23. Friedensangebot

Am nächsten Morgen war die Stimmung kaum besser.

Das Ehepaar Winterhalter lief aneinander vorbei, ohne Substanzielles miteinander zu besprechen. Das lag nicht zuletzt auch daran, dass Thomas’ Freunde auf dem Bauernhof übernachtet hatten und nach Winterhalters Ansicht jetzt nur nutzlos im Weg herumstanden. Zu dem Unbekannten im Park konnten sie keine genaueren Angaben machen. Immerhin erklärten Johanna und Sandra nun ebenfalls, dass es sich bei dem blauen Fleck am Hals des Unbekannten vermutlich um ein Tattoo gehandelt hatte.

Thomas schien sich der ersichtlich schlechten Stimmung zwischen seinen Eltern vor seinen Freunden etwas zu schämen – er überbrückte deren Schweigen mit nutzlosen Bemerkungen und plapperte wie ein Wasserfall, was auch daran liegen konnte, dass er einen Kaffee nach dem anderen trank und umherlief wie ein Duracell-Hase.

Winterhalter wuchs das Ganze an diesem Samstagmorgen allmählich über den Kopf: Nachdem er aufgestanden war und Hilde im Stall und deren Artgenossinnen versorgt hatte, versuchte er Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

Er ging mit dem Notizbuch in sein Arbeitszimmer, doch da war bereits seine Frau zugegen, die wortlos in seinen Unterlagen kramte.

»Du musch nix durchsuche – du wirsch nix Belastendes gegen mich finde.«

Hilde gab zurück: »Aber aufräume darf ich hier schon noch – oder macht des bereits deine Neue?«

Winterhalter schnaufte tief durch und versuchte sich zu erinnern, wo er die anderen Notizen zu dem Fall abgelegt hatte – falls Hilde die nicht schon in ihrem Furor verbrannt hatte. Er würde sich angewöhnen müssen, doch mehr den Laptop zu benutzen.

»Hasch du hier was wegg’nomme?«

Hilde tippte sich nur an den Kopf.

Dort, wo eigentlich die Blätter aus den bisherigen Protokollen der »Soko Gruft« liegen sollten, fand er ein Heft der Öko-Zeitschrift Schrot und Korn, das in seinem Arbeitszimmer herzlich wenig zu suchen hatte.

Das mit den fehlenden Blättern war schlecht, denn Frau Bergmann hatte an diesem Samstag zu einer weiteren Soko-Sitzung geladen.

Winterhalter nahm sich vor, noch einmal ernsthaft mit Hilde zu sprechen, ihr Misstrauen irgendwie zu zerstreuen, doch immer wieder hoppelte der Duracell-Hase in den Weg und gab irgendwelche nervösen Plattitüden von sich.

Als der Kommissar seiner Frau jetzt auch noch eröffnete, er müsse ins Büro, raunzte ihn diese mit einem »Schon klar« an. Und als das Telefon klingelte, sagte sie nur kurz angebunden: »Für dich – des sind sicher wieder die Schwiegereltern. Oder gleich des Flittchen persönlich.«

Mit belegter Stimme meldete sich der Kommissar – und war umso erleichterter, dass der Kollege Rohrmoser dran war: »Musch dir keine Sorge mache, Karl-Heinz«, sagte der. »Ich hab den Kollege überredet, dass mir die Sache mit unserem Polizeiwagen vergesse. Ich hab ihm g’sagt, du hättesch än dringende Anruf wegen dem Mordfall g’habt und hättesch mit einem Dienschtwagen los müsse.«

Winterhalters atmete tief durch. Endlich gute Nachrichten an diesem sonst verkorksten Morgen: »Du bisch än echter Freund, Fritz. Du hasch wirklich einen gut bei mir.« Er blickte auf die Wanduhr – in etwa dreißig Minuten musste er in Richtung Kommissariat losfahren.

Er entschloss sich, nicht so lange zu warten.

Die Atmosphäre auf seinem Bauernhof, noch mehr aber die Stimmung seiner Frau nahm ihm fast die Luft.

