Die Fahrt der beiden Beamten in Richtung St. Georgen verlief zunächst schweigsam.
»Was machen Sie?«, fragte Marie dann allerdings verblüfft, als Winterhalter von der B33 plötzlich in Richtung Königsfeld abbog.
»Muss noch kurz was erledigen«, brummte er.
Er hatte vorhin von der Toilette aus mehrfach versucht, bei diesem verdammten Psychotherapeuten anzurufen, um den Termin abzusagen, doch niemand hatte das Telefon abgenommen. Wahrscheinlich war er gerade mit anderen bemitleidenswerten Paaren in guten Gesprächen.
Winterhalter hatte daher beschlossen, auf dem Weg zu Schätzles Laden persönlich in der Praxis vorbeizuschauen und diesen Quatsch mit der Ehetherapie ein für alle Male aus der Welt zu schaffen.
Schließlich war höchste Eile geboten. Schon am nächsten Tag sollte der erste Termin stattfinden, wie ihm seine Frau mitgeteilt hatte.
»Geht um einen Fall aus der Zeit, bevor Sie uns die Ehre gegeben haben«, knurrte er in Richtung der Kaltenbach, als sie das Ortsschild von Königsfeld passierten. »Brauche noch die Unterschrift eines Psychotherapeuten. Sie warten bitte im Wagen. Dauert keine fünf Minuten.«
Die neue Kollegin zückte ihr Handy und sagte daraufhin zu seiner Überraschung den ersten einigermaßen privaten Satz: »Dann ruf ich in der Zwischenzeit mal meine Eltern an.«
Winterhalter nickte – auch deshalb, weil er die Praxis des Psychotherapeuten gefunden hatte.
Ein Haus, das skandinavisch wirkte, gemütlich eigentlich, doch eher nicht in den Schwarzwald passte, falls man puristisch veranlagt war.
Das war Winterhalter – doch hatte er gerade weder Zeit noch Muße für Architekturkritik.
Er öffnete die in Regenbogen-Farben gehaltene Tür und trat an eine geschwungene Theke. Niemand da – weder Patienten noch Personal.
Ungeduldig lief Winterhalter herum, blickte sich Bilder an und Zertifikate irgendwelcher Universitäten, die ihm erfunden vorkamen – wobei das auch seinen Vorurteilen gegenüber Psychotherapeuten geschuldet sein mochte.
Das Ambiente hatte nur wenig von einer Arztpraxis. Stattdessen war das alles hier so plump auf Wohlfühlen getrimmt, dass er sich augenblicklich unwohl fühlte. Da war ihm sein steriles weißes Büro doch tausendmal lieber als dieser Raum hier, der wie das Wohnzimmer eine Hippie-Kommune anmutete. Wenn nicht gar das Schlafzimmer. Matratzen in den buntesten Farben, ein nicht minder bunter Tisch und Bilder an den bekritzelten Wänden, die wirkten, als habe der Künstler sie vor fünfzig Jahren auf einem LSD-Trip angefertigt.
Winterhalter ging nochmals auf und ab, rief: »Fräulein!«, womit er die Sprechstundenhilfe meinte, doch war weit und breit keine zu sehen.
Hinter dem großen Hippie-Schlafzimmer wand sich ein schlauchartiger, ebenfalls buntgestrichener Gang, von dem aus mindestens zwei Türen abgingen.
Der Kommissar fluchte in sich hinein.
Kein Wunder, dass hier niemand ans Telefon ging. Sollte er einfach einen Zettel hinterlassen, auf dem er mitteilte, die Therapie-Termine der Winterhalters aus Linach seien hiermit abgesagt?
Oder sollte er diese Villa Kunterbunt durchsuchen, bis er irgendwelche Angestellten fand?
Zwei weitere Minuten wartete er noch, dann betrat er den Schlauch und klopfte an die nach links abgehende Tür. Nichts.
Er versuchte sie zu öffnen – abgeschlossen.
Dann eben nach rechts. Und tatsächlich: offen!
Auch dieses Zimmer zeichnete sich durch seine grelle Farbenpracht aus, fast so, als wäre es Teil einer Therapie gewesen, den Raum möglichst bunt zu bemalen.
Eine Sekunde lang dachte Winterhalter, auch hier sei niemand, doch dann hörte er Gemurmel und sah drei Personen, die sich auf Kissen niedergelassen hatten. Sein plötzliches Erscheinen schien die drei nicht weiter zu stören. Jedenfalls blickte keiner von ihnen auch nur in seine Richtung. Die Frau weinte. Ihr Partner schien so in seine eigenen Gedanken vertieft, dass er auch nicht viel wahrnahm.
»Warte doch bitte vorne«, sagte allerdings die dritte Person, wahrscheinlich der Psychotherapeut, in einem sanften Ton, der reichlich affektiert wirkte. »Ich bin in zwei Minuten bei dir.«
»Sie«, antwortete der Kommissar. »I wollt doch nur …«
»Zwei Minuten«, wiederholte der Sanfte.
Winterhalter schnaufte und ging aus dem mutmaßlichen Besprechungszimmer zurück in den Eingangsraum, in dem er nun blöde herumstand.
Zwei Minuten, sagte er sich und schaute auf die Uhr.
Nach zwei Minuten kam dann auch jemand, allerdings die falsche Person.
Marie Kaltenbach stand in der Tür und fragte: »Und?«
»Gleich«, knurrte Winterhalter.
»Ich möchte mich ja nicht über Gebühr einmischen«, sagte Marie, »aber ich kenne es so, dass bei Mordfällen ziemliche Eile geboten ist. Meinen Sie nicht, wir sollten dann doch eher zügig zur Wohnung des potenziellen Mordopfers fahren?«
Winterhalter schnaufte wieder vernehmlich.
