Auf der Weiterfahrt nach St. Georgen wurde ähnlich wenig gesprochen wie zuvor auf dem Weg vom Kommissariat zum Ehetherapeuten.
Einen Unterschied gab es allerdings: Marie schmunzelte auf dem Beifahrersitz vor sich hin, während Winterhalters zuvor schon überschaubar gute Stimmungslage ungeahnte Tiefen erreicht hatte.
»Lassen Sie uns nie mehr darüber reden«, brummte er nur.
Marie konnte sich daraufhin folgende zwei Worte nicht verkneifen: »Ja, Schatz.« Dann wurde sie aber wieder ernst. »Apropos Schatz: Wissen Sie, wo sich der Laden von diesem Peter Schätzle befindet?«
Winterhalter nickte.
Auch dort hatte er heute Morgen schon mehrfach angerufen, ebenso wie unter der Handynummer des Vermissten. Weiter Fehlanzeige.
Als sie vor dem Geschäft in einer Seitenstraße nahe der Stadtkirche ankamen, sahen sie, dass dieses nicht nur geschlossen war, sondern dass auch die Jalousien heruntergelassen waren.
Die beiden Hauptkommissare wollten gerade aussteigen, da meldete sich Kiefer via Funk: »Wie sieht es aus? Frau Kriminaldirektorin Bergmann erwartet einen kurzen Bericht.«
»Wir wurden aufgehalten. Melden uns zeitnah«, knurrte Winterhalter zurück und wuchtete sich aus dem Sitz.
»Schätze bei Schätzle« stand auf dem Eingangsschild. Regelmäßige Öffnungszeiten waren nicht angegeben – es wirkte, als würde der Besitzer in den Laden kommen, wenn ihm gerade danach war. Auf einem weiteren Schild in der Auslage war in graffitiartiger Schrift zu lesen: »Tradition is the Shit.« Offenbar das Motto des Ladens.
»Tradition isch doch kein Scheiß. Was isch des denn für än Idiot?«, ereiferte sich Winterhalter bei dessen Anblick.
»Ach Kollege! Das ist doch eher positiv gemeint – so nach dem Motto: Tradition ist ein geiler Scheiß.«
»Ja klar, Scheiß isch natürlich scho was Gutes …«, motzte Winterhalter und musterte das Geschäft des vermeintlichen Mordopfers.
Wenn er es durch die Jalousien richtig erspähte, war in dem Laden tatsächlich Traditionelles zu erwerben. Trachten, alte Uniformen, Trödel. Daneben gab es aber auch modernere Dinge wie Longboards, die mit Bollenhüten verziert waren.
Es war ein Gemischtwarenladen, aus dem Winterhalter nicht schlau wurde: Gab es dort wirklich Wertvolles? Konnte man mit einem solchen Laden richtig Umsatz machen?
Was ihn aber noch mehr interessierte: Waren die Trachten, die links im Schaufenster hingen, derjenigen ähnlich, die der Tote getragen hatte?
Nachdem seine Kollegin noch ein paar Mal vergeblich die Handynummer des Vermissten gewählt hatte, beschlossen sie, es erst mal mit einer Nachbarschaftsbefragung zu versuchen. Da es keine weiteren Läden in unmittelbarer Nähe gab, klingelten sie an den Haustüren der benachbarten Mehrfamilienhäuser. Vergeblich.
Als sie zum Wagen zurückkehrten, funkte Winterhalter erneut mit Kiefer.
»Auf Facebook verdichten sich die Hinweise, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um diesen Herren handelt«, meldete der.
»Die Trachten hier im Schaufenster ähneln auch der, die der Tote anhatte«, erklärte Winterhalter.
»Und was sagen die Angestellten?«
»Nichts. Wir haben keine angetroffen. Der Laden ist zu.«
»Wir haben übrigens zwei, drei aktenkundige Dinge über Schätzle: kleinere Sachen wie Erregung öffentlichen Ärgernisses, aber auch eine Anzeige wegen Hehlerei.«
Winterhalter blickte wieder auf die Jalousie des Ladens. »Der scheint alles Mögliche aufzukaufen – da wundert mich das nicht.«
»Und eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt.«
»Na, prima: Wo wohnt denn die Familie?«
»Welche Familie?«
»Dann eben die Frau …«
»Welche Frau?«
»Na, die Frau des potenziellen Toten, diesem Herrn Schätzle.«
»Die Anzeige kam von einem Mann – offenbar seinem Ehegatten … Armin Schätzle.«
Winterhalter schnaufte wieder tief durch.
