Marie hatte den Eindruck, dass sie alt wurde.
Dreißig Stunden nach dem Konsum des Joints war sie noch immer nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte. Wobei sie in letzter Zeit auch ziemlich wenig Schlaf abbekommen hatte – was sicher zu ihrem Zustand beitrug. Grund für den Schlafmangel war die Tatsache, dass ihre Eltern unbotmäßig früh aufstanden und die Holzdielen im alten Bauernhaus so laut knarzten, dass Marie regelmäßig um halb sechs erwachte – selbst sonntags!
Der Schlaf war nicht nur zu wenig, sondern auch zu leicht – kein Wunder bei den Dingen, die ihr im Kopf herumgingen: ihre früheren Freunde, von denen mehrere in einen Mordfall verwickelt schienen. Ihre Arbeit im Kommissariat, die nun hoffentlich in angenehmere Bahnen gelenkt wurde. Und ihre Männer-Probleme, die sie loswerden musste.
Genau genommen musste sie sowohl die Probleme als auch die Männer loswerden. All die One-Night-Stands und Typen wie Mike, der sich nie festlegen wollte. Es war höchste Zeit, dass sie sich mal einen normalen Mann suchte. Einen, wie zum Beispiel … Kiefer, spuckte ihr Gehirn überraschend aus.
Unwillig schüttelte sie den Kopf. Blödsinn, der passte nun wirklich nicht zu ihr. Dafür war er viel zu formell und steif. Und überhaupt, spätestens nach dem Auftritt von Sven vor dem Kommissariat musste Kiefer doch denken, bei ihr wäre eine Schraube locker. Nein, es blieb dabei. Dieses ganze Männerchaos musste ein Ende finden.
Und dann gab es natürlich noch ihre Eltern, die auch nicht jünger wurden und sich offenbar Sorgen um sie machten. Was lieb gemeint war. Aber wenn sie darüber nachdachte, dass die beiden gestern mit Winterhalter darüber gesprochen hatten.
So etwas ging gar nicht!
Und das sagte sie ihren Eltern auch, als sie – draußen wurde es gerade erst hell – beim Sonntagsfrühstück saßen.
»Mir mache uns halt Sorge, Mädle«, erklärte ihre Mutter und reichte ihr das selbst gebackene Brot.
»Hier rufe alle mögliche Kerle an. Dein Ex-Freund aus Berlin hat uns geschtern g’sagt, er sei auch schon auf dem Kommissariat g’wese. Und dieser andere Herr auch, den mir da neulich morgens hier g’sehe habe … Des isch ei’fach zu viel und belastet dich auch dienstlich.«
»Mike hat schon wieder angerufen?«, fragte Marie.
Die Eltern nickten. »Weisch du, des isch nit Berlin hier. Bei uns im Schwarzwald hat man gern saubere Verhältnisse. Und mir wolltet nur bei deinem Kollege Winterhalter än gutes Wort für dich einlege.«
Saubere Verhältnisse und Winterhalter …? Wenn ihre Eltern von dem Ehestreit und Maries Verwicklungen darin wüssten, wären sie wohl endgültig schockiert.
»Du bisch jetzt bald schon vierzig«, wiederholte ihre Mutter nun fast wortgleich die Aussage des Vaters neulich am Frühstückstisch. »Des wär schon gut, wenn du langsam de Richtige finde dätsch. Und mir hättet au nix gege ä Enkele einzuwende.«
Marie verdrehte die Augen. »Ich hab jetzt gerade erst hier bei der Kripo angefangen. Ich will doch nicht schon nach ein paar Wochen schwanger werden!«
»Ä paar Jahre solltesch du aber auch nimmer warte«, sagte ihre Mutter, die darunter litt, dass Maries Geschwister alle weit außerhalb des Schwarzwaldes wohnten, sodass sie die Enkel nur selten zu Gesicht bekam.
»Ich sag euch meine Prioritäten: erst der Beruf, dann der Mann, dann die Kinder«, erläuterte Marie nun schon leicht genervt. Sie bestrich sich das Brot doppelt so dick mit Marmelade, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. »Ihr habt dem Kollegen Winterhalter doch hoffentlich nichts Genaueres aus meinem Privatleben erzählt?«
»Nein, nein«, winkte ihr Vater eilig ab. »Mir wolltet nur so generell wisse, ob er mit dir zufriede isch.«
Marie verdrehte erneut die Augen.
