Schwarze Jeans und eine kurzärmlige Bluse mit Paisleymuster, die locker fiel und somit alles verhüllte, was verhüllt werden sollte. Ihre schulterlangen braunen Locken hatte sie offen gelassen, was sich jetzt allerdings als Fehler erwies. Denn der Fahrtwind wehte ihr immer wieder einzelne Strähnen ins Gesicht. Sie hatte die Fenster ganz heruntergekurbelt, um die frische Schwarzwaldluft einzuatmen.
Diese Luft war eine wahre Wohltat im Vergleich zu dem Großstadtmief, den sie während der letzten zehn Jahre eingeatmet hatte. Von der berühmt-berüchtigten »Berliner Luft« hatte sie schon länger die Nase voll gehabt. Immer wieder hatte sie sich dabei ertappt, wie sie sich in Berlin nach dem Schwarzwald zurücksehnte, wo sie vor fünfunddreißig Jahren geboren worden und anschließend aufgewachsen war. Als Jugendliche waren ihr der Schwarzwald eng und seine Bewohner engstirnig vorgekommen. Doch jetzt, auf ihrer Fahrt durch den Fichtenwald, verspürte sie Ruhe, Klarheit. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen zurückzukehren. Auch wenn diese Entscheidung nur … na ja, halbwegs freiwillig gewesen war.
Marie ließ das Pedal zurückschnellen, um es kurz darauf erneut bis zum Anschlag durchzudrücken. Sie wollte noch den einen oder anderen Stundenkilometer mehr aus ihrem Gefährt herausholen.
Die kleine Schwarzwald-Puppe mit Bollenhut, die am Rückspiegel hing und die ihr ihre Mutter zur Rückkehr geschenkt hatte, zappelte hin und her.
Gleich würde Marie die Bergkuppe erreichen. Danach konnte sie ihren Eleganza mit etwas mehr Tempo in Richtung Villingen-Schwenningen, ihrer alten Heimatstadt, rollen lassen. Sie schaute auf das Tachometer. Knapp über fünfzig zitterte der Zeiger herum.
Für die Großstadt und die dortigen Parkplatzprobleme war ihr kleiner Fiat Panda genau das richtige Gefährt, für die Berge und Täler des Schwarzwalds eher weniger. Sie sollte sich bald mal nach einem PS-stärkeren und vor allem neueren Gefährt umschauen, wenn sie besser vorankommen wollte.
Und das wollte sie auch heute schon, denn sie war nach einem Zwischenstopp und einer Übernachtung bei einer Freundin in Freiburg schon etwas spät dran. Dabei war es ihr erster Tag in der neuen Dienststelle bei der Kriminalpolizei VS, wie die Doppelstadt abgekürzt hieß.
Aber sosehr sie sich über ihre Verspätung ärgerte – ein wenig erleichtert war sie doch, dass sie den Dienstantritt noch etwas hinauszögern konnte. Sie fühlte sich plötzlich zurückversetzt in ihre Kindheit – war ein wenig das kleine, aufgeregte Mädchen, das eine neue Schule besuchte.
Und egal wie es auf der »neuen Schule« werden würde – klar war, dass sie in die »alte Schule« nicht mehr zurückkehren konnte.
Niemals!
Wieder begannen die Bilder in ihrem Kopf abzulaufen, und sie durchlebte noch einmal den schrecklichen Augenblick, der das Ende ihrer Berliner Lebensphase eingeläutet hatte: die wilde Verfolgungsfahrt durch die Straßen der Hauptstadt, das Heulen der Sirenen und das Blaulicht, das entlang der Häuserfluchten in Friedrichshain zuckte. Dieser verdammte Kopf der Dealerbande, hinter dem sie schon seit etlichen Wochen her waren, in seinem AMG. Das Quietschen der Reifen, als Marie ihr Dienstfahrzeug quer stellte und zusammen mit dem Kollegen Gartmann den Flüchtigen mit gezogener Waffe stoppte. Das Klicken der Handschellen, das Gesicht des Kripochefs, der sich vor Ort den Ermittlungserfolg anheften wollte, weil sicher gleich schon die ersten Medienvertreter auftauchen würden.
Und dann der Knall, der verfluchte Knall, den ihre Pistole verursachte. Marie kam es so vor, als würde sie den Flug des Projektils noch einmal in Zeitlupe mitverfolgen können. Wie es sich löste, die Luft durchschnitt und das Gesäß ihres Kripochefs ansteuerte, um dort mit voller Wucht einzuschlagen. Auch das anschließende Aufheulen ihres Chefs und das der Krankenwagensirene gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Fast jede Nacht sah sie diesen Film. Immer und immer wieder.
Ausgerechnet ihr war das passiert. Ihr! Der Ermittlerin mit der höchsten Aufklärungsquote in der Dienststelle, der »Klassenbesten« sozusagen. Doch mit dem verdammten Schuss war das passé gewesen.