Auf der Fahrt rekapitulierte Winterhalter seine persönlichen Baustellen: Sein Führerschein würde ihm erhalten bleiben. Auch ein Disziplinarverfahren wegen der Bemächtigung des Streifenwagens in betrunkenem Zustand blieb ihm wohl erspart.

Kernproblem war demnach seine auf äußerst tönernen Füßen stehende Ehe.

Die Kaltenbach sollte gefälligst noch einmal zu seiner Frau gehen und glaubhaft beteuern, dass da nichts zwischen ihnen lief.

Schließlich schien auch sie genügend persönliche Probleme zu haben, wenn da dauernd irgendwelche Typen im Kommissariat aufschlugen und nun auch schon ihre Eltern bei ihm anriefen, weil sie offenbar Hilfe im Umgang mit der in Berlin verdorbenen Tochter brauchten.

Winterhalter entschloss sich, eine Art Waffenstillstand mit der Kaltenbach auszuhandeln. Ihr Nutzen beim Kitten seiner Ehe war größer als seine persönliche Befriedigung, die forsche neue Kollegin vorführen zu können.

Nachdem er fünfzehn Minuten an seinem Schreibtisch im Kommissariat gesessen hatte, wankte der Entschluss schon wieder, denn er sah sich in mehrfacher Hinsicht als ihr Telefonist missbraucht – und das sagte er ihr auch, als sie zur Tür hereinkam.

»Warum?«, fragte sie matt.

Auch sie wirkte einigermaßen angeschlagen.

»Weil jetzt innerhalb kürzester Zeit vier Leute auf Ihrem Apparat angerufen haben und ich rangehen musste. Ein Mike, ein Sven, ein Klaus – und Ihre Eltern.«

»Danke«, sagte die Kaltenbach noch matter. »Dann fange ich mit denen an.«

Jetzt musste Winterhalter erstmals schmunzeln: »Nicht nötig – der Anruf Ihrer Eltern war für mich … Die hätte ich eh noch anrufen sollen.«

»Mir ist schlecht«, murmelte die Kommissarin, nachdem sie ihre Handtasche auf ihren Schreibtisch geworfen hatte. Um dann zu stutzten: »Für Sie? Wa… warum?«

Winterhalter grinste breit. »Wir müssen in den Besprechungsraum – Frau Bergmann wartet nicht gern. Was Ihre Eltern betrifft, so haben die mich um Hilfe gebeten. Die haben wohl den Eindruck, dass Sie derzeit ein wenig überfordert sind.«

Die Kaltenbach schaute fassungslos, konnte das Thema aber nicht vertiefen, denn es war drei vor zehn.

Wie betäubt trabte Marie zum Sitzungszimmer. Die einzige Erkenntnis, die sie und Winterhalter präsentieren konnte, war die Tatsache, dass das Amulett sowohl bei Pedros Chat mit einem Unbekannten als auch in der Vergangenheit von Pedros Freunden eine Rolle gespielt hatte – wie das alte Foto bewies, auf dem Rüdiger zu sehen war.

Frau Bergmann befahl daraufhin, Armin Schätzle noch einmal vorzuladen, was die Kommissare ohnehin schon auf ihrer To-do-Liste hatten.

»Kümmern Sie sich darum! Ich will den Mann baldmöglichst hier im Kommissariat sehen. Oder gehen Sie am besten gleich noch einmal vorbei.«

Dann schaute sie streng in die Runde: »Glauben Sie, dass an diesem Wartenberg-Schatz etwas dran ist?«

Allgemeines Schweigen.

