3. Dienstantritt

Als Marie Kaltenbach den weißen, schmucklosen Siebzigerjahre-Bau betrat, hatte sie sich etwas beruhigt, war aber immer noch etwas mitgenommen. Ihr Start in der alten Heimat schien alles andere als rund zu laufen. Sie machte genau dort weiter, wo sie in Berlin aufgehört hatte. Dort hatte sie als »Schwarzwaldmarie« begonnen und als »Schützin Arsch« geendet. Hier wollte sie wieder als »Schwarzwaldmarie« beginnen, schien aber gleich zur »Pechmarie« zu werden.

Kaum hatte sie die Eingangstür hinter sich gelassen, um das Büro ihrer Chefin aufzusuchen, hatte sie ein Déjà-vu: Filzhut, Strickjacke, Kniebundhosen.

Der Träger dieses Ensembles, der mit seinen klobigen Wanderstiefeln den PVC-Flur entlangstapfte, schien nicht weniger überrascht, die junge, aufgeregte Frau vom Unfallort hier zu sehen.

»Aha. Wollet Sie mich jetzt wege Mordes anzeige?«

»Musste das vorhin wirklich sein?«, wiederholte Marie die Frage des Streifenpolizisten von vorhin fast wortgenau.

»Klar, Sie hättet des Reh wahrscheinlich noch wiederbelebt. Ich sag’s Ihne jetzt noch mol: Für des arme Vieh war des ä Erlösung.«

»Vieh!«, zischte Marie. »Schon der Begriff!«

»Das sagt man hier im Schwarzwald halt so«, erklärte der Stiefelträger jetzt in bemühtem Hochdeutsch. »Ich weiß ja nicht, wo Sie herkommen. Aber als Versöhnungsangebot: Sie können gern was von dem Braten abhaben … Schließlich haben Sie das arme Tier ja auch, wie soll ich sagen, erlegt.«

»Sie sind geschmacklos!«, wurde Marie nun noch angriffslustiger. »Nein, vielen Dank. Ich esse kein Fleisch!«

»Aha, eine Vegetarierin?«, fragte der Filzhut- und Strickjackenträger in verächtlich klingendem Ton. »Klar, man darf natürlich keine Tiere töten. Lieber lässt man sie im Straßengraben jämmerlich verrecken.«

»Nein, ich bin Veganerin, falls Ihnen das überhaupt etwas sagt. Das bedeutet, keine tierischen Produkte zu sich zu nehmen. Überhaupt keine! Die machen nämlich krank!«, konterte Marie. »Und das arme Tier hätte man ja wohl auch etwas humaner ins Jenseits befördern können als mit einem Kopfschuss. Man hätte zum Beispiel den Tierarzt rufen und ihn bitten können, es einzuschläfern.«

»Humaner? Ha, wenn ich das schon höre. Im Übrigen: Bis der Tierarzt eingetroffen wäre, gute Frau, wäre das Tier ohnehin längst jämmerlich verreckt.« Er seufzte. »Was für ein Tag: Erst komme ich durch die kranken Viecher auf meinem Bauernhof zwei Stunden zu spät, und jetzt noch eine durchgeknallte Veganerin …«

Bevor ihr Wortwechsel noch schärfer werden konnte, kam ein junger, hagerer Mann um die Ecke. Seine Körperhaltung war ungewöhnlich aufrecht, fast ein wenig steif. Auch seine Frisur wirkte sehr akkurat. Er trug ein Hemd, das so blütenweiß war, dass es fast blendete.

»Ah, ihr habt euch schon miteinander bekannt gemacht?«, sagte er. »Das ist gut.«

»Wie? Bekannt g’macht«?, fragte der Filzhutträger verdutzt. »Ich kenne die Dame nicht.«

»Sie sind doch die neue Kollegin aus Berlin, nicht wahr? Ich hab Ihr Bewerbungsfoto auf dem Schreibtisch der Chefin gesehen«, sagte der junge Mann zu Marie.

Die nickte zögerlich.

Marie und der Filzhutträger schauten sich verdutzt an. Es entstand ein peinliches Schweigen, das der junge Kollege schließlich durchbrach.

»Also: Ich bin Francois Kiefer. Entschuldigen Sie meinen Akzent – ich bin von der Gendarmerie der Region Elsass und im Rahmen eines Austauschs für ein Jahr hier«, sagte er.

»Das macht doch nichts«, scherzte Marie, worauf sie der Elsässer ein wenig irritiert ansah. Okay, er war wohl eher von der ernsten Sorte. Aber wofür entschuldigte er sich denn? Der Mann sprach doch perfektes Hochdeutsch.