»Und uns entschuldige, wenn da mol ab und zu än Mann im Kommissariat auftaucht, weil du gerade eine harte Trennung hinter dir hasch.«
»Wie bitte? Das ist ja peinlich! Außerdem ist Winterhalter nicht mein Vorgesetzter«, erwiderte Marie grollend. Um dann etwas unsicher anzufügen: »Und: Was hat er gesagt?«
»Des dät gut klappe und mir solltet uns keine Sorge mache.«
Puh. Sie atmete auf. Winterhalter schien das einzige ihrer Probleme zu sein, das sie in den Griff bekommen konnte.
Die anderen privaten Verstrickungen und der Mordfall machten ihr mehr Sorgen.
Umso gespannter war sie auf ihr heutiges Treffen mit Charly, bürgerlich Karl-Heinz Schmider, für den sie damals geschwärmt und mit dem sie auf einer Party auch einmal leidenschaftlich Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte.
Dass Charly sich dem Tross der sie verfolgenden Männer anschloss und früher oder später ebenfalls im Kommissariat aufschlug, war eher unwahrscheinlich, denn er saß tatsächlich in Freiburg im Gefängnis. Hehlerei und anderes.
Während Marie ihren Wagen über Thurner und Spirzen quer durch den Schwarzwald in Richtung Buchenbach lenkte und merkte, dass sie nach ihrem Wildunfall tatsächlich noch unsicher war, ob sich nicht wieder ein Tier vor ihren Wagen verirrte, dachte sie über Charly nach.
Er hatte schon immer etwas Unorthodoxes an sich gehabt – hatte den Coolen, Wilden markiert. Während ihre anderen Bekannten mit Motorrad eher Spießer gewesen waren, die so taten, als seien sie verkappte »Easy Rider«, war es bei Charly glaubhafter gewesen. Er hatte immer schon alle möglichen Geschäftchen am Laufen gehabt – mitunter schien es so, als habe er an der halblegalen Art der Geschäfte mehr Spaß als an den Profiten, die daraus erwuchsen.
Während der Jahre in Berlin hatte sie komplett mit der Vergangenheit gebrochen, so wie sie es jetzt umgekehrt mit ihrer Berliner Zeit versuchte.
Nach den Erfahrungen beim Klassentreffen war sie darauf gefasst, einen deutlich gealterten Menschen zu treffen. Einen Menschen, bei dem sie eine Doppelrolle als Kommissarin (als solche hatte sie sich spontan Zugang zum Gefängnis verschafft) und als alte Bekannte (so wollte sie gegenüber Charly auftreten) spielen musste.
Die Justizvollzugsanstalt im Freiburger Stadtteil Herdern war ein imposantes Gebäude, dessen Grundriss aus fünf Flügeln bestand, die in der Mitte zusammentrafen. »Café Fünfeck« hieß das Gebäude deshalb im Volksmund. Ausschließlich Männer waren hier inhaftiert – bei Charly handelte es sich vermutlich um einen der kleineren Fische.
Ein wenig nervös war Marie doch, als sie im Besucherzimmer auf den Mann wartete, mit dem sie eine gemeinsame Geschichte verband – und den sie nun wegen eines Mords befragen wollte.
Es hatte sie einige Überredungskunst gekostet, bis sie sich mit Winterhalter darauf geeinigt hatte, dass er dem rätselhaften Tod von Rüdiger im Schluchsee nachgehen würde, während sie Charly befragte. Wenn der einen Polizisten sah, würde er gleich dichtmachen, hatte Marie argumentiert. Bei ihr als alter Bekannter stünden die Chancen besser.
Jetzt blickte Marie sich um: Einige der anderen Stühle und Tische in dem großen Besucherraum waren schon belegt. Etwas deprimiert wirkende Frauen und Freundinnen, besorgte Mütter, die sich bei ihren inhaftierten Söhnen nach deren Wohlergehen erkundigten. Und einer schräg hinter ihr hatte Besuch von einem Mann, der ebenso zwielichtig wirkte wie der Insasse selbst – die beiden sahen aus, als würden sie gerade den Ausbruch planen, so wie sie sich über den Holztisch beugten.
Leider machten es Marie die Lautstärke ebenso wie die fremde Sprache unmöglich, allzu viel zu verstehen.