»Dass er ein Mordmotiv beinhalten könnte?«

Weiter Schweigen. Dann räusperte sich der Kollege Huber: »Zumindest scheint sich der Wartenberg als Tatort zu erhärten. Die dort gefundene Drahtschlinge war das Mordwerkzeug, das hat die Gerichtsmedizin inzwischen zweifelsfrei bestätigt – und auch das Auto des Opfers wurde dort in der Nähe sichergestellt. Im Auto selbst haben wir allerdings keine verdächtigen Hinweise gefunden. Dafür haben wir aber Faserspuren der Tracht des ermordeten Peter Schätzle auf den Bärlauchblättern gefunden, die Kommissar Winterhalter bei der Tatortbegehung am Wartenberg gesammelt hat.«

Marie beobachtete, wie Winterhalter sich ein wenig aufrechter hinsetzte. Falls der Kollege aber erwartet hatte, dafür ein Lob zu erhalten, sah er sich getäuscht. Frau Bergmann war schon weiter: »Wenn das Auto von Peter Schätzle dort stand, müsste ja wohl der Leichnam mit dem Auto des Täters nach Neudingen in die Gruft transportiert worden sein«, meinte sie.

»Das vermuten wir auch«, nickte Huber.

»Keine Spuren eines Täterfahrzeuges?«

»Negativ.«

»Negativ«, wiederholte die Bergmann verdächtig langsam. »Konnte denn inzwischen herausgefunden werden, wo das Handy des Ermordeten zuletzt eingeloggt war?«

»Auch negativ. Wir warten aber stündlich auf eine Rückmeldung.«

»Gibt es diesen Wartenberg-Schatz?«, wiederholte sie erneut.

Schweigen.

»Meine Damen und Herren, gehen Sie dieser Sache weiter nach!«, sagte Frau Bergmann nun mit einer Dringlichkeit, als beanspruche sie selbst den Schatz für ihr Privatkonto.

Dann wollte sie Kiefer das Wort erteilen: »Was macht die Analyse dieses Chatverlaufes? Wissen wir denn jetzt, welche Personen sich hinter den Aliasnamen der Männer verbergen, die da um das Amulett gefeilscht haben?«

Kiefer räusperte sich: »Wir wissen zumindest, dass der sogenannte Konrad von Wartenberg von einem Freudenstädter Internet-Café aus sein Amulett angeboten hat. Und der angebliche Heinrich von Fürstenberg saß in einem Internet-Café in Freiburg. Das erklärt auch, warum die Chats immer nur tagsüber oder am frühen Abend erfolgt sind. Wir könnten natürlich in den Internetcafés die Mitarbeiter befragen.«

»Und die echten Namen der Personen?«, hakte die Bergmann nach.

»Das ist schwierig, Frau Kriminaldirektorin. Wahrscheinlich sind sie gerade deshalb in diese Internet-Cafés gegangen, damit wir nicht auf ihre PC-Daten und ihre Identität zugreifen können.«

»Das ist äußerst unbefriedigend. Brauchen wir Verstärkung vom LKA?«

Kiefer zog hilflos die Schultern hoch. »Ich denke, erst mal noch nicht.«

»Zwei Tage«, sagte die Bergmann, als handele es sich um das Ultimatum bei einer Entführung. »Wenn wir bis dahin nicht weitergekommen sind, lasse ich Experten aus Stuttgart kommen. Wir sollten ohnehin noch eruieren, welche Handynummern zur angenommenen Tatzeit am frühen Morgen des 12. Mai im Funkbereich nahe des Wartenbergs eingeloggt waren.«

Sie ließ von Kiefer ab und befragte zwei andere Kommissare, was sie im Umfeld des Ermordeten herausgefunden hätten. »Das Opfer war ja eine durchaus umstrittene Person. Homosexuell, Künstler, der den Schwarzwald ganz eigen interpretierte. Da könnte doch im Privat- oder Berufsleben etwas zu finden sein. Etwaige Affären, Drohbriefe von Traditionalisten.«

Immerhin war Frau Bergmann im Thema.

»Kollege Winterhalter hat ja bereits einen dieser traditionalistischen Herren befragt«, sagte Kommissar Huber.

