9. Kein gutes Gespräch

Hilde Winterhalter seufzte – und das tat sie sonst nie. Die Bauersfrau war eigentlich von Grund auf unerschütterlich und scheute die Arbeit keineswegs. Auch an diesem frühen Abend hatte sie bereits einen Zwölf-Stunden-Tag hinter sich: Bauernhof, Markt in Villingen, Kochen, Saugen, Wischen – alles kein Problem für sie.

Sorgen machte ihr allerdings ihr Ehemann, der zurzeit auffallend schlecht gelaunt war.

Früher hatte er seinen Beruf gerne ausgeübt, sich allenfalls ab und an über den phobischen Kollegen Thomsen lustig gemacht. Aber sonst? Sonst war eigentlich alles gut gewesen. Das schien jetzt aber nicht mehr der Fall zu sein.

Auch heute kam er wieder später nach Hause. Er hatte angerufen – aus Freiburg. Der Mordfall.

Er war gestresst, das hatte sie ihm angehört.

Und diese neue Kollegin schien nicht unschuldig daran zu sein. Hilde Winterhalter kannte ihren Mann gut genug, um ihm anzumerken, dass er genervt von der neuen Kollegin war. Gleichzeitig schien sie ihn mit ihrer Widerborstigkeit aber zu faszinieren. Eher als Kommissarin denn als Frau, vermutete Hilde zu ihrer eigenen Beruhigung.

In ihrer Ehe war es auch schon mal besser gelaufen. Karl-Heinz und sie lebten in letzter Zeit eher aneinander vorbei als miteinander. Was nach vierundzwanzig Ehejahren sicher nicht außergewöhnlich war. Aber es gefiel ihr nicht. Ihre Freundin hatte recht: Es war an der Zeit, die Beziehung neu zu beleben, sie zu stabilisieren. Die Paartherapie war nur eine Möglichkeit. Sie mussten auch mehr miteinander unternehmen – jetzt, da die Kinder weitgehend aus dem Haus waren, auch wenn Thomas immer noch Kost und Logis bei den Eltern genoss, während er sein Informatik-Studium im wenige Kilometer entfernten Furtwangen absolvierte.

Hilde nahm ein frisch gewaschenes Paar Socken aus dem Wäschekorb, legte es zusammen und platzierte es auf dem Holztisch im Wohnzimmer unter dem Herrgottswinkel. Sie griff gerade nach dem nächsten Einzelsocken, um einen passenden Partner für ihn zu finden, als das Telefon klingelte.

Wahrscheinlich Karl-Heinz.

Würde es noch später werden?

Sie legte den einsamen Socken auf den Tisch und ging im Flur ans Telefon.

»Winterhalter, Grüß Gott.«

Erst einmal meldete sich niemand.

»Karl-Heinz?«

»Nein«, sagte dann eine recht leise, vorsichtige Männerstimme.

Sie vermutete jedenfalls, dass es ein Mann war. Aber erstens war die Stimme sehr weich, und zweitens schlug die Uhr nebenan gerade sieben.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte die Stimme.

»Ja, was wollet Sie denn?«

»Hier ist Robert.«

Hilde war etwas verunsichert. Robert konnte theoretisch ein Freund ihres Sohnes sein, aber so richtig wollte ihr kein Gesicht zu dem Namen einfallen. Vielleicht ein neuer Mitstudent …

»Und was wollen Sie, Robert?«

»Wir wollten uns doch duzen.«

»Und deshalb rufscht du an?«

Wieder ein Zögern am anderen Ende der Leitung.

Studenten, dachte Hilde und verdrehte die Augen. Wenn sie in der Geschwindigkeit arbeiten und reden würde, würde sie nichts zuwege bringen – schon gar kein Studium.

»Robert, du willsch vermutlich aber gar nit mit mir sprechen, oder?«

»Eigentlich schon. Du musst dir auch keinerlei Sorgen machen, weil das letzte Gespräch anfangs etwas schwierig war.«

Apropos schwierig: Das hier schien auch eine etwas schwierigere Angelegenheit zu werden. Hilde nahm das Telefon mit ins Wohnzimmer und setzte ihre Sockensuche fort.