Sie sah auf. Schluckte. Und da war er. Charly kam lässig hereingeschlurft, ganz wie früher – und doch bekam sie einen Schock und starrte ihn entsetzt an.
Charly grinste, wie er früher gegrinst hatte: »Immer noch in mich verliebt?«, fragte er dann lässig – aber es kam nicht mehr so locker rüber wie anderthalb Jahrzehnte zuvor.
»Gut siehst du aus«, fuhr er fort – und rief zu ihrem Entsetzen quer durch den Raum: »Hey, mit der Schnecke hier hatte ich mal was!«, während er auf sie zeigte. Dann grinste er wieder sein Charly-Grinsen.
Der Wachtmeister schaute irritiert – schließlich hatte sich Marie gerade noch als Kriminalhauptkommissarin vorgestellt, »die den inhaftierten Herrn Schmider in einem Mordfall befragen muss«.
Charly wiederum hatte offenbar nur gesagt bekommen, dass ihn eine Frau Maria Kaltenbach sprechen wolle, die er durchaus noch in Erinnerung hatte.
Beide setzten sich, dazwischen der Holztisch – für Marie hatte es etwas Beklemmendes.
»Wie geht’s dir?«, stellte sie eine etwas überflüssige Frage, nachdem der diensthabende Justizvollzugsangestellte sicherheitshalber noch einmal angerannt gekommen war, um ihren Polizeiausweis ein zweites Mal zu kontrollieren.
»Läuft«, meinte Charly. »Hab ab und zu Freigang und werde jetzt sauber bleiben.«
»Wir hatten vorgestern Klassentreffen«, erzählte Marie.
»Ja, ich konnte leider nicht«, grinste Charly – dann wurde er wieder ernst: »Hast du die Scheiße mit Pedro gehört?«
Sie war erstaunt, wie schnell er auf den Punkt kam, und sagte: »Deshalb bin ich hier.« Dann verbesserte sie sich hastig: »Unter anderem deshalb.«
Charly musterte sie abschätzig. »Dann hat mich mein Näschen nicht getrogen – und meine Erinnerung: Du bist also immer noch bei den Bullen?«
Marie nickte.
»Und was interessiert ein toter Schwuler die Hauptstadt?«
»Ich bin nicht mehr in Berlin – bin zurück im Schwarzwald.« Irritiert bemerkte sie, dass ihre Stimme so klang, als würde sie gerade einen Fehler eingestehen.
Charly schaute sie misstrauisch an: »Und jetzt bearbeitest du den Fall von Pedro?«
»Nicht nur ich«, sagte sie unverbindlich, denn sie wollte nicht zu dienstlich klingen.
Schnell wechselte sie das Thema: »Was machst du, wenn du aus dem Knast draußen bist?«
»Privatisieren«, entgegnete Charly trocken.
Offenbar erwartete er, dass sie in Gelächter ausbrechen würde. Aber das tat sie nicht.
»Ehrbare Geschäfte – Antiquitäten und so. Wobei das schwierig ist, wenn einen die Bullen erst mal auf dem Kieker haben«, meinte er dann.
»In der Branche war Pedro auch.«
»Aber auf höherem Niveau«, konterte Charly.
»Egal. Wenn du dich da auskennst: Sagt dir der Wartenberg-Schatz etwas?«
Charly verdrehte die Augen: »Klar, da gibt’s ein paar Freaks, die fest davon überzeugt sind, dass es diesen Schatz gibt und er unfassbare Reichtümer beinhaltet. Schon seit vielen Jahren suchen Leute nach diesem Schatz. Den könnte ich gebrauchen, glaub mir. Pedro hat mir auch zwei-, dreimal davon erzählt. Wenn du mich fragst: Alles Blödsinn.«
»Wie oft hast du Pedro in den letzten Jahren denn gesehen?«, fragte Marie weiter und bemühte sich, Charly nicht allzu auffällig anzustarren.
»Ein paar Mal – ich hab ab und an versucht, ihm Sachen zu verkaufen. Waren ihm aber künstlerisch nicht anspruchsvoll genug, dem elitären Herrn.«
»Warst du an dem Tag, an dem er umgebracht wurde, auch hier drin?«
»Ja«, sagte Charly kurz. »Glück gehabt – sonst hättet ihr wahrscheinlich noch versucht, mir den Mord an Pedro anzuhängen.«
Hatte er anfangs wirklich gedacht, dass sie ihn rein privat nach all den Jahren im Gefängnis besuchte?
