Auch Kommissar Winterhalter hatte derweil keinen wirklich entspannten Abend – wenn auch aus anderen Gründen.
Ihm war klar: Aus den Krickeleien in seinem Notizblock hätte er im Leben kein vernünftiges Phantombild kreieren können – da musste nachgebessert werden.
Außerdem würden vielleicht die beiden weiblichen Schatzsucher, mit denen Thomas und Martin unterwegs gewesen waren, präzisere Angaben machen können.
Deshalb hatte er seinen Filius gebeten, eigentlich sogar aufgefordert, neben Martin auch Sandra und Johanna für sieben Uhr abends Uhr auf den Winterhalter-Hof zu bestellen.
Seine Frau würde ihnen allen »etwas Leckeres kochen«, hatte er großzügig angekündigt. Außerdem seien sie alle als Zeugen gefragt.
Leider hatte er das Hilde recht kurzfristig mitgeteilt, was im Normalfall kein Problem gewesen wäre. Aber normal war im Moment ja gar nichts.
Wie angespannt die Ehe-Situation war, bemerkte er, als im großen Winterhalter-Wohnzimmer serviert wurde. Seine Hilde, die würde auch binnen weniger Stunden einen feinen Schmorbraten zaubern, da war er sich sicher gewesen.
Wenn nicht für ihn selbst, dann wenigstens für Thomas und die Gäste.
Hilde Winterhalter knallte jedoch schweigend ein paar Butterbrote auf den Tisch und tat fortan so, als habe sie in der Küche zu tun.
Falls Winterhalter gehofft hatte, das sei nur die Vorspeise, hatte er sich getäuscht – die Küche blieb kalt …
»Hm, lecker – ä echtes Feschtmahl«, sagte Thomas ironisch beim Blick auf das mit nur wenig Empathie zubereitete Vesper – und erntete ein »Du sei ruhig!« seiner Mutter.
Kommissar Winterhalter zog es vor, sicherheitshalber zu schweigen.
So saßen sie also zu fünft um den Tisch herum, nagten an ein paar Broten, und als Thomas fragte, ob es nicht wenigstens Wurst gäbe, meinte seine Mutter: »Hol dir halt welche!«
»Schön, dass ihr alle da seid«, eröffnete Kommissar Winterhalter dann nach dem kargen Mahl die Sitzung. »Wie ihr wisst, ermittle ich im Mordfall Peter Schätzle. Ihr seid wichtige Zeugen, seid ja auch schon kurz befragt worden. Daher muss ich noch mal genau wissen, was ihr am betreffende Morgen gesehen habt.«
Vor allem Sandra und Johanna nickten dienstbeflissen.
Bei Martin hingegen schien Winterhalter nach seinem Auftritt am Vorabend etwas an Reputation eingebüßt zu haben; von ihm erntete er nur einen schwer einzuschätzenden Blick. Und Thomas mangelte es gegenüber seinem Erzeuger ohnehin an Ehrfurcht.
»Ich werde euch jetzt nacheinander befragen, damit keiner von euch in seiner Aussage von einem andere beeinflusst wird«, erklärte Winterhalter – und bat zunächst Martin in den Hergottswinkel nahe der großen Kuckucksuhr.
Die anderen schickte der Kommissar hinaus – »aber nix zum Fall miteinander besprechen«, schärfte er ihnen noch ein.
Sie verzogen sich, nachdem Thomas seiner Mutter ein paar Saitenwürstchen abgetrotzt hatte, in sein Zimmer.
»Also, Martin«, eröffnete Winterhalter die Befragung, »gestern hast du mir ja schon einige Hinweise gegeben. Jetzt einfach noch mal von vorne. Mir geht’s primär um das Phantombild.«
Er schlug seinen Notizblock auf, hütete sich aber, Martin einen Blick auf seine Zeichnung erhaschen zu lassen.
»Beschreib noch mal ganz genau, wie der Mann aussah.«
»Mittleres Alter. Ein bisschen ungepflegt. Etwas längere Haare.«
»Kleidung?«
»Dunkel, würde ich sagen.«
»Feierlich? Also so in Richtung Anzug – oder gar Tracht?«
»Hm. Nein. Unfeierlich. Schwarz. Der wollte sicher nicht zu dem geplanten Fürstenjubiläum. Die Haare waren braun – würde ich sagen. Und er hatte so einen entschlossenen Blick.«
»In welche Richtung lief er?«
»Weg von der Gruft in Richtung Parkausgang.«
Na also, so langsam lief die Befragung doch, dachte der Kommissar. Zur Belohnung bekam Martin ein Bier hingestellt.
