In der Nähe einer roten Bank für Spaziergänger brachte Winterhalter den Wagen zum Stehen.
»Von hier aus geht’s nur zu Fuß weiter«, sagte er dann und stapfte mit seinen Wanderstiefeln einen Pfad entlang, der links und rechts von dichten Bärlauchfeldern umgeben war. Marie folgte dem Kollegen, ließ sich von der Atmosphäre des wilden Gemüsegartens für einen Augenblick gefangen nehmen. Der Bärlauch duftete derart stark, dass er alle anderen Gerüche übertünchte. So ähnlich war es in Frankreich gewesen, mit den Lavendelfeldern, erinnerte sie sich.
Nach einigen Metern tauchte vor ihnen eine Art Hütte mit einem kleinen Glockentürmchen auf.
»Wo sind wir?«, fragte Marie, die nun doch schon einige Meter hinter Winterhalter her trottete. Sie konnte nicht anders, als sich immer wieder zu bücken, um an den länglichen, schmucklosen Blättern zu riechen.
»Waren Sie noch nie im Bärlauch?«, fragte Winterhalter, ohne eine Antwort abzuwarten. Mit einem Kopfschütteln quittierte er, wie Marie gerade die Nase in ein Büschel Bärlauch hielt.
»Also, wir sind jetzt bei der Eremitage. Von der hat uns der Fürst vorhin erzählt. Wie gesagt: 1783 von Joseph Maria Benedikt zu Fürstenberg zusammen mit einem englische Garten errichtet. Waren Sie noch nie da?«, fragte Winterhalter nun und betrachtete aufmerksam den Boden um die Hütte herum.
»Nein, ich war zwar schon mal auf dem Fürstenberg, das war aber vor mindestens zwanzig Jahren. Bis hierher hab ich’s jedoch noch nicht geschafft«, entgegnete Marie.
Der Zauber des verwunschen wirkenden Orts und der betörende, fast aufdringliche Duft des Bärlauchs schienen auch die Spannungen zwischen ihr und ihrem Kollegen zu lindern.
»Früher konnte man noch in die Eremitage rein. Wenn man die Tür aufgemacht hat, ist ein Eremit aufgestanden und hat die Leute erschreckt.« Winterhalter richtete seinen Blick für einen Augenblick vom Boden auf den verrammelten Eingang.
»Ein echter Eremit?«, fragte Marie wie eine Touristin.
Und Winterhalter schien nun tatsächlich nicht nur optisch den Wanderführer zu geben:
»Ha nei, das war natürlich eine Puppe. Die war mit einer bestimmten Mechanik versehen und hat sich bewegt, wenn die Tür aufgegangen ist. Das war eine Attraktion für die Kinder«, erläuterte Winterhalter und konzentrierte sich dann wieder darauf, die Umgebung um die Eremitage abzusuchen. Vorsichtig setzte er Wanderstiefel um Wanderstiefel in die dichten Bärlauchfelder, die sich über den gesamten Bergrücken des Wartenberges zu erstrecken schienen.
»Wonach suchen wir denn Ihrer Meinung nach jetzt genau?«, fragte Marie dann.
»Ha, nicht nach Bärlauch auf jeden Fall«, antwortete Winterhalter etwas oberlehrerhaft. »Und auch nicht nach dem Wartenberg-Schatz. Aber wenn de Herrn Schätzle so wichtig war, könnte es doch sein, dass sich das Opfer noch kurz vor seinem Ableben hier aufgehalten hat. Oder dass sich hier sogar der Mord abgespielt hat, wie Sie ja vorhin auch schon vermutet haben. Zumal das Opfer auf irgendeine Weise mit größeren Mengen von Bärlauch in Berührung gekommen sein muss. Die Nähe zur Neudinger Gruft lässt zumindest den Schluss zu, dass Schätzle hier oder in der Umgebung unterwegs gewesen sein könnte. Und wenn wir hier nicht fündig werden, schlage ich vor, dass wir nachher noch mal rüber zum Fürstenberg fahren.«
»Da können wir, glaube ich, noch den lieben langen Tag hier suchen. Sollen wir nicht lieber Verstärkung anfordern?«, fragte Marie. »Dann geht’s etwas zügiger.«
Doch Winterhalter antwortete nicht.
Schweigend arbeiteten sie sich durch die Bärlauch-Felder, während sich Marie überlegte, dass die Pflanze hier zwar in großen Mengen wuchs. Trotzdem gab es keine Garantie, dass ihr alter Freund Peter hier zu Tode gekommen war.
Und was war eigentlich, wenn die Bärlauch-Zeit in einigen Wochen vorbei war? Hatten sie dann schlechtere Karten bei der Aufklärung des Falles, wenn das Gewächs nicht mehr blühte?