Marie zog nun ein paar Fotos aus der Tasche – als eine Art vertrauensbildende Maßnahme. Zunächst zeigte sie das alte Foto, auf dem sie auch mit drauf war und das sie erstmals in Pedros Laden wiederentdeckt hatte.
»Ha, die gute alte Zeit«, lachte Charly – ein trockenes Lachen, das seinen regelmäßigen Zigarettenkonsum verriet.
»Elena – die war auch eine scharfe Schnecke«, kommentierte er weiter.
Dann zückte Marie das Foto, auf dem Rüdiger das Amulett trug.
»Stichwort Schatz. Wartenberg-Schatz. Dieses Amulett, das Rüdiger hier trägt, soll wohl Bestandteil des Schatzes sein. Je davon gehört?«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht«, sagte Charly kurz angebunden. »Ist doch egal.«
»Wie war deine Verbindung zu Rüdiger? So wie zu Pedro? Der war ja quasi auch in dieser Branche unterwegs.«
»Rüdiger ist tot.« Charlys anfängliche Lässigkeit hatte sich inzwischen komplett verflüchtigt. Er wirkte genervt, ja fast aggressiv.
»Unter mysteriösen Umständen«, bohrte Marie weiter und musterte den Häftling genau.
»Er ist verreckt. Ende Gelände. Im Schluchsee.«
»Weißt du, ob es ein Unfall war? Selbstmord? Oder gar« – sie sagte es lauernd – »Mord?«
Charly wirkte nun verärgert: »Was soll das? Willst du mir unbedingt einen Mord anhängen? Wenn nicht Pedro, dann Rüdiger?« Er schlug mit der Faust auf den Holztisch. »Rüdiger ist ins Wasser gegangen – so weit ich gehört habe, weil er sich finanziell übernommen hat. Und?«
Marie gab sich unbeeindruckt: »Warum regst du dich so auf?«
»Weil ich dachte, du besuchst hier einen alten Freund. Stattdessen machst du auf Kripo-Tussi. Mordermittlerin. Wahrscheinlich willst du mir heimzahlen, dass ich dich damals nicht wollte.«
»Genau«, sagte sie ebenso scharf wie ironisch. »Gut, dass wir das geklärt haben. Und jetzt wieder ernsthaft: Wann hast du den nächsten Freigang?«
»Willst du mit mir in die Kiste oder mich beschatten?«, fragte Charly nun schon fast zynisch zurück.
»Weder noch«, erwiderte sie, obwohl sie zunächst erwogen hatte, gar nicht darauf zu antworten.
Nichts lag ihr ferner als Ersteres. Letzteres war aber durchaus eine Möglichkeit. Nur musste sie dazu erst mal mit der Gefängnisverwaltung sprechen – und mit dem Kollegen Winterhalter, falls an dem Suizid im Schluchsee noch Zweifel bestehen sollten.
Insgesamt musste Marie feststellen, dass sie irgendwie traurig war, ein bisschen auch wütend. Nichts war mehr übrig vom einstigen Charme des Mannes. Er war ein Gescheiterter – und ab einem gewissen Alter wirkte die aufgesetzte Coolness nicht mehr.
»Weißt du noch, an welchem Tag Rüdiger im Schluchsee gestorben ist?«, fragte sie unbeeindruckt weiter.
»Ne, wieso? Willst du auch dafür ein Alibi? Als Bulle ist es doch deine Aufgabe, so was selbst rauszufinden. Ich mache doch hier nicht deine Arbeit für dich.«
»Okay, danke, Charly. Wir kommen dann wieder auf dich zu.«
Es gab nichts mehr zu sagen. Charly hatte dichtgemacht.
Sie fügte ein »Mach’s mal gut« an, das halbwegs versöhnlich klingen sollte. Inzwischen hielt sie es nämlich tatsächlich für möglich, dass Charly ziemlich unangenehm werden könnte, wenn er wieder draußen und bei schlechter Laune war.
Diese Sorge hatte einen bestimmten Grund. Ihr ehemaliger Schulkamerad, der zum Abschied wortlos nickte, hatte ihr schon in der ersten Sekunde des Treffens einen großen Schrecken versetzt.