Winterhalter selbst verzichtete nach dem Vorabend – außerdem wollte er nicht den Eindruck erwecken, er trinke zu jeder Gelegenheit.
»Figur?«
»Normal.«
»Toll«, murmelte Winterhalter ironisch und beschrieb sein Notizbuch.
»Wirkte er gehetzt?«
»Er wirkte, hm« – Martin dachte intensiv nach – »als habe er es eilig, ja.«
»Als wäre er auf der Flucht?« Winterhalter war gespannt, doch Martin ließ sich Zeit.
»Auf der Flucht – das ist natürlich schwer zu sagen. Ich will doch niemanden beschuldigen. Aber wenn Sie es so sehen wollen – er wirkte zumindest ungewöhnlich. Also keineswegs wie ein normaler Spaziergänger. Und, hm, am Hals hatte er irgendetwas …«
Der Kommissar wurde hellhörig. »Ein Amulett vielleicht?«
Martin zögerte. »Nein, keine Kette. Eher direkt auf dem Hals.«
»Schmutzflecken?«
»Nein, ich … Vielleicht sollten Sie mal die anderen fragen …«
Winterhalter verspürte eine zunehmende Ungeduld, machte sich jedoch weiter Notizen. »Ich würde gerne nach euren Angaben ein Phantombild erstellen lassen. Meinst du, das bekommen wir hin?«
Martin zog die Schultern hoch und nippte vorsichtig am Bier. »Vielleicht, wenn wir alle vier unsere Beobachtungen zusammenlegen. Thomas müsste ihn eventuell noch besser gesehen haben.«
Der Kommissar seufzte. »Thomas sagt, du hättest ihn genauer gesehen, er hingegen so gut wie gar nicht.«
»Wir haben uns ja nichts dabei gedacht. Erst nachdem wir den Toten gefunden hatten, kam es uns seltsam vor.«
»Ist dir im Vorbeigehen vielleicht aufgefallen, ob der Mann irgendwie nach Knoblauch oder Bärlauch gerochen hat?«, versuchte Winterhalter weiter, etwas Substanzielles herauszubekommen.
»Puh, keine Ahnung. Vielleicht. Die Leiche hat jedenfalls stark danach gerochen. Aber das habe ich ja schon gesagt.«
»Ja, das haben wir auch selbst bemerkt. Fällt dir noch was ein?«
»Hm. Momentan leider nicht.«
Winterhalter klappte das Notizbuch zu und ließ Sandra kommen, die etwas eingeschüchtert schien.
Falls Winterhalter wirklich gedacht hätte, Frauen seien per se die besseren Zeuginnen, wurde er bald eines Besseren belehrt: Sowohl Sandra als auch Johanna, die als Nächste dran war, wussten so gut wie gar nichts beizutragen.
Als er etwas schärfer nachfragte, hatte er zumindest bei Johanna den Eindruck, sie schmücke ihre Geschichte aus – vielleicht, damit er irgendwie zufrieden war.
Am Schluss hatte er sie fast so weit, dass sie sich sicher war, einen Mörder beobachtet zu haben.
Angesichts ihrer willfährigen Art war am Ende aber nicht mal klar, ob sie den Mann überhaupt deutlich gesehen oder den Bärlauch gerochen hatte. Auch sonst – etwa beim Auffinden der Leiche – war ihr nichts aufgefallen, was nicht ohnehin schon bekannt war.
Ihr Hauptaugenmerk lag darin, keinen Ärger zu bekommen, weil sie das Bild des Toten zusammen mit Thomas auf Facebook gepostet hatten.
»Er hatte so einen Fleck am Hals«, wusste Johanna immerhin noch beizutragen.
Winterhalter stürzte sich auf die Information wie ein Geier auf Aas: »Aha, etwas in der Art hat der Martin auch gesagt. Aber was war das?«
Johanna wirkte ratlos: »Ich hab den Mann wirklich nur kurz gesehen. So einen großen blauen Fleck, würde ich sagen.«
Blauer Fleck? Winterhalter hatte allmählich den Eindruck, dass diese Befragung noch weniger Ergebnisse brachte als die Vernehmung am Vorabend. Obwohl er heute stocknüchtern war. »Blauer Fleck …«, murmelte er. »Vielleicht ein Zeichen von Strangulation – wie bei der Leiche in der Gruft. Habt ihr doch Peter Schätzle gesehen? War er zu diesem Zeitpunkt noch am Leben?«
Realistischerweise ergab das überhaupt keinen Sinn – und das schob er auch gleich hinterher.