»Tradition is the shit«, murmelte er.
Marie grinste in sich hinein und tippte auf ihrem Smartphone bereits den Namen von Armin Schätzle bei Facebook ein.
Wenig später erblickte sie einen leicht untersetzten Mann mittleren Alters, der herbeigeeilt kam. Er stellte sich ihr und Winterhalter als Armin Schätzle vor.
Marie hatte auf Facebook gesehen, dass der Mann online gewesen war, hatte ihn über den Chat kurzerhand kontaktiert und aufgefordert, sich direkt mit ihr oder der Kripo in Villingen-Schwenningen in Verbindung zu setzen. Einige Minuten später hatte er schon geantwortet, und sie hatten sich kurzerhand vor dem Geschäft in St. Georgen verabredet, zumal Schätzle nicht weit entfernt wohnte.
Nun stand er in einer Art modern interpretiertem Trachtenjanker und Jeans vor ihnen, das Gesicht fahl. Unter seinen Augen zeigten sich dunkle Ränder, und die Augäpfel waren gerötet. Ebenso rötlich war das offenbar gefärbte, schüttere Haar.
»Bitte sagen Sie mir, dass das, was auf Facebook und Instagram behauptet wird, nicht wahr ist«, stieß er hervor und holte ein mit Tannenzapfen-Stickerei verziertes Taschentuch hervor.
»Was wird dort denn behauptet?«
Winterhalter gab sich zunächst bedeckt.
»Dass Pedro tot ist! Ermordet in der Gruft der Fürstenberger.«
Nun begann der Mann zu schluchzen. Er drückte sein Gesicht in das Taschentuch, schaute sich dann etwas verstohlen um.
»Lassen Sie uns bitte reingehen.«
Schätzle schloss die Tür zum Laden auf.
Marie bemerkte, wie Winterhalter kurz das Gesicht verzog. Wahrscheinlich war ihm diese Mischung aus echt Traditionellem und traditionell modern Verkitschtem ein Gräuel.
Nachdem Armin Schätzle die Ladentür wieder abgeschlossen hatte, brach er erneut in Tränen aus. Marie konnte nicht deuten, ob der Zusammenbruch authentisch war. Falls nicht, so musste Armin Schätzle ganz offenbar über schauspielerisches Talent verfügen.
»Bitte entschuldigen Sie. Aber ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan, weil Pedro nicht mehr nach Hause gekommen ist. Ich habe auf ihn gewartet, seit er gestern früh so gegen halb sechs unsere Wohnung verlassen hatte«, erklärte der Zeuge. »Wegen eines geschäftlichen Termins, wie er sagte.«
»Und warum haben Sie dann nicht die Polizei informiert und ihn als vermisst gemeldet?«, fragte Marie und reichte Armin Schätzle ein Papiertaschentuch, da das triefende Stofftuch nicht mehr tauglich für die Tränentrocknung schien.
»Was ist denn jetzt mit ihm?«, fragte Schätzle nach, doch Marie blockte ab.
»Eins nach dem anderen. Bitte beantworten Sie zunächst einmal unsere Frage. Also: Warum haben Sie ihn noch nicht als vermisst gemeldet?«
»Das wollte ich ja eigentlich. Doch ich hatte immer noch die Hoffnung, dass Pedro heimkommt. Er ist halt ein Nachtschwärmer. Es ist nicht ungewöhnlich, wenn er nachts mal wegbleibt. Und da ich schon mal in so einem Fall die Polizei angerufen habe und er darüber sehr ungehalten war, habe ich es diesmal unterlassen und gehofft, er käme bald nach Hause. Was ist denn jetzt: Ist er wirklich tot?«
»Ermordet«, sagte Winterhalter trocken. »Es sei denn, er hat einen Doppelgänger.«
Das hatte er offenbar nicht, denn nun brach Armin Schätzle völlig zusammen.