Er trug nämlich etwas, das er damals in Cliquen-Zeiten noch nicht getragen hatte.
Und das ihr heute schon ins Auge gesprungen war, bevor sie sein Gesicht richtig gesehen hatte: ein Tattoo am Hals, einen Wolfskopf!
An einem Sonntag jemanden von der Gefängnisverwaltung zu sprechen, erwies sich als überaus ambitioniert. Ob denn die Staatsanwaltschaft involviert sei, wollte der Stellvertreter der Stellvertreterin des Direktors wissen.
Marie nickte. »Sie kennen das ja. Bei Ermittlungen zu einem Mordfall eilt es immer. Wenn Sie noch etwas Schriftliches brauchen, das liefern wir morgen nach. Wochenende ist halt nun mal schwierig. Ich benötige auch nur ein, zwei Auskünfte.«
»Sie kennen den Gefangenen Schmider auch privat?«, wollte der stellvertretende Stellvertreter noch wissen, dem der Justizvollzugsangestellte offenbar schon pflichtbewusst von der Bemerkung Charlys im Besucherzimmer berichtet hatte.
»Ein flüchtiger Bekannter von früher – das hat mit dem Fall rein gar nichts zu tun«, beeilte sich Marie zu versichern.
Der Mann von der Verwaltung seufzte etwas gekünstelt.
»Hören Sie, Herr …«, sie schaute auf das Namensschild auf dem Schreibtisch, »… Niedermeier. Es geht um den Mordfall Peter Schätzle bei uns oben in der Nähe von Donaueschingen. Herr Schmider hatte einen Bezug zu dem Ermordeten, und es geht jetzt um die Abklärung des Alibis. Ich möchte wissen, ob er zur fraglichen Zeit hier inhaftiert war.«
Der Stellvertreter nickte: »Um welches Datum geht es gleich wieder?«
»12. Mai.«
Der Stellvertreter blätterte erst in den Akten, dann widmete er sich etwas ungelenk dem Rechner.
»12. Mai?«, fragte er dann.
»Genau.« Marie blickte unauffällig auf ihre Uhr und war gespannt, was Winterhalter wegen des Schluchsee-Suizids herausfinden würde. Wenn sie so die sonntägliche Besetzung einer Behörde am Sonntag betrachtete, musste man wohl davon ausgehen: bis morgen erst mal gar nichts.
»Ah, hier haben wir es«, sagte der Gefängnis-Mitarbeiter. »12. Mai dieses Jahres. Da war Herr Schmider hier, er hatte keinen Freigang.«
»Dann hat er ein Alibi«, sagte Marie sachlich, doch in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie viele Menschen hatten wohl so ein Wolfskopf-Tattoo am Hals? Sie kannte keinen einzigen – außer Charly.
Natürlich war es möglich, dass sich die laut Winterhalter nicht allzu präzisen Zeugen – und für einen solchen hielt sie auch seinen Sohn Thomas – bei der Abbildung des Tattoos getäuscht hatten. Am Ende war es gar kein Tierkopf gewesen? Gleichwohl waren wie auch immer geartete Tattoo-Köpfe am Hals alles andere als die Regel.
»Er war definitiv den ganzen Tag hier in der Justizvollzugsanstalt?«, fragte sie nach. »Auch schon am Tag davor – also dem 11. Mai?«
Der Stellvertreter, der die Akte vor sich auf dem Tisch und im Rechner bereits wieder geschlossen hatte, schlug sie widerwillig noch einmal auf.
»11. Mai?«, fragte er dann nach.
»Ja«, bestätigte Marie schon leicht ungeduldig und schaute sich in dem recht steril eingerichteten Zimmer um. Zweckmäßige Büroausstattung, weitgehend unpersönlich, und ansonsten Akten, Akten, Akten – Computerzeitalter hin oder her.
Irgendwie kam ihr der Gedanke, hier arbeiten zu müssen, bedrückend vor. Es schnürte einen doch bestimmt ein, selbst wenn man abends die Justizvollzugsanstalt wieder …
»Da hatte er Freigang.«
Sie stutzte. »Und wann muss man nach einem solchen Freigang wieder in der JVA sein?«
»Eigentlich abends zum Einschluss.«
»Und uneigentlich?«
»Da müsste ich einmal telefonieren«, sagte der JVA-Mann in einem Tonfall, als werde ihm hier die Zeit gestohlen.