Winterhalter begnügte sich mit einem Nicken und mit drei Worten: »Keine neuen Erkenntnisse.«

»Wir haben darüber hinaus tatsächlich drei Drohbriefe von offenbar traditionalistisch gesinnten Männern in den Unterlagen von Herrn Schätzle gefunden«, sagte nun wieder Huber, der bei der Durchsuchung dabei gewesen war. »Zwei Briefe waren sogar mit Unterschrift und Adresse. Wir haben die Absender befragt, aber keine weiteren Hinweise erhalten, dass die beiden Männer etwas mit der Tat zu tun haben könnten. Das waren stockkonservative Schwarzwälder, die sich über Herrn Weißhaar – später hieß er ja Schätzle – geärgert hatten. Sie waren ziemlich entsetzt, dass wir ihnen einen Mord zutrauen könnten.«

»Und, tun Sie’s?«, fragte die Bergmann.

»Ehrlich gesagt, nein. Der eine Brief war drei, der andere vier Jahre alt. Und auch Herr Schätzle, also der Ehemann des Ermordeten, wusste nichts von aktuellen Drohungen.«

»Und der dritte Brief?«, fragte die Bergmann und schaute ungeduldig auf die große Bahnhofsuhr, die dem Konferenzraum die Behaglichkeit eines Wartesaals verlieh.

Huber kramte umständlich in seinen Unterlagen. Dann las er vor: »Ich schneide dir den Kopf ab, du Schwuchtel!«

Frau Bergmann zuckte zusammen.

»Absender?«, fragte sie dann.

»Der Brief war anonym«, sagte Huber.

Die Bergmann rollte mit den Augen: »Deshalb ist es aber nicht verboten, den Absender herauszufinden.«

Sie war Spezialistin darin, ihren Beamten das Gefühl zu geben, sie seien allesamt ein Haufen von Versagern.

»Das ist uns bislang nicht gelungen«, antwortete Huber. »Das ist, ehrlich gesagt, auch nicht ganz einfach.«

»Nichts ist bei Mordermittlungen einfach«, schulmeisterte die Bergmann.

»Ich schneide dir den Kopf ab, du Schwuchtel!«, wiederholte Kiefer, leicht errötend und leiser. »Eine Mail mit identischem Wortlaut haben wir auch auf dem Rechner gefunden.«

»Absender?«, fragte die Bergmann wieder.

»Schon wieder ein Internet-Café. Es war ein Aliasname.«

»Freiburg oder Freudenstadt?«

»Villingen«, sagte Kiefer. »Ist jetzt neun Monate her.«

»Hat Schätzle die Beleidigung auf seinem Rechner gelöscht?«, wollte die Bergmann wissen.

»Nein. Nur in den Papierkorb verschoben.«

Marie konnte sehen, wie Frau Bergmann scharf nachdachte. Vorerst schwieg die Chefin allerdings.

Bei der Befragung der Bekannten des ermordeten Peter Schätzle in Freiburg waren die Kollegen immerhin etwas weitergekommen – zwei weitere Männer hatten sich als prinzipiell verdächtig herauskristallisiert.

Der eine war sogar wegen Körperverletzung und Hehlerei vorbestraft, wie der Computer zu berichten wusste.

»Und, Kollege Fleig?«, fragte Frau Bergmann. »Sie haben doch die weitere Überprüfung übernommen?«

»Der Mann saß am Tattag im Gefängnis in Freiburg«, antwortete Fleig.

»Na, prima«, murmelte die Bergmann ironisch, als sei das Fleigs Schuld.

Marie schrieb eifrig mit, kämpfte dabei aber weiter mit ihrer Übelkeit. Der Betäubungsmittelmissbrauch vom Vorabend hatte gewisse Nachwirkungen. Trotzdem fiel ihr auf, dass auch Winterhalter heute ungewöhnlich zurückhaltend war. Auch bei Frau Bergmanns Nachfrage nach dem Stand der Bärlauch-Ermittlungen gab er sich einsilbig. Doch sobald die Sitzung vorbei war, kam er zu Maries großer Überraschung zu ihr und lud sie auf einen Kaffee in die kleine Kantine ein, die am Wochenende komplett leer war.

»Ich hab mal überlegt, dass wir besser zusammenarbeiten sollten«, erklärte Winterhalter der Kollegin, sobald sie saßen.

