5. Entspannung

Das Ticken beruhigte.

Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Winterhalter saß in seinem rustikalen Sessel in der guten Stube, die schuhlosen Füße weit von sich gestreckt, eine graubraune Strickjacke an.

Die Kuckucksuhr in der Nähe des Herrgottswinkels tat das, was sie schon immer getan hatte – und Winterhalter war dankbar dafür.

Was für ein Tag! Erst der Unfall mit Gnadenschuss, anschließend der erdrosselte Mann in Frauenkleidern. Und zu allem Überfluss war nun auch noch Thomas in den Mordfall verwickelt. Das weitaus Schlimmste aber: die neue Kollegin.

Winterhalter hielt sich für einen gutmütigen, kollegialen Beamten, einen »Teamworker«, genau wie es Frau Bergmann immer forderte.

Und er war weiß Gott schon mehrfach auf die Probe gestellt worden, zuletzt jahrelang mit seinem phobischen Kollegen Thomsen, bei dem die norddeutsche Herkunft noch eines der geringeren Probleme gewesen war. Thomsen hatte Winterhalter mit seinen Zwängen schier zur Weißglut getrieben, doch selbst mit diesem psychisch labilen Kollegen hatten sie einige Mordfälle gelöst.

Während die Uhr weiter tickte, breitete sich in Winterhalter das Erstaunen darüber aus, dass er den ungeliebten Thomsen nun fast schon vermisste. Aber irgendwann war es nicht mehr gegangen. Der Kollege hatte aufgrund seiner immer schlimmer werdenden Phobien stationäre psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen müssen.

Er würde ihn mal besuchen, nahm sich Winterhalter vor. Irgendwie hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er das nicht schon längst getan hatte. Primär allerdings – und so ehrlich war er, während er im Sessel fläzte –, war diese plötzliche Sehnsucht nach Thomsen der Tatsache geschuldet, dass er nun eine neue Kollegin hatte, mit der er noch weniger zurechtkam als mit dem norddeutschen Kommissar in der Hochphase seiner Zwänge.

Winterhalter war niemand, der zu Verschwörungstheorien neigte, aber inzwischen fragte er sich doch, ob die Bergmann ihm absichtlich eine solche Person zur Seite gestellt hatte, um ihn zu »bossen«. Schließlich gefielen der Chefin etliche seiner Eigenarten nicht. Zum Beispiel, dass er mit seinen Stiefeln voller Stalldreck das Kommissariat verschmutzte. Oder seinen Handel mit Selbstgeschlachtetem von seinem Bauernhof im Polizeipräsidium. Oder seinen Dialekt. Und vielleicht auch die Tatsache, dass er einfach nur ein Mann war.

Nun also musste er sich mit einer Großstadtpflanze herumschlagen, die sich für etwas Besseres hielt. Die aber – und das hatte er schon am Nachmittag über den Flurfunk erfahren – nur hierher versetzt worden war, weil sie in der Hauptstadt einem leitenden Beamten bei einem Einsatz in den Allerwertesten geschossen hatte.

Winterhalter schmunzelte. Er neigte nun wahrlich nicht zur üblen Nachrede, aber es war schon gut, dass man gleich am Anfang etwas gegen die Kollegin in der Hand hatte.

Nur so für den Notfall.

»Transsexualität gibt’s inzwische auch auf dem Dorf«, äffte er den Satz der Kaltenbach in der Gruft nach.

Winterhalter hielt sich im Allgemeinen für einen toleranten Menschen, der jeden nach seiner Façon selig werden ließ. Allerdings war er ganz froh, dass hier in seinem Dorf, in Linach, noch alles auf althergebrachte Weise funktionierte.

Transsexuelle und Veganer sollten in Städten wie Berlin glücklich werden – und auch überkandidelte Kommissarinnen, die nicht in diese Region passten. Da mochte die Kaltenbach zehnmal hier geboren worden sein – das änderte nichts daran, dass sie in der Hauptstadt verdorben worden war, eine Zusammenarbeit mit ihr schwer möglich. Allein schon deshalb, weil sie vorlaut war und keinen Respekt vor erfahreneren Kollegen hatte.

Er starrte auf den dunkelbraunen Holzdielenboden und schüttelte den Kopf.

Da lobte er sich die Beziehung mit seiner Hilde. Sie beide konnten sich auch mal anschweigen, es musste nicht alles ausdiskutiert werden, jeder wusste, wo sein Platz war. Auf dem Bauernhof und auch im Leben. Und immerhin hatte er seiner Gattin den schönsten Liebesbeweis überhaupt erbracht: Er hatte eine seiner Kühe nach ihr benannt.

Sicher war Hilde auch jetzt wieder im Stall, um sich um ihre noch immer kränkelnde Namensvetterin zu kümmern.