»Herzlich willkommen bei uns, Frau Kaltenbach!«, sagte er wie zum Beweis und schüttelte ihre Hand. »Das ist KHK Marie Kaltenbach, die aus Berlin zu uns stößt. Das, liebe Frau Kaltenbach, ist Ihr neuer Kollege Karl-Heinz Winterhalter. Ein echtes Schwarzwälder Original.«

»Original!« Marie spuckte das Wort fast aus, ehe sie sich zusammenriss.

»Also gut: Hallo erst mal.«

Sie machte eine etwas ungelenke, halb winkende Handbewegung. Schon allein, um einen Händedruck mit dem Kniebundhosen-Träger nach diesem wüsten Schlagabtausch zu vermeiden. Doch vergebens.

»Dag«, sagte Winterhalter und streckte ihr demonstrativ die Hand entgegen.

Der kräftige Händedruck des Mannes war schmerzhaft, so, als wolle er sich für den »Mörder« revanchieren.

»Auf gute Zusammenarbeit.«

»Jaja, auf … äh, gute Zusammen…arbeit.«

Heute blieb ihr aber auch wirklich nichts erspart, dachte Marie. Erst das Reh und dann noch dieser Trachten-Kasper und passionierte Tiermörder als neuer Kollege.

Wieder entstand ein peinliches Schweigen, das Kiefer, der Marie aufmerksam zu mustern schien, erneut durchbrach.

»Der Kollege Winterhalter, müssen Sie wissen, ist nicht nur ein echter Schwarzwälder, sondern auch ein sehr guter und akribischer Ermittler. Besonders auf dem Gebiet der Kriminaltechnik. Und im Nebenberuf ist er Landwirt und betreibt noch immer seinen Bauernhof in der Nähe von Linach. Er schlachtet übrigens noch selbst und stellt ausgezeichnete Wurstwaren und Schinken her.«

»Aha? Schlachter also auch noch?«, torpedierte Marie Kiefers Versuch, die Atmosphäre etwas aufzulockern.

»Humaner Schlachter. Ganz human«, antwortete Winterhalter nicht weniger scharfzüngig.

Marie biss die Zähne zusammen und schwieg. »Du kannst übrigens ›du‹ zu mir sagen. Ich bin die Marie«, wandte sie sich dann demonstrativ freundlich dem jungen, elsässischen Kollegen zu.

»Ich … ich bin Francois«, sagte Kiefer und schien etwas verlegen in Richtung Winterhalter zu schauen, der nun die Arme über der Strickjacke verschränkt hatte.

Erneut herrschte Schweigen. Bis plötzlich eine Frau im energischen Tonfall erklärte: »Ah, da ist ja unsere neue Kollegin aus Berlin!«

Frau Bergmann, die Kripochefin, steuerte direkt auf Marie zu. Sie hatte nicht nur eine kräftige Stimme, sondern auch ein forsches Auftreten, das perfekt zu ihrem Aussehen passte: Die Frisur akkurat geformt, beiges Kostüm mit Blazer sowie schwarzen Stilettos. Sie war Ende fünfzig und wirkte ein wenig wie eine deutsche Ausgabe von Maggie Thatcher.

»Ach, Sie haben sich ja schon bekannt gemacht«, wiederholte die Chefin nun fast wortgenau Kiefers Aussage.

»Das kann man wohl so sagen«, sagte Marie und warf Winterhalter einen giftigen Blick zu. »Guten Tag, Frau Kriminaldirektorin Bergmann. Und vielen Dank für den freundlichen Empfang.«

»Ich freu mich, dass es hier wieder mehr Frauenpower gibt. Wir bräuchten noch viel mehr tüchtige, junge Ermittlerinnen wie Sie in unserer Dienststelle.«

»Was hat denn das Geschlecht mit der Güte der Ermittlungen zu tun?«, knurrte Winterhalter, der Diskussionen über Feminismus offenbar wenig schätzte.

»Frauen haben einen ganz anderen Blick auf die Dinge, Kollege Winterhalter. Sie denken auch mal quer, statt immer den gleichen alten Stiefel zu machen«, entgegnete die Bergmann und schob ihre Brille mit dem Zeigefinger das Nasenbein hoch. Dabei fixierte sie Winterhalters klobige Wanderstiefel so, als hätte sie an diesen etwas zu beanstanden.

Winterhalter verdrehte die Augen.

In diesem Moment muhte die Kuh. Es war der Klingelton des etwas in die Jahre gekommenen Handys von Winterhalter.

Die Bergmann quittierte das Muhen nun ihrerseits mit einem Augenrollen in Richtung Marie, die sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte.