»In welchem, äh, Verhältnis standen Sie genau zu Herrn Peter Schätzle?«, fragte Winterhalter, als sich der Mann etwas beruhigt hatte. »Sie tragen ja denselben Namen …«
»Wir waren ein Paar. Schon seit vielen Jahren. Und seit letztem Jahr verheiratet. Glücklich«, verkündete Armin Schätzle und schnäuzte sich in das Papiertaschentuch.
»Verheiratet?«, fragte Winterhalter, als sei das etwas Unanständiges.
»Vergangenes Jahr haben wir unsere Hochzeit gefeiert. Es war ein rauschendes Fest im Berghof bei Hammereisenbach. Wir beide trugen rosa Trachten.«
Marie sah aus dem Augenwinkel, wie Winterhalter erneut das Gesicht verzog. Als er bemerkte, wie sein Gegenüber ihn musterte, täuschte er einen kleinen Hustenanfall vor. Sie reichte ihm ein Papiertaschentuch.
Winterhalter tupfte sich damit umständlich am Mund herum. Dann riss er sich wieder zusammen.
»Also, dann, äh, gratuliere ich nachträglich noch Ihnen und Ihrem …«, Winterhalter suchte offenbar nach dem richtigen Wort, »… Verblichenen.« Dann schob er eilig hinterher: »Und natürlich Beileid noch zum Ableben von selbigem.«
Das war doch nicht zu fassen! Marie konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, die Augen zu verdrehen.
Schätzle wusste mit der Kondolenz nicht viel anzufangen, nickte nur.
Winterhalter schlug nun einen anderen Weg ein – vermutlich in den Versuch, schnellstens aus der peinlichen Situation herauszukommen. Jetzt ging er vernehmungstechnisch in die Offensive.
»Die Tat an Ihrem, äh … Lebenspartner lässt nach unseren bisherigen Kenntnissen den Schluss zu, dass es sich nicht um eine Zufallstat oder eine Tat im Affekt gehandelt hat. Jemand scheint ihm nach dem Leben getrachtet zu haben. Haben Sie eine Idee, wer dahinterstecken könnte? Hatte er Feinde?«
Armin Schätzle kämpfte wieder mit den Tränen, nahm ein weiteres Papiertaschentuch von Marie an, schnäuzte sich.
»Pedro war jemand, der polarisierte. Er war ein Paradiesvogel und hat sich mit seiner modernen Interpretation der Tradition nicht nur Freunde gemacht. Aber so eine Tat …« Er strich sich über die rötlich gefärbten, schütteren Haare, die ähnlich unecht wirkten wie die Perücke des Therapeuten. »Aber so eine abscheuliche Tat. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, wer so etwas Schlimmes gemacht haben könnte.«
Erneut liefen die Tränen. Marie half mit einem weiteren Taschentuch aus – allmählich neigte sich ihr Vorrat dem Ende zu – und fragte: »Können Sie sich erklären, warum er in der Gruft ausgerechnet in einer Frauentracht lag? Trug er denn manchmal solche Sachen?«
Schätzle zuckte mit den Schultern.
»Pedro hat nicht nur polarisiert, sondern manchmal auch provoziert. Zum Beispiel erschien er beim Deutschen Trachtentag in einer Bollenhuttracht. Das hat einige Leute erbost. Sie meinten, er würde damit die Tradition ins Lächerliche ziehen. Aber für Pedro waren solche Auftritte wie eine künstlerische Inszenierung oder Installation. Das haben die Leute nicht immer verstanden.«
»Wen genau hat er damit erzürnt?«, fragte Winterhalter, der mittlerweile einen kleinen Notizblock gezückt hatte, während Marie Stichworte in ihr Handy tippte.
Auch sie und ihr Kollege bildeten einen Kontrast zwischen Tradition und Moderne, wurde Marie klar. Allein schon, was das Erscheinungsbild betraf. Winterhalters Look Marke Wanderführer stand in krassem Gegensatz zu ihrem Outfit, das sie noch während der Berliner Zeit erstanden hatte – ein Rock im Siebzigerjahre-Retro-Muster kombiniert mit Sneakers und einem schlichten blauen Pullover.