In diesem Moment verfluchte er weniger seine neue Kollegin, sondern mehr seine Frau, die ihm den ganzen Unfug hier eingebrockt hatte. Und natürlich diesen verschwurbelten Therapeuten, der es nicht einmal für notwendig befand, erreichbar zu sein oder wenigstens eine Sprechstundenhilfe zu beschäftigen.
Gerade, als Winterhalter sich entschieden hatte, dieses Unternehmen abzublasen und einfach nicht zum morgigen Termin zu erscheinen, kamen sie: die vormals weinende Frau, die trotz der geröteten Augen selig bis debil lächelte, und der dazugehörige Lebensgefährte – mit einem Blick, aus dem große Erleichterung sprach.
Und natürlich der zottelbärtige Psychotherapeut, der nun Winterhalter und Marie Kaltenbach die Hand gab: »Schön, dass ihr da seid!«
»Ich wollt nur den morgigen Termin absagen«, versuchte sich Winterhalter so kryptisch auszudrücken, dass zwar der Psychotherapeut verstand, worum es ging, die Kaltenbach aber nicht misstrauisch wurde.
»Aha«, sagte der Fusselbart. »Aha.« Er wirkte durchaus freundlich. »Dann kommt doch jetzt kurz mit.«
Das Gesicht der Kollegin war ein einziges Fragezeichen, Winterhalter konnte das in diesem Moment gut nachvollziehen. Er fühlte ähnlich.
Irgendwann auf dem kurzen Weg in den Raum, in den er wenige Minuten zuvor reingeplatzt war, verstand er dann.
Während der Therapeut sich im Schneidersitz auf ein Kissen niederließ und die Kaltenbach es sich – vermutlich aus purer Boshaftigkeit – ebenfalls bequem machte, stand Winterhalter ungeduldig vor den Kissen herum.
»Karl-Heinz Winterhalter. Ich wollt nur den Termin absagen!«
Der Kommissar starrte auf die Haare des Therapeuten, die in einem krassen Gegensatz zu seinem Fusselbart standen. Irgendwie passte da was nicht zusammen. Er betrachtete aufmerksam den Haaransatz, der etwas zu glatt und zu gleichmäßig wirkte, dann noch mal die Haare. Das war doch eine Perücke! Und eine schlecht gemachte noch dazu.
»Das ist keineswegs ungewöhnlich«, sagte der Psycho-Fritze mit sanfter Stimme und fuhr mit Blick auf die Kaltenbach fort: »Beim ersten Mal sind diese Hemmungen durchaus verständlich. Aber jetzt seid ihr ja da – und wir können die erste Sitzung vorziehen. Ich bin übrigens der Robert.«
»Marie«, sagte die Kaltenbach.
»Winterhalter«, sagte er hektisch und wurde nun allmählich unwirsch. »Sie, Robert, ich wollt nur den Termin morgen um halb zwei absage, außerdem habe mir’s jetzt eilig …«
»Wie zufrieden bist du mit dem Sexualleben von euch beiden?«, wandte sich der Therapeut mit der sanften Stimme nun an die Kaltenbach, die ihn mit großen Augen ansah.
»Wann hattet ihr beide denn das letzte Mal lustvollen, auch dich, Marie, befriedigenden Sex?«
Während Winterhalter schockstarr dastand, gab sich seine Kollegin offenbar alle Mühe, nicht zu grinsen, als sie erwiderte: »Ich glaube, noch nie.«
Der Therapeut nickte bedächtig.
Winterhalter war kurz davor zu explodieren.
»Karl-Heinz: Wann hast du denn das letzte Mal Liebe mit dir selbst gemacht?«, fragte der Fusselbart weiter.
»Also …«, stotterte er. »Also …«
»Das will ich gar nicht wissen«, meldete sich die Kaltenbach von ihrem Kissen aus zu Wort.
»Das solltest du aber, meine Liebe.«
Robert wandte sich erneut ihr zu.
Winterhalter brummte der Schädel. Es war eine unglaublich dumme Idee gewesen, hier vor Ort den Termin absagen zu wollen. Das war sein verdammtes Pflichtgefühl. Er hätte einfach seiner Frau klarmachen müssen, dass er für diese Therapie definitiv nicht zur Verfügung stand und dass sie das selbst absagen solle.
»Das ist doch ganz natürlich. Du solltest Karl-Heinz nicht böse sein, dass er sich selbst befriedigt. Das geht nicht gegen dich.«
»Davon gehe ich auch nicht aus«, sagte die Kaltenbach, die inzwischen ganz offensichtlichen Spaß an der peinlichen Situation hatte.
Kein Wunder, es ging ja auch nicht auf ihre Kosten.
»Was würdest du dir denn im Bett von Karl-Heinz wünschen?«, fragte der Therapeut weiter.
»Jetzt reicht’s«, rief Winterhalter so laut, dass selbst der Therapeut aus seiner bräsigen Ruhe gebracht wurde und hochschreckte. »Mir gehet jetzt! Alle Termine von Karl-Heinz Winterhalter bitte streichen. Komm jetzt!«.
Das galt der Kaltenbach, die er im Eifer des Gefechts und zu allem Überfluss nun auch noch geduzt hatte.
Die nutzte die Situation gleich weiter aus.
»Ja, Schatz«, sagte sie süffisant, bevor sie sich dem Therapeuten zuwandte: »Vielen Dank, Robert. Beim nächsten Mal können wir drei hoffentlich etwas länger sprechen …«
»Danke schön, Marie«, erwiderte der und wollte wohl noch etwas sagen, doch das ging im abermaligen Ruf von Winterhalter unter.
»Los jetzt!«