Den Vorfall hatte die Berliner Boulevardpresse genüsslich ausgeschlachtet. Die Schlagzeile hatte sich ebenfalls in ihrem Gedächtnis eingebrannt: »Volltreffer: Kommissarin ballert Kripochef in den Po!«
Das anschließende Disziplinarverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung hatte sie noch einigermaßen gelassen ertragen. Aber der zusätzliche Hohn und Spott einiger Kollegen in der Dienststelle war schwer zu ertragen gewesen. Besonders dieser neue Spitzname, den sie ihr verpasst hatten. War sie früher wegen ihrer Herkunft halbwegs liebevoll »Schwarzwaldmarie« genannt worden, nannte man sie jetzt »Schützin Arsch«.
Letzten Endes hatten die Neider gewonnen. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ertragen. Sie musste weg. Ganz weit weg. So hatte sie mit ihrem Berliner Leben Schluss gemacht. Und auch mit ihrem Freund. Aber das war eine andere Geschichte …
Sie hoffte, dass die neuen Kollegen im Schwarzwald von dem Vorfall nichts mitbekommen hatten. Und wenn doch, dass sie die Sache diskret behandeln würden. Ihre neue Chefin hatte ihr das schon mal versprochen. Aber das Internet vergaß ja bekanntlich nichts, auch wenn ihr Nachname damals abgekürzt worden war.
Marie drückte aufs Gaspedal. Jetzt galt es, mit Schwung die Straße Richtung Herzogenweiler zu nehmen. Der Tachometer-Zeiger hatte schon die siebzig Stundenkilometer erreicht, als sie einen erneuten Flashback erlitt und wieder in ihren Albtraum zurückkatapultiert wurde. Sie durchlebte zum sicher fünfhundertsten Mal die Sequenz, wie das Projektil in das Gesäß ihres Chefs einschlug. Ein schauderhafter Anblick.
Und noch schauderhafter war, was daraufhin folgte. Denn plötzlich sah Marie rot. Tatsächlich rot. Blut!
Und hörte wieder einen fürchterlichen Knall.
Sie konnte kurzzeitig nicht sagen, ob das Blut und der Knall Bestandteil der realen Welt oder ihres Albtraums waren. Panisch drückte sie das Pedal bis zum Anschlag durch. Diesmal aber nicht das Gaspedal, sondern die Bremse. Die Schwarzwald-Puppe am Rückspiegel knallte gegen die Windschutzscheibe, ihre Augen fielen zu.
Krampfhaft presste auch Marie ihre Augenlider zusammen, wünschte sich, dass das alles nicht echt war und nur in ihrer Vorstellung ablief.
Doch als sie die Augen wieder öffnete, sah sie immer noch rot. Blut hatte sich auf der Windschutzscheibe verteilt. Diese war gesprungen und von tiefen Rillen durchzogen. Marie konnte nicht sehen, von was oder wem das Blut stammte.
Hatte sie einen Wanderer übersehen? Erneut durch eine Unkonzentriertheit einem Menschen Schaden zugefügt? Aber dieser Knall!
War das nicht ein Schuss gewesen? Ein Schuss, der jemanden getroffen hatte, woraufhin das angeschossene Opfer auf ihrer Windschutzscheibe gelandet war?
Aber nein, das ergab doch keinen Sinn. Andererseits: Was hatte in den letzten Monaten schon Sinn ergeben?
Und dann hörte sie endlich auf, rot zu sehen. Denn jetzt wurde ihr schwarz vor Augen.
Als Marie ihre Augen erneut aufschlug, wusste sie nicht, wie lange sie weggetreten gewesen war. Sie wusste nur eines: dass die blutverschmierte Windschutzscheibe kein Albtraum gewesen war. Sie hatte sie noch immer direkt vor Augen.
Nur eines hatte sich verändert: Ihre Fahrertür stand offen.
War sie aufgesprungen? Oder hatte sie selbst sie geöffnet?
Marie versuchte, aus dem Wagen zu steigen, was ihr einen stechenden Schmerz im Nacken bescherte. Sie hielt sich mit einer Hand den Hals, zog sich mit der anderen an der Autotür empor.
Zu ihrer Überraschung war sie nicht allein.
Ein Mann mit grauem Filzhut, grauer Strickjacke und grünen Kniebundhosen stand an der Front ihres Wagens. Trotz des ernsten Anlasses sah er sie mit verschmitztem Blick und geröteten Wangen an und fragte: »Geht’s Ihne guet? I hab grad schon mol nach Ihne g’schaut und ihre Vitalfunktione überprüft. Positiv!«
Ehe Marie antworten konnte, nahm der Albtraum eine ganz neue Dimension an. Der Mann zückte plötzliche eine Waffe. Marie schnappte nach Luft, wollte schon in Deckung gehen. Aber der Kniebundhosenträger richtete die Waffe nicht auf sie, sondern auf etwas, das vor ihrem Eleganza liegen musste. Was es war, konnte Marie nicht erkennen, da sie noch immer reichlich kraftlos an der Fahrerseite stand.
Ihr war aber klar, dass der Mann mit dem etwas rustikalen Aussehen gleich Ernst machen und abdrücken würde.