»Die Vorsitzenden der Trachtenvereine haben danach einen gemeinsamen Leserbrief verfasst und an den Schwarzwälder Kurier geschickt. Der Vorsitzende vom Trachtengau und einige andere haben sich auch noch mal persönlich bei Pedro beschwert. Aber den hat das nicht gejuckt. Bei Facebook und Instagram war er mit seinem Auftritt der Renner. Er hat immer nur gemeint: ›Warum soll ein Mann nicht auch eine Frauentracht tragen, wenn Frauen heutzutage in Männerrollen schlüpfen?‹ Die Figur für die Trachten hatte er ja.«
»Herr Schätzle, wissen Sie, was er ausgerechnet an dem Tag in der Gruft der Fürstenberger gewollt haben könnte?«
»Als er aus dem Haus ging, hat er gesagt, dass er mit einigen Models im Park neben der Gruft ein Fotoshooting machen würde. Sie müssen wissen: Pedro war sehr vielseitig. Mein Mann war nicht nur Designer und Kunsthändler, sondern auch Fotograf. Zweifelsohne ein Künstler.«
»Noch eine andere Frage«, meinte Winterhalter. »Habe Sie eine Erklärung, wie Ihr … Schätzle dahin gekommen ist? War er mit dem Auto unterwegs?«
Der Witwer nickte.
»Und wo ist das Auto jetzt?«
Armin Schätzle schüttelte den Kopf: »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich weiß es nicht. Haben Sie es nicht dort in der Nähe gefunden?«
»Sie nennen mir bitte gleich mal das Kennzeichen und das Fabrikat. Dann geben wir das in die Fahndung«, erwiderte Winterhalter.
Es war ein Landrover mit der Buchstabenkombination VS-PS und dem Geburtsjahr Peter Schätzles.
Marie betrachtete die Fotos, die in dem Laden ausgestellt waren. Darauf waren einige hübsche Frauen zu sehen, die in ungewöhnlichen Posen mit Trachten posierten. Ein Bollenhut-Model zum Beispiel hatte seinen Rock hochgezogen und schien sich die Strapse darunter richten zu wollen.
Ihr gefielen die erotischen Fotografien in Tracht. Ganz im Gegensatz zu Winterhalter, der jetzt ebenfalls auf die Fotos blickte, dabei aber ziemlich abfällig wirkte.
»Ausgerechnet am Gedenktag des Fürsten wollte er die Mädle dort fotografiere?«, fragte ihr Kollege jetzt und wandte sie wieder Schätzle zu.
»Warum denn nicht? Der Park war an diesem Tag besonders schön hergerichtet. Das Morgenlicht liebte Pedro am meisten zum Fotografieren. Anschließend wollte er noch mit einigen Mädels bei der Veranstaltung auftauchen und ›für etwas Abwechslung sorgen‹, wie er sich ausdrückte. Danach hatte er noch weitere Termine. Ich habe ihn, wie gesagt, erst spät zurückerwartet. Doch dann ist er gar nicht mehr heimgekommen …«
Armin Schätzle schluckte schwer.
Marie beeilte sich mit der nächsten Frage, um einem weiteren Zusammenbruch zuvorzukommen.
»Und sonst? Gibt es noch andere Menschen, die mit Ihrem Ehemann Probleme hatten und ihm nach dem Leben getrachtet haben könnten? Da gab es doch zum Beispiel mal eine Anzeige wegen Hehlerei, oder?«
»Das entbehrte jeder Grundlage: Pedro war Kunsthändler, hat Schätze aufgekauft. Da waren immer mal wieder Menschen, die plötzlich meinten, ihnen würden die Dinge zustehen. Doch Pedro hat sehr sauber gearbeitet. Davon dürfen Sie sich gerne in unseren Unterlagen überzeugen.«
Nun klang Schätzle fast schon angriffslustig.
»Das werden wir, keine Sorge. Ich würde aber gerne noch über diese Anzeige mit Ihnen sprechen. Eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt. Erstattet von einem gewisse Armin Schätzle.«
»Wieso haben Sie uns denn davon bislang nichts erzählt?«, setzte Marie nach. »Sie sagten nur, Sie seien so glücklich miteinander gewesen.«
So langsam klappte das Zusammenspiel mit Winterhalter. Das war ja fast schon Teamarbeit.