Die Kaltenbach schien ob dieses Friedensangebots zwar etwas misstrauisch, wirkte aber allgemein ziemlich angeschlagen – da hatten ihre Eltern wohl recht gehabt, sinnierte er.

Dennoch fragte sie: »Warum?«

»Ich muss die Sache mit meiner Frau ins Reine bringen – und Sie sollen mir dabei helfen. Wir beide, also, wir haben ja nix Unrechtes getan«, beteuerte der Kommissar. »Ich meine … nix, äh, Sexu…«

»Ich habe schon verstanden und will mir das auch gar nicht bildlich vorstellen«, wehrte die Kaltenbach ab. »Ich soll also noch mal bei Ihrer Frau aufschlagen und sagen, dass wir nur Kollegen sind? Aber ob das was bringt? Ich hab ja schon mal mit ihr gesprochen.«

»Sie müssen es wenigstens noch mal versuchen!«, beschwor Winterhalter sie und ließ zwei weitere Cappuccini aus dem Automaten, deren Milchpulver nur ganz entfernt etwas mit der italienischen Kaffeespezialität gemein hatten.

»Und Sie erklären dann aber meinen Eltern, dass ich mich hier gut eingefügt habe. Und dass Sie keine Anhaltspunkte dafür haben, dass bei mir privat etwas nicht in Ordnung ist«, forderte die Kaltenbach.

»Angesichts der diversen Anrufe diverser Herren bin ich mir bei Letzterem nicht ganz sicher …«, murmelte Winterhalter und grinste.

Die Kaltenbach nahm einen Becher Cappuccino und konterte: »Und woher soll ich wissen, dass Sie nicht irgendeine andere Kollegin als Geliebte haben, wenn ich Ihnen bei Ihrer Frau einen Persilschein ausstelle? Vielleicht ist es ja Frau Bergmann?«

Winterhalter, der sich gerade noch echauffieren wollte, lachte laut los, als er die Kaltenbach ironisch lächeln sah.

Auf einmal war ihm die Kollegin aus irgendeinem obskuren Grund sogar etwas ans Herz gewachsen – vielleicht auch, weil sie mehr als genug Probleme zu haben schien. In dieser Hinsicht saßen sie beide im selben Boot.

»Lassen Sie uns jedenfalls zusammenarbeiten. Auch, damit wir in dem Fall der gute Frau Bergmann bald einen Täter oder zumindest einen dringend Tatverdächtige präsentieren können.«

Die Kaltenbach nickte. »Na gut. Einverstanden.«

»Sie haben doch sicher Erkenntnisse, die Sie vorhin nicht mit der Soko geteilt haben, weil Sie eine gewisse Beziehung zu dem Zeugen haben?«, bohrte er nach. »Bei mir ist das ähnlich. Also, wer fängt an?«

Die Kaltenbach nahm einen letzten Schluck Cappuccino aus dem braun geriffelten Pappbecher, dachte nach und gab sich dann einen Ruck: »In Ordnung«, sagte sie. »Ich vertraue Ihnen – und nachdem unser gemeinsamer Start hier im Kommissariat nicht so geglückt war, sehe ich es als Chance.«

Winterhalter nickte ermutigend und zog mit dem letzten Kleingeld – per Karte konnte man an Wochenenden nicht zahlen – einen Schokoriegel aus dem Automaten, nachdem ihm aufgefallen war, dass Hilde ihm ja gar kein Frühstück gemacht hatte.

»Ich bin allmählich ziemlich sicher, dass das Foto, das wir in Schätzles Schuppen gefunden haben, etwas mit dem Fall zu tun hat«, meinte die Kommissarin, während sie das Angebot eines halben Riegels mit einem Kopfschütteln ablehnte. »Auf dem Bild, das vielleicht zehn bis fünfzehn Jahre alt ist, ist ja dieses Amulett zu sehen.«

»Das möglicherweise mit diesem obskuren Wartenberg-Schatz zu tun hat.«

Die Kaltenbach nickte: »Ich war gestern bei einem Treffen meiner ehemaligen Klassenstufe – dort waren die meisten Personen, die auf dem damaligen Bild meiner Clique zu sehen sind.«

»Außer diesem Pedro«, brummte Winterhalter.