»Herr Niedermeier – es geht um einen Mordfall!«
Drei Telefonate später – die Haupt-Zuständigen waren zunächst auch hier nicht erreichbar – hatte Herr Niedermeier die Bestätigung: »Er hat sich um halb zehn wieder an der Pforte gemeldet.«
»Am Abend des 11. Mai?«
Niedermeier überlegte und machte fast Anstalten, noch einmal zu telefonieren.
»Nein, morgens.«
»Morgens am 11. Mai?«
Niedermeier überlegte wieder. »Nein, am Morgen des 12. Mai.«
Marie spürte, wie sich die Haare an ihrem Arm leicht aufstellten. »Halb zehn am Morgen des 12. Mai?«
Sie ahnte, dass nun einige Arbeit auf sie zukommen würde.
»Und in welchem Zustand war Herr Schmider da?«
»Ich verstehe nicht. Zustand?«
»War er gehetzt? Geistig abwesend? Niedergeschlagen? Euphorisiert? Aggressiv? Besonders freundlich? Schuldbewusst?«
Marie war allmählich genervt.
Der stellvertretende Stellvertreter ließ die Aufzählung der Optionen über sich ergehen und sagte dann: »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Gefangene wir hier haben?«
Er blätterte wieder in seinen Akten, was diesmal keinen tieferen Sinn zu ergeben schien.
»Das kann Ihnen allenfalls der JVA-Beamte sagen, der zu diesem Zeitpunkt Dienst an der Pforte hatte. Falls ihm etwas Besonderes aufgefallen ist. Aber ich vermute, der ist …«
»… heute nicht erreichbar«, ergänzte Marie. »Halb zehn ist aber definitiv sicher?«
Niedermeier nickte: »So ist es vermerkt – und wir legen Wert auf Präzision.«
In Maries Kopf überschlugen sich die Gedanken. Thomas und seine Freunde waren dem Unbekannten im Park gegen acht Uhr begegnet – wobei sie auch das nicht mehr exakt wussten.
Von dem Neudinger Park aus fuhr man etwa eine Stunde ins Gefängnis nach Freiburg, auch wenn man ab der Stadtgrenze der Dreisam-Metropole mit Tempo 30 schleichen musste.
Das könnte passen.
»Wenn Sie so großen Wert auf Präzision legen, können Sie mir sicher auch sagen, wann Herr Schmider das nächste Mal Freigang hat?«
Der Stellvertreter wälzte noch einmal widerwillig die Akten. »In acht Tagen.«
Demnach würde Charly also so oder so noch etwas im Gefängnis bleiben.
Sie würden den Geocachern ein Bild von ihm zeigen oder am besten gleich eine Gegenüberstellung veranlassen müssen. Wenn Thomas und seine Truppe ihn wiedererkannten, hatte ihr alter Kumpel ein echtes Problem.
Bliebe noch die Frage nach dem Motiv: Neid? Geld? Der ominöse Schatz?
Oder gab es eine vernünftige Erklärung dafür, dass Charly an jenem Morgen in einem Park nahe Donaueschingen herumspaziert war, bevor er eilig die Rückreise zum Freiburger Knast antreten musste?
Aber warum schwieg er dann, statt diese Erklärung zu nennen?
Oder lief wirklich noch jemand, der in den Fall involviert war, mit einem derartigen Tattoo herum?
Marie hatte genug Stoff zum Nachdenken, als sie wieder zurück durch den Schwarzwald fuhr. Die nächste Frage, die sich ihr stellte: Mit wem sollte sie diese Erkenntnisse teilen?
Nur mit Winterhalter – oder mit der gesamten Soko?
Würde ihr die Bergmann den Fall entziehen, wenn bekannt würde, dass sie nun auch noch Charly von früher her kannte – und dass dieser tatverdächtig war?
Ein paar hundert Meter ehe sie auf dem Feldweg zum Bauernhof ihrer Eltern einbog, bemerkte sie einen silberfarbenen Golf mit Berliner Kennzeichen. Im Wagen war niemand zu sehen.
Auch wenn Mike zuletzt ein anderes Auto gefahren hatte: Sie musste wachsam sein.
Und gleichzeitig aufpassen, dass sie keinen Verfolgungswahn entwickelte.