»Ach, das war doch nur eine Lappalie. Außerdem ist das bereits rund drei Monate her. Pedro und ich hatten uns gestritten. Ich hatte zu viel getrunken und habe etwas über die Stränge geschlagen. Pedro hat versucht, mich zur Vernunft zu bringen, und wurde dabei ein kleines bisschen handgreiflich. Aber das war halb so schlimm, wirklich. Das war völlig ohne Belang.«
»Vor nur drei Monaten? Na, so lange ist das aber noch nicht her.«
»Um was ging es denn konkret bei dem Streit?«, hakte Marie nach.
»Ach, um das Übliche. Pedro kam wieder mal nicht nach Hause, weil er unterwegs war. Da habe ich etwas zu tief ins Glas geschaut, und als er endlich kam, habe ich ein wenig überreagiert. Dann führte das eine zum anderen, und ich bin eben zur Polizei gegangen. Das kann ja schon mal vorkommen. Sie denken doch nicht etwa, dass ich etwas …?«
Schätzle wirkte aufrichtig erschrocken.
»Wir müssen allen Hinweisen nachgehen. Ohne Ausnahme«, sagte Winterhalter.
»Nehmen Sie’s nicht persönlich«, wiegelte Marie ab. »Gab es denn öfter mal Streit bei Ihnen zu Hause? Neigte Ihr Mann zu Gewalttätigkeit?«
»Aber nein. Pedro war ein wunderbarer Mensch. Und wir waren ein wunderbares Paar. Aber natürlich gab’s halt auch mal Streit – wie in jeder guten Beziehung.«
»Na ja, aber eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt ist eigentlich kein Bestandteil einer guten Beziehung«, sagte Marie. »Bitte halten Sie sich auf jeden Fall zu unserer Verfügung. Herr Kollege, haben Sie noch Fragen an Herrn Schätzle?«
»Sie sagen, Ihr Partner war ein Nachtschwärmer. Wo hat er denn seine Nächte verbracht? Wissen Sie das?«
»In Szenelokalen.«
»Was für eine Szene?«
»Die Modellbauer? Oder die Briefmarkensammlerszene?« Marie konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Herr Schätzle meint doch sicher entsprechende Lokale der Schwulenszene, nicht wahr?«
»Richtig. In Freiburg.«
»Und was hat er dort gemacht?«, hakte Winterhalter nach.
Meinte er die Frage tatsächlich ernst? Marie rollte innerlich mit den Augen über die Naivität.
»Er hat dort gefeiert. Sie müssen wissen, dass wir eine offene Beziehung geführt haben«, antwortete Schätzle.
Damit schlug die Befragung eine Richtung ein, die Winterhalter sichtlich unangenehm wurde.
»Keine Details bitte«, beeilte er sich zu sagen, was bei Marie unweigerlich ein Grinsen hervorrief.
»Wir bräuchten aber die Namen der Clubs«, fügte sie dann an.
»Ein paar Lokalitäten kann ich Ihnen nennen«, sagte der überlebende Schätzle mit matter Stimme.
Allmählich schien er am Ende seiner Kräfte.
»Aber dazu muss ich mich erst einmal sammeln … Vielleicht morgen.«
»Wie geht’s jetzt weiter mit dem … Geschäft hier?« Winterhalter schaute sich um.
»Ich habe ihn unterstützt, aber ich weiß noch nicht, ob ich das alleine weiterführen kann. Es stecken auch zu viele Erinnerungen darin. Das war Pedros Lebenswerk.«
»Als ob’s darum schade wäre«, murmelte Winterhalter vor sich hin.
»Bitte?«, fragte Armin Schätzle mit großen Augen.
»Nix. Ich hab nur laut gedacht. Mir ist gerade noch was eingefallen: Es kann durchaus sein, dass wir Sie in den nächsten Tagen mal zu einer weiteren Befragung aufs Kommissariat vorladen werden.«
»Und dürfen wir uns die nächsten Tage gegebenenfalls auch mal in Ihrem Geschäft umsehen?«, fragte Marie freundlich.
»Andernfalls …«, Winterhalter kratzte sich am Kinn »… müssten wir halt einen Durchsuchungsbeschluss beantragen.«
Ah, dachte Marie. Der Kollege spielte anscheinend eine Partie good cop – bad cop mit ihr.
»Nein, nein, den brauchen Sie nicht. Sie dürfen sich gerne umsehen. Weder Pedro noch ich haben etwas zu verbergen. Und: Ich kann mir diese gruselige Tat nicht erklären«, sagte Schätzle und geleitete die Kripobeamten zur Ladentür.