Winterhalter ging einige Meter den Flur entlang, um ungestört telefonieren zu können.

»Thomas? Wa isch denn …?«

Nach etwa dreißig Sekunden stapfte der Schwarzwälder Kommissar in seinen Wanderstiefeln wieder in Richtung der Gruppe zurück, das Handy noch immer am Ohr: »Mir sind schon unterwegs. Und bloß nix a’lange. Finger weg von der Leich, hasch du mich verstande?«

Leiche?, dachte Marie.

»Hasch du schon? Ja, bisch du denn noch ganz bei Troscht?«, schallte es durch den Flur. Winterhalter hielt kurz inne und versuchte dann, mit gedämpfterer Stimme weiterzusprechen: »Dann lasst wenigschtens jetzt die Finger von dem Dote. Mir sind glei do. Und«, er machte eine bedeutungsvolle Sprechpause, »Ruhe bewahre.«

Als Winterhalter das Handy in seiner Strickjacke verstaut hatte, meldete er seiner Chefin im feinsten, nahezu akzentfreien Polizistendeutsch: »Leblose Person in der Neudinger Fürstengruft. Ungeklärte Todesursache. Wir sollten gleich los.«

»Und wieso erhalten Sie private Mitteilungen über diesen Leichenfund?«, fragte die Bergmann verwundert.

Winterhalter kratzte sich offenbar etwas verlegen die Stoppeln seines Dreitagebartes.

»Mein Sohn war mit ein paar Freunden beim Geokatsching. Und da haben sie eine Leiche in der Fürstengruft gefunden.«

»Du meinst wohl Geocaching«, korrigierte Kiefer. »Das ist eine Art moderne Schnitzeljagd mit GPS. Also mit Global Positioning System.«

»Jaja«, sagte Winterhalter.

»Ich weiß, was Geocaching bedeutet. Mir brauchen Sie das nicht zu erklären«, sagte die Bergmann und schien Winterhalter einen abschätzigen Blick zuzuwerfen.

»Es handelt sich um ein globales Satellitennavigationssystem zur Positionsbestimmung. Man hat sozusagen einen kleinen elektronischen Kompass bei sich, mit dem man …«, setzte Kiefer, der als Computer- und Technikfreak sehr beliebt im Kommissariat war, zu einer längeren Erklärung an.

»Mich interessiert jetzt ehrlich gesagt mehr, was mit dem ungeklärten Todesfall ist«, mischte sich Marie ein.

Einen Moment befürchtete sie, damit zu weit vorgeprescht zu sein, aber sie bekam gleich verbale Unterstützung von der Bergmann.

»Genau, Kollegin Kaltenbach. Wieso sind Sie eigentlich überhaupt noch hier, meine Herren?«

»Franz, los geht’s«, gab nun Winterhalter das Kommando zum Aufbruch.

»Franz?«, fragte Marie verdutzt.

»Kollege Winterhalter nennt mich so, weil der Name einfacher für ihn auszusprechen ist«, erläuterte der französische Austauschkommissar.

»Ist doch einfacher. Übrigens spreche ich mit dem Kollegen Hochdeutsch, damit er wirklich alles in der Dienststelle versteht«, schaltete sich Winterhalter ein.

»Also ich nenne dich Francois, wenn du einverstanden bist. Und ich komme natürlich mit«, sagte Marie bestimmt.

Die Unterstützung von Frau Bergmann hatte ihr Mut gemacht.

Winterhalter gab sich keine Mühe, sein Unbehagen über die drohende Begleitung der neuen Kollegin zu verbergen.

»Na, Frau Kaltenbach. Jetzt kommen Sie doch erst mal richtig an«, säuselte er. »Schauen Sie sich in unserem schönen Dienstgebäude um. Frau Bergmann gibt Ihnen sicher gern eine Führung. Und wir Männer kümmern uns um schon mal um die Leich«, fügte er in einem Tonfall an, als würde er seiner Tochter erklären, sie solle nun gefälligst zu Bett gehen.

»Papperlapapp«, fuhr die Bergmann ihm in die Parade. »Wir haben Frau Kaltenbach als Unterstützung aus Berlin bekommen. Und zwar ab heute! Also ab sofort! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?!«

Marie konnte sich ein leicht triumphierendes Grinsen nicht verkneifen.

»Jawoll, Chefin!«, erwiderte Winterhalter nach einer kurzen Pause.

Es fehlte nur noch, dass er Frau Bergmann salutierte. Die Ironie im Tonfall des Kollegen wiederum war das Erste, was Marie an ihm gefiel. Dieser Charakterzug war ihr nämlich auch nicht ganz fremd …