»Nein«, rief sie noch. »Nicht schießen!«
Nun war sie sich fast sicher, dass das Ganze doch Teil des Albtraums sein musste. Die Schallwellen des Knalls, die den dichten Fichtenwald fluteten, sprachen allerdings dagegen.
Sie schloss die Augen, zählte bis drei und öffnete sie wieder.
Der Mann mit Filzhut und Kniebundhosen war noch da. Der Blick: immer noch freundlich-verschmitzt.
Er sicherte seine Pistole und steckte sie in ein Holster, das sich unter seiner Strickjacke befand.
Dann sagte er trocken: »Des war jetzt mol än saubere Kopfschuss. Ging nit andersch.«
Nun hatte seine Miene etwas leicht Bitteres.
Marie gelang es einfach nicht, diese absurde Szene mit der Realität in Einklang zu bringen. Erst das Blut, dann der seltsame Mann, dann der Kopfschuss auf wen oder was auch immer. Eigentlich war sie sich sicher, dass sie nicht träumte, alleine schon ihre Kopf- und Nackenschmerzen sprachen dagegen. Während sie sich gegen die Autotür lehnte, wurde ihr klar, dass es noch eine weitere mögliche Erklärung gab. Eine, die sehr wahrscheinlich war, weil sie nämlich all das hier erklären würde: Sie war verrückt geworden. Das war mehr als ein Burn-out.
»Sie sind … verhaftet«, flüsterte sie noch, bevor sie wieder zusammensackte.
Als sie wieder zu sich kam, sah sie zwei Uniformen der baden-württembergischen Polizei. Immerhin.
»Geht’s Ihnen wieder gut?«, fragte ein untersetzter, gemütlicher Beamter.
Sie nickte.
Entgegen ihrer Erwartung war der Pistolenmann auch noch da – und zwar keineswegs in Handschellen.
Als eine ihrer Stärken hatte Marie – zumindest bis zu jenem verhängnisvollen Schuss in Friedrichshain – ihre Fähigkeit angesehen, auch unter Stress ziemlich logisch denken zu können.
Sie versuchte es noch einmal, hatte gedanklich eine neue, zumindest annähernd rationale Erklärung für das Geschehen. Mit ein paar unsicheren Schritten trat sie vor und nahm die Leiche in Augenschein.
Tatsächlich: ein Reh!
Das Tier lag aufgrund des Zusammenpralls mit ihrem Wagen und des anschließenden Kopfschusses zusammengekrümmt auf der Landstraße.
Marie wusste nun immerhin, dass sie in der Realität angekommen war. Und sie wusste noch etwas: Wenn sie sich nicht schon seit Jahren strikt gegen Fleischkonsum ausgesprochen hätte – jetzt wäre es so weit gewesen.
Der zweite Beamte, ein etwas jüngerer, drahtiger Kerl, fragte den Filzhutträger: »Musste das jetzt unbedingt sein?«
»Ha klar. Des Viech war praktisch schon dot. Da wär nix mehr zu mache g’wese. Mein Schuss war ä Erlösung für des Reh.« In seiner Miene zeigte sich Bedauern, doch beim nächsten Satz bekam sein Blick etwas Herausforderndes. »Des gibt jetzt en leckere Brate. Da wird sich mei Frau freue.«
Marie musste hysterisch auflachen.
Der gemütliche Streifenpolizist versuchte, sie zu beruhigen: »Das wird schon wieder. Ganz ruhig.«
»Braten! Er denkt jetzt an Braten!«, rief Marie, während sie sich vor Lachen schüttelte. Dann riss sie sich einen Moment zusammen und zischte: »Mörder!«
»Entschuldigung, aber Sie habe des Viech ja wohl umg’fahre. Nit ich. Wenn’s nach mir gange wär, dät des Rehle jetzt unbehelligt im Wald grase. Ich wiederhol’s noch mal: Mein Schuss war für des arme Tier ä Erlösung.«
Er verniedlichte das Reh ganz bewusst mit der Schwarzwaldtypischen »le«-Endung.
Maries hysterisches Lachen setzte erneut ein, und sie stieg in den Streifenwagen. Der gemütliche Streifenpolizist tätschelte ihr tröstend die Schulter.
Es war wohl doch alles etwas zu viel für sie.
Als der Beamte mit Marie langsam davonfuhr, erhaschte sie im Rückspiegel noch einen Blick auf das grauenvolle Spektakel, das sich hinter ihr abspielte: Der Filzhutträger zückte sein Jägermesser und begann an Ort und Stelle, das »Rehle« auszuweiden.
Der jüngere Streifenpolizist hatte angeekelt den Kopf in Richtung Wald abgewandt. Durch das geöffnete Autofenster hörte sie einige letzte Wortfetzen.
»… muss das sein«, stieß der Streifenpolizist hervor.
»Ha klar, jetzt isch des Rehle noch frisch. Umso besser schmeckt’s am End«, entgegnete der Filzhutträger ungerührt.
Zum Glück gab der Beamte, der Marie zur Dienststelle nach Villingen chauffiert, Gas. Gleich darauf war der Schauplatz des Gemetzels nicht mehr zu sehen.