»Es fehlten noch mehr«, meinte die Kaltenbach und zog das Foto aus ihrer Handtasche. »Das ist eine ganz merkwürdige Sache.«

Marie reichte Winterhalter das Foto. Es fühlte sich gut an, einen Kollegen ins Vertrauen ziehen zu können, auch wenn sie sich noch nicht hundertprozentig sicher war, dass KHK Winterhalter ihr Vertrauen auch verdient hatte.

Ein skrupelloser Karrierist schien er aber jedenfalls nicht zu sein – eher ein knorriger Schwarzwälder, zu dem man eben erst einen Draht aufbauen musste.

»Der Interessanteste ist ja zweifelsohne der junge Mann, der das Amulett um hat«, bemerkte Winterhalter. »Ich hatte eh schon erwogen, dass wir den befragen.«

Marie schluckte. »Das ist Rüdi – Rüdiger Hellmann, doch leider kann man den nicht mehr befragen. Er ist vor einem halben Jahr im Schluchsee ertrunken. Und ich glaube, er hatte ebenfalls mit irgendwelchen Antiquitäten zu tun.«

Winterhalter hob mit einem Ruck den Kopf. »Was? Das ist aber höchst interessant. Und von der Sache im Schluchsee weiß ich gar nichts. War das ein Unfall?«

»Es war wohl ein …« Marie schluckte. »Ein Suizid.«

Ihr Kollege dachte nach. »Suizide in den Seen kommen immer mal wieder vor. Daher erinnere ich mich nicht an jeden einzelnen Fall. Aber in den letzten Jahren hatten wir keinen Vorfall, bei dem der Verdacht auf Mord nahelag. Derartige Zweifelsfälle bekommen wir von der Kripo ja immer zur Klärung vorgelegt – sicherheitshalber. Wenn er im Schluchsee ertrunken ist, waren allerdings die Kollegen aus Freiburg zuständig. Da müsste man noch mal nachhaken.«

Marie tippte auf den nächsten Abgebildeten. »Der mit den langen Haaren ist Klaus.«

»Moment mal«, unterbrach Winterhalter, der seinen Schokoriegel bereits verschlungen hatte und schon wieder sehnsüchtige Blicke in Richtung des Automaten warf. »Die Frage ist doch: Ist das Amulett nach dem Tod von diesem Rüdiger in den Besitz von Peter Schätzle übergegangen?«

»Das wissen wir nicht. Oder handelt es sich bei einem der Amulette vielleicht nur um eine Fälschung – ein nachgemachtes Schmuckstück?«

»Und warum hatte dieser Rüdiger das damals auf dem mindestens zehn Jahre alten Bild schon an?«, fragte Winterhalter weiter.

Marie hob die Schultern an. »Keine Ahnung. Von dem Amulett wusste ich nichts. Das war nach meiner Zeit. Aber auch das sollten wir recherchieren.«

Marie bemerkte, dass sie gerade ganz selbstverständlich »wir« gesagt hatte.

Winterhalter nahm das Wort prompt auf. »Könnten wir … uns noch einen Schokoriegel leisten?«

Oho, der Wink mit dem Zaunpfahl, dachte Marie. »Aber klar. Wir kaufen, Sie essen …«

Sie händigte ihm einige Münzen aus und Winterhalter redete vom Automaten aus weiter. »Kommen wir also zu dem Langhaarigen auf Ihrem Bild.«

»Klaus. Klaus Bollmann. Mit dem sprach ich gestern ebenfalls – und er erzählte mir von einer seltsamen Begegnung mit Rüdiger kurz vor dessen Tod. Rüdiger sagte wohl, er habe etwas Wichtiges vor, etwas Entscheidendes sogar.«

»Aha«, murmelte Winterhalter und biss in den Riegel. »Was macht dieser Klaus eigentlich beruflich?«

»Er kifft«, entfuhr es Marie leichtsinnigerweise. Schnell korrigierte sie sich: »Ein Gelegenheitsjobber.«

Winterhalter grinste so, als merke er seiner Kollegin an, dass sie die Mit-Kifferin des gestrigen Abends gewesen war.