Ab und zu begegneten sie anderen Menschen: älteren Paaren, aber auch Familien, die sich Rationen für ihre Mahlzeiten vom Boden klaubten.
Alle gingen schweigend ihrer Tätigkeit nach – so wie das Ermittler-Duo auch.
Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis Winterhalter ein lautes »Da, schauen Sie mal« von sich gab.
Mitten durch diesen Teil des Bärlauchfeldes zogen sich Spuren, als wäre ein schwerer Gegenstand durch die Blätter geschleift worden. Winterhalter folgte der Spur hinauf in Richtung des Schlosses, das die Herren zu Fürstenberg hier errichtet hatten und das ganz oben auf dem Wartenberg thronte.
Marie folgte dem Kollegen ebenso wortlos wie gespannt.
Einige Meter weiter kamen sie an eine kleine Lichtung, von der aus man einen weiten Blick in die Ferne hatte. Es war ein sehr klarer Tag, so dass sich die Appenzeller Alpen vom schneebedeckten Säntis bis zum Altmann zeigten.
»Hier endet die Spur«, sagte Winterhalter trocken und schien nun den Boden der Lichtung mit seinen Augen abzuscannen.
Nach einigen Minuten streifte er sich Handschuhe über und griff nach etwas, das im Bärlauch versteckt lag – und das Marie bisher entgangen war.
Winterhalter schien tatsächlich kein schlechter Kriminaltechniker zu sein. Er hatte das dafür nötige Auge.
Der Kommissar nahm den Gegenstand hoch und hielt ihn ihr entgegen.
»Eine Drahtschlinge«, sagte sie und war nun derart elektrisiert, dass sie nicht einmal mehr den alles durchdringenden Bärlauchgeruch wahrnahm.
»Da hatte ich doch glatt den richtigen Riecher«, verkündete Winterhalter nicht ohne Stolz. »Wobei wir natürlich überprüfen müssen, ob der Draht wirklich auch zu den Würgemalen am Mordopfer passt.«
Marie zog nun scheinbar ganz selbstverständlich eine Tüte aus ihrer Tasche, öffnete sie und hielt sie Winterhalter hin. Der ließ die Drahtschlinge behutsam in die Tüte gleiten. Marie verstaute den sorgfältig verpackten Draht in ihrer Tasche.
Die Kriminalbeamten fuhren fort, den Boden konzentriert abzusuchen.
Ihre Hoffnung, auch das verschwundene Handy von Peter Schätzle zu finden, erfüllte sich jedoch nicht.
Marie machte einige Fotos und Videos zwecks Dokumentation mit ihrer kleinen Kamera, die sie immer dabei hatte.
Winterhalter, der nun ganz von der Spurensuche gefangen war, bemerkte das zunächst nicht einmal.
Nachdem sie eine Reihe von Fotos geschossen hatte, schlug Marie vor: »Wir sollten die Spuren zurückverfolgen. Wenn der Draht tatsächlich das Mordwerkzeug war, dann könnte hier also die Tat stattgefunden haben. Und die Spuren im Bärlauch sind vermutlich Schleifspuren der Leiche. Diese muss also durch den Bärlauch abtransportiert beziehungsweise weggezogen worden sein.«
»Ja, sehr gut. So könnte sich das abgespielt haben«, bestätigte Winterhalter.
Wow, dachte Marie. Das hatte ja fast schon freundlich geklungen.
Sie räusperte sich. »Aber warum hat der Täter dann die Leiche nicht einfach hier liegen lassen? Warum hat er sie weggebracht und in der Gruftkirche der Fürstenberger abgelegt? Das war ja ein nicht unerheblicher Aufwand.«
»Das ist in der Tat rätselhaft. Das Risiko, entdeckt zu werden, wenn man eine Leiche umlagert, ist natürlich ungleich höher. Es sei denn, es gibt hier noch etwas, was auf den oder die Täter hindeute könne und wovon er ablenken wollte«, kam nun auch Winterhalter ins Theoretisieren.
Doch so sehr sie die Lichtung auch absuchten, sie fanden keine weiteren Hinweise, die noch tatrelevant erschienen.
Nun zückte Winterhalter ein Messer und schnitt an verschiedenen Stellen Bärlauch ab.
»Hätten Sie noch eine Tüte für mich?«
»Wieso? Wollen Sie jetzt noch Bärlauch sammeln?«
»Ja, aber nicht für mich. Die Blätter saugen wir dann ab, um eventuell Fasern zu finden, die vom Mordopfer oder vom Täter gestammt haben könnten. In der Dienststelle habe ich so eine spezielle Fasersaugmaschine, die mir der Kollege Wohlfahrt vom Polizeipräsidium Südhessen zur Verfügung gestellt hat.«
Beide blickten danach noch mal kurz in die Ferne in Richtung Schweizer Alpen, folgten dann der mutmaßlichen Schleifspur, die quer durch das Wäldchen in Richtung der Straße führen musste, welche auch sie den Wartenberg hoch genommen hatten.
