»Finger weg und nix anlange, hab ich g’sagt«, schimpfte Winterhalter wie ein Rohrspatz.
»Aber Bapa«, entgegnete sein Sohn Thomas im jammernden Tonfall eines kleinen Jungen, der gerade für etwas ausgeschimpft wurde. »Mir habe doch gar nit g’wusst, dass des ä richtige Leich ischt. Mir dachte, des wär ä Pupp oder so. Irgendwas, das ä andere Geocaching-Gruppe so hindrapiert hat.«
»Ä Pupp«, rief Winterhalter entsetzt, wurde dann aber leiser. »Des isch jo peinlich. Du bisch de Sohn von einem de erfahrenschte Kriminalbeamte. Und du hältscht ä Leiche für ä Puppe und langsch sie au noch an. Des solltescht du wohl besser wisse.«
»Ich hab sie doch nit ang’langt, ich hab sie doch nur ang’stupst.«
»Ang’stupst isch wie ang’langt«, sagte Winterhalter trocken. »Des macht’s jo nit besser.«
Er hatte sich schon seinen weißen Kriminaltechniker-Overall angezogen, bückte sich und schlüpfte nun unter dem Flatterband hindurch, das die Kriminaltechnik am Eingangsbereich der Fürstengruft gespannt hatte. Marie und Kiefer folgten ihm in gleicher Kluft.
Draußen versuchten schon die ersten Schaulustigen, einen Blick auf die Leiche zu erhaschen. Die Kunde schien sich schnell herumgesprochen zu haben.
Einige Streifenpolizisten versperrten aber den Weg und den Blick ins Innere der Kuppelkirche.
Die für diesen Tag geplante Feier im Park würde wohl abgesagt werden müssen.
»Todeszeitpunkt?«, fragte Winterhalter Marie wieder in bemühtem Hochdeutsch, nachdem sie die Leiche in der Fürstenberger Tracht in Augenschein genommen hatten.
Es schien eine Art Prüfung zu werden.
»Scannen kann ich die Leiche leider noch nicht. Ich fürchte, wir werden sie wohl näher untersuchen müssen. Um den exakten Todeszeitpunkt zu ermitteln, schlage ich vor, dass wir umgehend eine Körpertemperaturmessung vornehmen. Ein Grad verliert der Körper eines Toten pro Stunde. Damit werden wir den Todeszeitpunkt in etwa zurückverfolgen können«, antwortete Marie spitz.
»Die Todesursache werden wir wohl auch erst kennen, wenn wir die Leiche genauer untersucht haben. Aber das brauche ich Ihnen als erfahrenem Ermittler ja wohl nicht erzählen.«
»Nein«, entgegnete Winterhalter. »Wir Schwarzwälder sehen nämlich nur so blöd aus!«
»Ich bin auch Schwarzwälderin, falls ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ich bin in Villingen-Schwenningen zur Schule gegangen. Genauer gesagt in Villingen. Und der badische Teil der Doppelstadt liegt ja wohl noch im Schwarzwald. Oder haben Sie da andere Informationen?«
Winterhalter ging nicht darauf ein, blickte sie nur verächtlich an.
Seine schlechte Laune ließ er nun an seinem Sprössling aus, der ein paar Meter weiter hinter dem Flatterband kauerte.
»Wo komme eigentlich die ganze Gaffer her, die mir drauße g’sehe habe? Ich hab doch g’sagt: Zu keinem ein Wort!«
Thomas blickte etwas schuldbewusst drein: »Also, g’sagt habe mir zu niemand was. Aber ganz am Anfang, da … habe mir halt was auf Facebook gepostet.«
»Facebook!« Winterhalter spuckte das Wort regelrecht aus. »Nix läuft mehr ohne den Scheißdreck! Allmählich hass ich des Internet. Hättet ihr heut mol was G’scheites gmacht, anstatt mit diesem Pokemon hier in die Gruft …«
»Geocaching, Bapa …«
Winterhalter wandte sich von seinem Sohn ab und Marie zu: »Ich wollt nicht auf die Minute wissen, wann diese Person ums Leben kam. Das Jahrhundert würd mir in etwa reichen. Liegt die Leiche also schon länger – oder wurde sie hier erst vor Kurzem drapiert?«
»Einundzwanzigstes Jahrhundert, würde ich sagen.«
»Prima«, heuchelte Winterhalter Lob. »Dank Ihnen kommen wir langsam voran.«
Während Kiefer in seinem Overall ziellos in der Gruft umherlief, weil ihm das Geplänkel seiner beiden Kollegen offensichtlich unangenehm war, ging Winterhalter erneut ein paar Meter in Richtung Absperrung.
»Also noch mol von vorn, Thomas: Um wie viel Uhr seid ihr hier rein gekomme?«
»So gege zehn morgens.« Winterhalters Sprössling warf einen Blick auf seine drei Begleiter, die immer noch schockgefroren wirkten. »Mir habe heute ausnahmsweise blau g’macht und sind nit zur FH gegange. Weil die Gruft jo nur heut geöffnet ischt. Deshalb sind mir auch recht früh aufg’standen.«
Ehe Winterhalter seinen Sohn weiter befragen konnte, ging Marie dazwischen.