»Er wolle ihn nicht in die Sache hineinziehen, hat Rüdiger wohl noch zu Klaus gesagt.«

»Nicht hineinziehen?«

»Darüber hatte sich Klausi auch gewundert.«

»Klausi?«, wiederholte Winterhalter mit einem ironischen Unterton und verputzte den Rest des Riegels in einem Happs. Ob er neuerdings von der erzürnte Ehefrau nichts mehr zu essen bekam? Wortlos zog Marie ein paar weitere Münzen aus der Tasche und reichte sie ihm.

»Glauben Sie«, fragte Winterhalter etwas umständlich, als er wieder Geld in den Automaten warf, um sich noch einen Schokoriegel zu kaufen, »dass dieser Kiffer weiß, mit wem sich Rüdiger kurz vor seinem angeblichen Selbstmord getroffen haben könnte?«

»Darüber habe ich mir heute Nacht auch den Kopf zerbrochen. Klausi meinte lapidar etwas von Kunst-Mafia oder so.«

»Allein gegen die Mafia«, mampfte Winterhalter nun, während er den am Vorabend gefallenen Satz unwissentlich noch einmal aufgriff. »Wie ein Mafia-Mitglied sieht aber niemand von den Herrschaften auf Ihrem Bild aus.«

Er beugte sich über ihre Schulter und schaute das Bild noch einmal an.

»Wer ist das eigentlich? Der kommt mir irgendwie bekannt vor …«

»Das ist Charly.«

»Charly …« Winterhalter überlegte. »Wie heißt der mit bürgerlichem Namen?«

»Karl-Heinz. Wie Sie.«

Winterhalter ignorierte die Bemerkung.

»Karl-Heinz Schmider – und …«

»Schmider« unterbrach sie Winterhalter. »Karl-Heinz Schmider, genau. Ich hätte ihn auf dem alten Foto fast nicht erkannt. Mit dem hatte ich irgendwann schon mal zu tun. Ein Ganove.«

»Na ja«, wandte Marie ein, die irgendwie nicht wollte, dass der junge Mann, mit dem sie früher mal rumgeknutscht hatte, so tituliert wurde.

»Da haben Sie ja wirklich zu einer beeindruckenden Clique gehört. Mit dem Schmider hatte ich mal vor sechs, sieben Jahren zu tun, als ich noch beim Betrugsdezernat war.«

»Er war halt ein wilder Typ«, sagte Marie und fand selbst, dass das irgendwie blöd klang.

Winterhalter schaute sie auch prompt so abschätzig an, wie er das in den letzten Tagen mehrfach, in den letzten Minuten aber gar nicht mehr getan hatte. Dabei war das Gespräch bislang so gut verlaufen.

»Wilder Typ?«, fragte er ironisch. »So kann man es auch nennen. Hat der nicht auch mit allerlei Gerümpel gehandelt?«

»Ich habe ihn schon fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen.«

»Den werden mir mal genauer unter die Lupe nehmen«, verbiss sich Winterhalter in das Thema »Charly«. »Sitzt der eigentlich derzeit? Für einen Mörder halt ich ihn zwar nicht, aber Schmider sollten wir auf jeden Fall überprüfen. Handelt mit angebliche Antiquitäten, gehört zu diesem Freundeskreis, besitzt kriminelle Energie. Wie kam der mit Peter Schätzle aus? Und wie mit diesem Rüdiger?«

»Hören Sie«, sagte Marie, die sich schon fast ärgerte, ihrem Kollegen das Geld für dessen Schokoriegel-Sucht überlassen zu haben. »Ich habe die Leute ewig nicht gesehen.«