»Karl-Heinz«, ertönte es da drei Meter hinter ihm vom Stuhl am Esstisch.

Huch! Er hatte sie gar nicht kommen gehört. Oder saß sie schon die ganze Zeit da?

Er knurrte etwas Undefinierbares.

»Karl-Heinz?«

»Jo?«

Die Uhr tickte weiter, aber mit der Ruhe war es vorbei.

»Mir schwätzet gar nimmer mite’nand.«

Hatte sie seine Gedanken gelesen? Es war doch positiv, dass man nach vierundzwanzig Jahren Ehe nicht mehr so viel reden musste. Oder?

Winterhalter überlegte und brummte dann: »Mir schwätze doch jetzt.«

»Ha, aber schwätze isch nit gleich schwätze«, wandte Hilde ein.

»Über was willsch denn schwätze?«

Er schnaufte hörbar. Das war das, was er nach einem solchen Tag genau nicht wollte. Eine Frau, die ihn nervte.

Er blickte wieder zur Uhr: halb acht.

Thomas war aus dem Haus, vermutlich wieder beim Geocatching oder wie das hieß.

Ein dringend notwendiger Entspannungsabend. Ein bisschen mit seiner Frau reden, dann noch mal in den Stall – und früh ins Bett, denn auf einem Bauernhof begann der Tag früh – bereits vor fünf. Also zu einer Zeit, in der die neue Kollegin wahrscheinlich erst ins Bett ging, ehe sie zum Frühstück gegen zwölf einen glutenfreien Kicherkürbis zubereitete …

»Also, wie war dein Dag?«, machte Winterhalter nun doch den Anfang – in der Hoffnung, dass das Ende auch bald erreicht sein würde.

»Ich war bei de Franziska«, sagte Hilde – und Winterhalter erstarrte in seinem Sessel. Franziska war eine Nachbarin, die ununterbrochen von »persönlicher Weiterentwicklung« faselte. Eine Frau, die sich aufführte, als sei sie weitaus gebildeter und kosmopolitischer als die ganzen anderen Dorffrauen.

»Die Franziska und ihr Mann hän au monatelang nie richtig mehr mit’nander g’schwätzt …«

»Und jetzt?«

Winterhalter war alarmiert. Hatte sich Franziska von ihrem Mann getrennt? Falls ja, konnte er diesem – dem Seiler Helmut – nur gratulieren, aber warum erwähnte Hilde das jetzt? Sie wollte sich doch wohl nicht von ihm …?

Unsinn, er fantasierte. Zur Sicherheit drehte er sich aber rasch um und wartete angespannt auf Hildes Antwort.

Sie war nicht ganz so schlimm, wie er befürchtet hatte. Allerdings auch nicht viel besser.

»Die habet ä Ehetherapie g’macht – und jetzt isch da wieder Harmonie.«

»Die Franziska isch doch eh nit ganz dicht«, platzte es aus Winterhalter heraus, ehe ihm klar wurde, dass das unter diesen Umständen genau die falsche Antwort war.

Er räusperte sich und sagte so ruhig wie möglich: »Aber mir brauchet so was jo nit, oder?«

Hildes Gesichtsausdruck machte ihm Sorgen.

»Es wär wichtig, Karl-Heinz …«

»Jetzt mol ernschthaft, Hilde«, brauste der Kommissar auf und legte los.

In den nächsten Minuten fluchte, schimpfte, spottete er: über Weicheier, Großstadtmarotten, Emanzen und Geldgeier, die mit ihrem hirnlosem Geschwafel Leute einlullten, womit er den von Franziska empfohlenen Paartherapeuten meinte.

Trotz seiner energischen Gegenwehr schwante ihm Schlimmes. So eingespielt und wunderbar geregelt die Dinge im Hause Winterhalter auch waren: Wenn Hildes Gesicht diesen speziellen Ausdruck annahm, würde sie sich nicht von ihrem Kurs abbringen lassen.

Aus Prinzip tobte Winterhalter noch eine Weile weiter, dann ging er in den Stall. Er verfluchte Franziska – und mit ihr seine neue Kollegin Marie Kaltenbach, die auf irgendeine geheimnisvolle Weise mitverantwortlich an den heutigen Schicksalsschlägen zu sein schien. Jedenfalls würde sie sich garantiert ein Grinsen verkneifen müssen, falls sie davon erfuhr.

Deshalb nahm sich Winterhalter Folgendes vor: Er würde dafür sorgen, dass weder die Kaltenbach noch sonst jemand von diesem Wahnsinn etwas mitbekam. Gleich morgen würde er diesen Eheberatungs-Quatsch absagen. Er brauchte nur noch einen guten Grund, Hilde dies zu vermitteln. Er würde noch einen Moment bei den Kühen bleiben. Wenn er ihnen beim Fressen zusah, kamen ihm immer die besten Gedanken.