»Kollege Winterhalter«, sagte sie mit größtmöglicher Bestimmtheit, »lassen Sie mich mit Ihrem Sohn sprechen. Sie scheinen mir befangen …«
Ehe Winterhalter antworten konnte, meldete sich Kiefer zu Wort: »Die Person ist stranguliert worden.«
Er hatte begonnen, die Leiche zu untersuchen, ihren Spitzenkragen angehoben und darunter Striemen entdeckt, auf die er nun wortlos zeigte.
»Die könnten dem Opfer mit einem Seil oder Draht beigebracht worden sein. Der Täter muss ziemlich brutal vorgegangen sein.«
In seltener Eintracht beugten sich nun die drei Ermittler über die Leiche, die ebenso ungerührt wie starr zur Kuppel hinaufblickte.
Winterhalter war der Erste, der wieder zwei Meter nach hinten trat.
»Stranguliert mit Draht oder einem Seil? Deutet auf ein professionelles Vorgehen hin.«
Dann schaute er wieder auf die Leiche. »Das ist doch unzweifelhaft ein Mann. Warum trägt der dann aber eine Frauentracht? Wir sind doch hier nicht in Berlin.«
Der Seitenhieb galt natürlich Marie.
»Oder bei eurer Fasnet«, warf Kiefer ein.
»Bei der Fasnet würd wohl kaum ein Mann die Tracht einer Frau anziehen«, widersprach Winterhalter.
»Transsexualität gibt es eben inzwischen überall. Selbst auf dem Dorf«, kommentierte Marie.
Ehe die beiden Kampfhähne wieder aneinandergeraten konnten, mischte sich Thomas ein: »Vielleicht hät mer ihm die Frauentracht auch erscht nach seinem Tod a’zoge – und ihn dann hier reing’legt.«
»Des könnt sei – und isch auf jeden Fall än bessere Beitrag als alles, was von seller Dame dort kommt.« Winterhalter kratzte sich nachdenklich am Kinn und sagte dann zum elsässischen Kollegen Kiefer wieder betont hochdeutsch: »Die Hände einpacken!«
»Bitte?« Marie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß ja nicht, liebe Kollegin, wie Sie in Berlin bei so einem Fall verfahren, aber wir hier im Schwarzwald sind akribische Schaffer, wie man so schön sagt. Wir sichern jetzt jeden kleinsten Fitzel, der einen Hinweis auf den oder die Täter geben könnte. Als Erstes packt Kollege Kiefer die Hände des Opfers in Pergamintüten ein, damit wir später die Fingernägel auf Spuren untersuchen können, die wiederum auf de Täter Hinweise geben. Ist ja selbstverständlich, dass …«
»Schon klar. Sie brauchen mir das Einmaleins einer Ermittlung nicht zu erklären. Auch wir in Berlin haben schon mal von Kriminaltechnik gehört«, unterbrach Marie und wunderte sich selbst über das »wir in Berlin«.
Sie war offensichtlich noch nicht wieder im Schwarzwald angekommen.
Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, fixierte sie Winterhalter: »Was soll ich also Ihrer geschätzten Meinung nach tun?«
Der Kommissar lächelte verschmitzt, was seine mit feinen Blutäderchen durchzogenen Wangen hervortreten ließ.
»Tja, wir fangen mit der Drecksarbeit an, würde ich mal sagen.«
Er zog aus einem der Kriminaltechnikkoffer ein Fieberthermometer hervor, hielt es Marie direkt vors Gesicht. »Fieber messen, bitte. Der Kollege Kiefer hilft Ihnen, die Leiche umzudrehen.«
Wenn Winterhalter sich erhoffte, sie damit zu schocken, hatte er sich getäuscht.
»Na klar doch, sehr gerne«, sagte Marie in einem freundlichen Singsang.
»Und was gedenken Sie in der Zwischenzeit zu tun?«
»Ich schau mal, ob ich Spuren für daktyloskopische Untersuchungen sichern kann. Vielleicht hat der Täter ja Fingerabdrücke hinterlassen.«
Winterhalter begann, die Umgebung der Leiche zu untersuchen. Nach einer Weile sah er auf. »Riecht hier ganz schön nach Knoblauch, ist Ihnen das auch aufgefallen?« Bevor Marie und Kiefer etwas antworten konnten, fuhr er auch schon mit seinem Monolog fort: »Hat der Mann kurz vor seinem Tod eine stark gewürzte Mahlzeit gegessen? Auch das könnte natürlich ein wichtiger Hinweis sein … Kiefer!« Als der Kollege ruckhaft den Kopf hob, befahl Winterhalter: »Sorgen Sie dafür, dass bei der Obduktion der Mageninhalt des Opfers besonders sorgfältig untersucht wird.«
Kiefer nickte. Nachdem er die Hände fertig verpackt hatte und die erste Temperaturmessung bei der Leiche vorgenommen worden war, begann er, die Leiche mit Folie abzukleben.
Obwohl Kiefer erst einige Monate bei der deutschen Kripo war, waren die beiden Kommissare schon ein eingespieltes Team, wie Marie bemerkte. Während Kiefer die Folie auftrug, nummerierte Winterhalter die einzelnen Folien. Am Ende des Vormittags sah der Mann in Frauentracht aus, als habe man ihn für eine Paketversendung fertig gemacht.
Marie nahm sich derweil grimmig vor, den Fall zu lösen.
Notfalls im Alleingang.