»Nein, ich glaube nicht, dass das der Tote war«, murmelte Johanna überfordert. »Der Mann hat ja noch gelebt …«
Es war zum Mäusemelken. Wahrscheinlich hatten die jungen Leute selbst in dieser Situation in ihrem Geocaching-Wahn nur auf ihre Handys gestarrt, statt einmal vernünftig zu beobachten.
»Ihr werdet ja wohl einen Lebenden von einem Toten unterscheiden können!«
Immerhin schien sich Johanna nun zu einem Entschluss durchgerungen zu haben: »Ein Toter wirkt natürlich anders als ein Lebender. Aber ich glaube nicht, dass das derselbe Mann war. Außerdem trug der im Park keine Frauentracht.«
Winterhalter schnaufte tief durch. Sollte er die Befragungen beenden?
Nein.
Er befahl den beiden jungen Frauen, getrennt voneinander – die eine in der Küche bei der argwöhnischen Hilde, die andere im Flur –, eine Skizze des Mannes anzufertigen, während er sich mit Thomas unterhielt. Die Skizzen wollte er dann dem Phantomzeichner vorlegen.
Erwartungsgemäß endete das Gespräch mit seinem Sohn in einem Streit, bei dem Winterhalter seinem Filius vorwarf, blind durch die Gegend zu laufen.
Seine Laune besserte sich nicht, als er die drei Skizzen der anderen – auch Martin war inzwischen dazu genötigt worden – verglich.
Das Gute: Mit etwas Phantasie ähnelten sich die Zeichnungen.
Das Schlechte: Die Zeichnungen gleichen leider auch stark dem Gekritzel, das er gestern in betrunkenem Zustand zustande gebracht hatte. Es hätte genauso gut Joachim Löw sein können wie Andreas Gabalier, genauso gut der Kollege Kiefer wie er selbst.
Immerhin hatten alle einen blauen Fleck am Hals verzeichnet. Vielleicht war dieser durch die Gegenwehr des Opfers entstanden?
Wenigstens bei Martins Entwurf ließ sich nun so etwas Ähnliches wie ein Gesicht herausdestillieren. Aber ob das für ein Phantombild reichte?
»Jetzt denkt alle noch mal vernünftig nach«, forderte er sie auf – und war inzwischen so verzweifelt, dass auch er sich selbst wieder ein Bier öffnete.
Vielleicht sollten sie es auf dem Präsidium am Computer noch mal mit einem ihrer Experten versuchen. Bei diesen Zeugen allerdings sah er schwarz …
Dann klingelte das Telefon.
Winterhalter fluchte erneut und stand mühsam auf, doch Hilde war schneller.
»Guten Abend«, sagte eine männliche Stimme – die mühsam die dennoch hörbare Dialektfärbung verhindern wollte. »Ich würde gerne mit Karl-Heinz Winterhalter sprechen.«
»Wer isch dran?«, keifte Hilde Winterhalter.
»Wir sind die Kaltenbachs«, sagte die Stimme, die sich gleich als zwei Leute ausgab. »Wir dachten, es ist Zeit, dass wir ihn einmal kennenlernen.«
Hilde Winterhalter suchte nach Worten: »Warum?«, fragte sie nach einer kurzen Pause.
Die Forschheit focht die andere Seite nicht an: »Wir sind die Eltern von Maria.«
»Maria?«
»Seine … Kollegin. Vielleicht haben Sie sie auch schon kennengelernt.«
»Allerdings«, knurrte Hilde. »Was wolle Sie denn mit dem bespreche?«
Der Mann am anderen Ende überlegte. Er schien nicht so wortgewandt, versuchte es aber: »So am Telefon isch des etwas … delikat.«
»Delikat? Was heißt denn delikat?«
»Deshalb wolle mir ihn ja unter sechs Augen spreche. Oder halt mol in Ruhe telefoniere.«
Unter sechs Augen?
»Geht’s um was Dienstliches?«, fragte Hilde nach.
»Äh. Nicht direkt.«
»Also privat?«
»Eher …«
An einem anderen Tag hätte Hilde Winterhalter vielleicht anders reagiert. Nun sah sie aber endgültig rot.