»Aha. Robert, könnet mir die Sache abkürze? Ich hab noch einiges zu tun.«

»Ja … Ich wollte dich nur ermutigen: Gerade beim Aussprechen sexueller Intimitäten tun sich Männer oft schwer, Marie.«

Hilde Winterhalter ließ die Socken Socken sein: Unter anderen normalen Umständen hätte sie angesichts dieser Worte vermutet, dass es sich um den Anruf irgendeines Spinners oder Lustmolchs handelte. Also hätte sie den Hörer kommentarlos aufgelegt. Aber der Mann hatte sie gerade »Marie« genannt.

»Ich wollte unsere Sitzung gar nicht am Telefon fortsetzen – ich merke, dass du auch etwas gehemmt wirkst, Marie«, fuhr der Mann mit beschwichtigender Stimme fort. »Karl-Heinz geht es sicher nicht anders.«

In Hildes Gehirn arbeitete es: schon wieder »Marie«. Dann biss sie sich an einem anderen Wort fest: »fortsetzen«. Sie wiederholte das Wort gedanklich.

»Wir haben nämlich gar keinen weiteren Termin ausgemacht«, erläuterte der Anrufer weiter. »Ich wollte dir daher nur sagen: Allein schon, dass ihr beide da wart, ist der erste wichtige Schritt, damit ihr eure Sexualität bald noch mehr genießen könnt, Marie.«

Marie. Sexualität. Karl-Heinz. Drei Dinge, die überhaupt nicht zusammenpassten.

Zumindest war das Hildes Kenntnisstand.

Mit »Marie« konnte ja wohl nur diese neue Kollegin gemeint sein. Und »Sexualität« sowie »Karl-Heinz« waren klar genug.

»Wann wäre es euch denn recht? Wir sollten nicht allzu lange warten – schließlich wollt ihr eure Körperlichkeit ja voll und ganz auskosten –, das Leben ist kurz genug«, fuhr dieser geheimnisvolle Robert fort.

Hilde spürte, wie ihre Knie die Konsistenz von Pudding annahmen. Sie ließ sich auf den Hocker vor dem Telefontischchen sinken. Vermutlich hatte Karl-Heinz eine ganz andere Art von Stress, als sie bislang gedacht hatte. So ganz konnte sie sich das aber immer noch nicht vorstellen.

»Das isch jetzt aber kein Scherz, oder?«, stammelte sie hilflos.

»Natürlich nicht, Marie – die Sache ist ernst, gleichwohl ganz natürlich.«

Ehebruch mit einer Kollegin fand Hilde Winterhalter eigentlich gar nicht natürlich, doch sie stotterte etwas anderes ins Telefon: »Ich … ich bin nicht Marie.«

»… das ist mir jetzt doch etwas unangenehm«, sagte Robert nach einer Pause.

Hilde schnaufte und fasste sich dann: »Ich … ich richte es aber gerne aus. Welcher Termin … ginge denn bei dir, Robert?«

»Ich würde nächste Woche Montag vorschlagen. Vielleicht gleich am frühen Nachmittag? Könntest du Marie und Karl-Heinz ausrichten, dass sie um vierzehn, fünfzehn Uhr dreißig oder siebzehn Uhr kommen können? Vielleicht geben die beiden mir noch einmal kurz Bescheid.«

»Sagen wir vierzehn Uhr«, entschied nun Hilde – und ihre Stimme wurde so scharf, dass Robert erst einmal wieder schwieg.

»Gerne. Und richte beiden doch bitte herzliche Grüße aus. Vor allem Marie – ich hatte bei dem Termin einen äußerst positiven Eindruck von ihr. Vor allem, weil es nicht so einfach ist, über die gemeinsame Sexualität so unbefangen zu sprechen.«

Grüße ausrichten? An diese Marie? Das, so schwor sich Hilde, würde sie ganz bestimmt nicht tun.

»Mit wem habe ich jetzt noch mal gesprochen?«, erkundigte sich Robert.

»Mit der Dummen!«, erwiderte Hilde und unterbrach die Verbindung.