Winterhalter beachtete den Einwurf gar nicht – ihm ging offenbar etwas anderes durch den Kopf: »Hat dieser Charly denn ein Tattoo? Ich kann mich nicht mehr erinnern – wir haben einfach zu viele Kunden.«

Marie starrte ihn an: »Ein Tattoo? Keine Ahnung. Warum das denn?« Sie überlegte: »Früher hatte er keines. Also keines, das man … deutlich gesehen hätte. Damals kamen Tattoos aber erst so langsam auf.«

»Am Hals.«

»Am Hals?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Aber noch mal: Warum denn?«

»Ein Zeuge hat einen Mann im Neudinger Park gesehen, der ein Tattoo am Hals hatte.«

»Ein Zeuge?« Marie überlegte. »Ihr Sohn? Aber den habe ich doch auch schon befragt.«

Winterhalter schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mein Sohn. Zumindest nicht primär. Ich hab mit der ganze Geocaching-Gruppe gesprochen. Die haben vor dem Auffinden der Leiche einen verdächtigen Typen im Schlosspark gesehen.«

»So, so, Sie haben mit der gesamten Geocaching-Gruppe gesprochen«, wollte sich Marie schon echauffieren, hielt sich aber ob des gerade geschlossenen Waffenstillstandes mit Winterhalter zurück. Stattdessen sagte sie nur: »Ab jetzt bitte keine Alleingänge mehr. Und jetzt noch mal zu den Zeugenbeobachtungen: Wie alt war dieser Verdächtige ungefähr?«

Winterhalter schnaufte vernehmlich. »Sie wissen doch, wie diese jungen Leute sind. Die starren doch nur auf ihre Handys. Als Zeugen völlig unbrauchbar.« Er schaute Marie an. »Mittleren Alters, meinten sie.«

Marie lächelte schal. »Bin ich mittleren Alters – oder Sie?«

Winterhalter verzog das Gesicht: »Immerhin waren sie sich ziemlich sicher, dass die verdächtige Person männlichen Geschlechts war.«

»Wollen Sie noch einen Kaffee oder einen Riegel?«

Winterhalter schüttelte den Kopf: »Irgendetwas sagt mir, dass wir an diesem Schmider dranbleiben sollten.« Er erhob sich: »Lassen Sie uns mal nachprüfen, ob der noch sitzt oder ob er ein Alibi für den Mord an Peter Schätzle hat.«

»Und wir sollten die Umstände des Todes von Rüdiger genauer beleuchten«, schlug Marie vor.

Als sie in ihr Büro zurückgekehrt waren und gerade den Rechner anwarfen, kam Frau Bergmann zur Tür herein: »Wo sind Sie denn? Ich habe Sie beide schon gesucht. Mein Eindruck ist, wir treten auf der Stelle.«

»Wir sind fleißig dabei, mögliche Verdächtige herauszufiltern«, gab Marie zurück, während Winterhalter nun wortlos auf der Tastatur herumtippte.

»Ich erwarte Ergebnisse, meine Herrschaften. Zeitnah!«

Als beide darauf nicht reagierten, knallte sie lautstark die Türe von außen zu.

»So ein Hornochse«, meldete sich Winterhalter zu Wort.

»Hornochsin«, korrigierte Marie.

»Nein, ich meine den Kollegen Fleig.« Winterhalter sah vom Bildschirm auf und wandte sich Marie zu. »Ihr alter Freund Charly ist genau der Mann, den wir suchen. Der Mann, von dem Huber vorhin in der Soko-Sitzung gesprochen hat! Eine der Freiburger Personen, mit denen der ermordete Peter Schätzle zu tun hatte – nämlich derjenige, der vorbestraft ist.«

Marie erschrak. »Hat Huber aber nicht gesagt, dass der zur Tatzeit im Gefängnis war?«

»Ja«, brummte Winterhalter. »Aber nur, wenn man zu blöd ist, den Eintrag hier im Rechner vollständig zu lesen. Karl-Heinz Schmider ist Freigänger – wir müssen mit der JVA Freiburg sprechen, ob er am Tag des Mordes draußen war.«