»Karl-Heinz«, brüllte sie, ohne den Anrufer noch eines Wortes zu würdigen. »Die neue Schwiegereltern sind dran und wolle mit dir was Delikates bespreche. Wahrscheinlich geht’s um die Verlobung – oder gleich um die Hochzeit.«
Karl-Heinz Winterhalter stapfte mit glühenden Wangen zum Telefon und durfte sich auf dem Weg dahin von seiner Frau noch anhören, dass es kein Wunder sei, dass es nur Ärger gebe, wenn er sich mit so einem jungen Ding einlasse. Sie jedoch werde sich nicht vom Hof vertreiben lassen, zischte sie nun – ohne jede Rücksicht darauf, dass Thomas und seine Freunde sowie der Anrufer das alles mithören konnten.
»Entschuldigung, es isch schon spät – ich weiß«, sagte Vater Kaltenbach, der sich den Ausbruch von Hilde wohl nur mit dem Ärger über die Uhrzeit erklären konnte.
»Nei, Nei – des war nur än Missverständnis«, brummte der Kommissar. »Was wolle Sie denn?«
»Können wir uns einmal treffen – oder mol etwas ausführlicher telefonieren?«, fragte der Anrufer wieder.
»Wieso – hat sich Ihre Tochter über mich beklagt?« Das war das Erste, was Karl-Heinz Winterhalter einfiel.
»Nein, aber … mir dätet gern mol Ihre Meinung zu ein paar Dinge höre.«
»Guet«, sagte Winterhalter, der sich keinen rechten Reim auf die Sache machen konnte. »Gebet Sie mir Ihre Nummer – ich ruf Sie morgen an.«
Dann ging er in die Küche, doch weder da noch im Wohnzimmer war seine Frau.
»Die isch im Stall«, meinte Thomas, der ob der angespannten Stimmung genauso sparsam dreinschaute wie seine Freunde.
Und so begab sich Kommissar Karl-Heinz Winterhalter in den Stall zu den beiden Hildes – zu seiner Lieblingskuh und seiner Frau, die sich nun auch darin unterschieden, dass die eine von ihnen weinte.
»Hilde«, sagte Winterhalter, der nicht gut darin war, weinende Frauen zu trösten. Kein Wunder – privat hatte er darin auch kaum Erfahrung, denn seine Hilde vergoss quasi nie Tränen.
Auch die tierische Hilde wirkte nun unruhig.
Winterhalter tätschelte erst die Kuh, dann die Frau – und merkte, dass erstens die Reihenfolge falsch war und er genau die gleichen hilflosen Bewegungen beim Menschen wie beim Tier anwandte.
»Du hättesch mir des früher sage müsse«, sagte Hilde, die Ehefrau, durch einen Tränenschleier.
»Was denn, Herrgott noch mol?«
»Des mit deiner Kollegin natürlich!« Hilde Winterhalter lehnte an einem Holzpfosten und hatte Stroh in den Haaren, was darauf hindeutete, dass sie sich dort kurz zuvor hingesetzt oder gar hingeworfen hatte.
»Aber da isch nix!«, brüllte Winterhalter nun so laut, dass die andere Hilde erschreckt zu muhen begann. Einige ihrer Artgenossen fielen mit ein.
Seine Frau schüttelte nur mit dem Kopf.
»Hilde, verdammt noch mol«, rief Winterhalter wieder – diesmal mit minimal verringerter Lautstärke.
Mitten in die Kakophonie aus schluchzender Hilde, muhender Hilde und brüllendem Winterhalter öffnete sich die Stalltür – und Thomas kam herein, noch dazu mit Martin im Schlepptau.
»Was macht ihr denn do?«, fragte der Sohn fassungslos.
Seine Eltern winkten erschöpft ab.
»Was willsch du denn?«, fragte Winterhalter verärgert.
Thomas deutete hinter sich. »Dem Martin« – der näherte sich verlegen – »isch noch was eing’falle.«
»Was denn?«
»Der Mann, den ich auch im Park gesehen hab … Der mit der dunklen Kleidung …«, sagte Martin erst zögerlich.
»Jo?«, fragte Winterhalter.
»Das war kein blauer Fleck, glaube ich …«
Winterhalter stutzte und ließ die Hildes Hildes sein. »Sondern?«
»Sondern so ein … billiges Tattoo oder etwas in der Art. Mit einem Tierkopf drauf …«