Immer wieder vollzog Winterhalter einen Zickzack-Kurs. Ganz sorgfältig suchte er die Bärlauchfelder ab. Bückte sich hie und da und schob die duftenden Blätter mit seinen Handschuhen beiseite. An einigen Stellen schnitt er noch mal etwas Bärlauch ab und schob ihn dann in die Tüte, in der er schon die anderen Blätter verstaut hatte.
Marie hatte mittlerweile ihre Fotokamera in den Videomodus umgeschaltet und verfolgte Winterhalters Suche nach weiteren Beweismitteln.
»Muss das sein?«, fragte der, als er sich kurz nach ihr umdrehte. »Ich bin nicht sehr telegen und brauche auch kein Filmchen von unserem Ausflug. Sonst bekommt das am Ende noch meine Frau zu sehen.«
Marie ließ sich nicht beirren: »Das ist rein dienstlich. Außerdem: In Berlin haben wir in den letzten Jahren die Tatortbegehungen grundsätzlich nicht nur mit Fotos, sondern auch per Video dokumentiert. Man könnte ja möglicherweise etwas übersehen, was man im Nachhinein noch auf dem Video entdeckt. Außerdem ist man damit auch abgesichert. Und im Nachhinein kann niemand kommen und zum Beispiel bei Gericht sagen, bei der Spurensuche seien Fehler passiert.«
»Ja, ja, in Berlin«, entgegnete Winterhalter nur und setzte seinen Zickzack-Kurs durch das Bärlauchfeld fort.
Jede Wette, dachte Marie, dass diese Vorgehensweise auch bei der Schwarzwälder Polizei längst Usus war. Aber das würde Winterhalter, dieser Sturkopf, natürlich niemals zugeben.
Die Schleifspur im Bärlauch endete in der Tat erst an der Straße.
»Schade«, kommentierte der Kommissar. »Wenn die Strecke hier nicht asphaltiert wäre, hätten wir vielleicht eine Chance, etwaige Reifenspuren zu finden. Aber so ist das natürlich unmöglich.«
Auch die Suche nach Fußspuren führte nicht zu wichtigen neuen Erkenntnissen, zumal der braune Streifen neben der Straße von zahllosen derartigen Spuren übersät war.
Zur Bärlauchzeit spielten sich hier an einigen Tagen offenbar wahre Völkerwanderungen ab.
Tja, dachte Marie. Somit würden die Drahtschlinge und die abgeschnittenen Bärlauchblätter wohl ihre einzige Ausbeute für die kriminaltechnische Untersuchung bleiben. Aber, immerhin. Mit dem Auffinden des vermutlichen Tatwerkzeugs waren sie schon mal ein ganzes Stück weitergekommen. Falls es sich bei der Schlinge tatsächlich um die Tatwaffe handelte. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es so war.
Sie schreckte aus ihren Gedanken, als sie hörte, wie Winterhalter sie um eine weitere Tüte bat. Sie gab sie ihm und beobachtete dann, wie der Kollege noch einmal eine größere Menge von Blättern abschnitt.
»Noch ein paar Proben?«, fragte Marie.
»Nein, diesmal für den Eigenbedarf. Wollen Sie ein paar Blätter? Ist ideal für Veganer. Schmeckt auch hervorragend mit Nudeln, Öl und Parmesankäse.«
»Nein, danke«, sagte Marie, der die Bärlauchdosis für heute reichte.
Sie mussten aber dennoch einen guten Teil des Feldes abermals durchstreifen, denn Winterhalter nahm aus dem Dienstwagen den kompletten Rest des Flatterbandes – mindestens hundert Meter. Damit markierten sie das Bärlauchgebiet entlang der Schleifspur, ausgehend vom mutmaßlichen Tatort, so gut es ging – ganz reichte das rot-weiße Band mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung« jedoch nicht aus.
Die Kollegen der Kriminaltechnik, die etwa fünfundvierzig Minuten später eintrafen, übernahmen mit neuem Flatterband den Rest, ehe sich Winterhalter und Marie in Richtung Kommissariat verabschiedeten.
Auf der Rückfahrt ließ der Kommissar tatsächlich Marie ans Steuer, was sie als unausgesprochene Form des Lobs begriff.
Vielleicht würden sie trotz aller Unterschiede und Unstimmigkeiten wenigstens ein gutes Ermittlerteam werden, dachte sie, als sie die prächtigen Zwillingstürme des Villinger Münsters erblickte.
Winterhalter war mittlerweile eingenickt, während sich im Auto eine betörende Bärlauch-Duftwolke breitmachte.