Kurz vor dem Ausgang fiel Maries Blick auf eine Reihe von Fotos, die offenbar privater Natur waren. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Auf einem war Pedro Schätzle mit einer Gruppe junger Leute bei einem Grillfest abgebildet. Auf dem Foto war er selbst auch noch jünger, wesentlich jünger.
»Nein, das gibt’s ja nicht!«, entfuhr es ihr.
»Was ist?«, fragte Winterhalter.
»Die Welt ist doch wirklich ein Dorf.«
»Wie meinen Sie das?«
Marie ignorierte Winterhalters Frage und wandte sich stattdessen an Armin Schätzle: »Ihr Mann hatte früher einen anderen Nachnamen – richtig? Hieß er zufällig Weißhaar?«
»Ja. Er hat bei der Heirat meinen Namen angenommen. Sein früherer Name war Peter Weißhaar. Wie kommen Sie darauf?«
»Der Mädchenname war also Weißhaar?«, fragte Winterhalter etwas verwirrt nach.
Marie ignorierte ihn. Sie zeigte nun auf das Foto des Grillfests.
»Da bin ich. Vor mindestens fünfzehn Jahren.«
»Wo sind Sie?«, fragte Winterhalter, der offensichtlich noch immer auf dem Schlauch stand.
»Na, auf dem Foto. Peter Schätzle – also, ich meine Peter Weißhaar – war mein Schulkamerad. Wir gingen in Villingen gemeinsam aufs Gymnasium. Auf dem Foto bin ich mit drauf. Dass ich das nicht gemerkt habe! Die Gesichtszüge kamen mir bekannt vor, aber ich hätte nicht gedacht …«
Die plötzliche Beziehung zum Mordopfer verwirrte Marie so sehr, dass sie den Witwer zum Abschied umarmte – vielleicht tat sie das aber auch, um Winterhalter ein weiteres Mal zu irritieren.
Der schüttelte nur noch den Kopf.
»Ich hab ja schon viele Angehörige von Mordopfern erlebt. Aber noch nie einen Mann, der hysterisch in sein Taschentuch geheult hat«, sagte Winterhalter, als die Tür hinter ihnen zugefallen war. »Typisch …«
»Keine Vorurteile, lieber Kollege«, entgegnete Marie, der Winterhalters Art zunehmend auf den Geist ging.
Sie dachte an Peter Schätzle, geborener Weißhaar.
»Jeder Mensch trauert anders. Das hat mit Homosexualität nichts zu tun. Ich weiß nicht, ob der Ehemann so geweint hat, weil er schrecklich betroffen war – oder ob die Tränen auch Teil einer Inszenierung waren. Aber das müssen wir eben herausfinden.«
Winterhalter kam nun richtig in Fahrt.
»Häusliche Gewalt bei Schwulen. So ebbes hab ich auch noch nit gehört.«
»Warum denn nicht? Das sind ja wohl ganz normale Menschen.«
»Menschen schon, klar. Aber normal? Ich weiß nicht recht …«
Marie ging darauf nicht mehr ein.
»Ich hätte eher gedacht, dass Armin Schätzle der dominante Partner ist, der unter Umständen auch zu Gewalt neigt. Schon allein aufgrund der Statur. Er wirkt eher kräftig und gedrungen, während Pedro eine beinahe zierliche Figur hatte. Auf jeden Fall schien die Beziehung der beiden nicht so harmonisch zu sein, wie es sein Mann gerade eben darstellen wollte«, überlegte sie.
»Messerscharf kombiniert, Frau Kollegin«, bemerkte Winterhalter mit ironischem Unterton. Als er in den Dienstwagen stieg, wurde er aber sofort wieder sachlich: »Wir sollten jetzt mal hören, was die Spurenlage am Tatort hergegeben hat. Übrigens: Sie scheinen mir in dem Fall neuerdings befangen zu sein. Sie waren ja schließlich mal mit dem Mordopfer befreundet.«
Marie ignorierte die Spitze des Kollegen und ließ den Blick über die Schweizer Alpen schweifen, die an diesem klaren Tag hinter den Schwarzwaldbergen in der Ferne hervorlugten.