27. Gegenüberstellung

So zurückhaltend Winterhalter oft agierte, wenn die Bergmann im Hause war – sobald die Kripo-Chefin Auswärtstermine hatte, drehte der Schwarzwälder Kommissar richtig auf.

Er hatte durchgesetzt, dass Karl-Heinz Schmider nun tatsächlich einen Tag früher von der JVA Freiburg ins Kriminalkommissariat Villingen-Schwenningen zur Gegenüberstellung gebracht wurde.

Wer noch fehlte, waren die Augenzeugen aus dem Park – doch auch da kannte Winterhalter keine Hemmungen. Schließlich ging es unter anderem um seinen Sohn.

Er fuhr eigenhändig mit Kiefer nach Furtwangen und zog Thomas und dessen Freunde aus einer Vorlesung im A-Bau der Hochschule.

»Bapa, wie peinlich isch des denn?«, ereiferte sich sein Sohn. »Du hättesch ja auch eine Durchsage im Rektorat organisiere könne, wenn’s schon so wichtig isch.«

Dass dies tatsächlich besser gewesen wäre, hatte Winterhalter spätestens bemerkt, nachdem er aufs Geratewohl die Türen zu insgesamt drei anderen Hörsälen aufgerissen, da aber weder Thomas noch seine Freunde angetroffen hatte.

Er musste sich eingestehen, dass ihm der Auftritt gleichwohl irgendwie gutgetan hatte. »Die Herrschaften sind wichtige Zeuge in einem Mordprozess«, hatte er den verdutzten Dozenten erklärt.

Gesprächsstoff würde es rund um das Gebäude am Robert-Gerwig-Platz genug geben – denn wann wurden sonst schon mal vier Kommilitonen mit einem Siebensitzer der Polizei abtransportiert?

Seinem Sohn hatte er noch erklärt: »Wenn ihr mol ab und zu euer Handy für was Sinnvolles nutze dätet und eure Nachrichte überprüfen würdet, müsst nit die Kripo komme und Taxi für euch spiele.«

Auf der Rückfahrt ins Kommissariat – jetzt musste Kiefer das Steuer übernehmen – versuchte Winterhalter noch mehrfach, den Freiburger Gerichtsmediziner zu erreichen. Einmal war es ihm gelungen, doch dann schlug in der Nähe von Vöhrenbach wieder das Schwarzwälder Funkloch zu.

Der übermüdete Kommissar fluchte, aber kurz vor Villingen hatte er dann die Verbindung.

»Herr Doktor, genau – der Suizid im Schluchsee vor einem halben Jahr – ich hab Ihnen ja schon eine Mail geschickt. Rüdiger Hellmann heißt der Tote, exakt. Da gibt’s ein paar Verdachtsmomente, die …«

»Glasklar? Wirklich? … Aha, Bilanzsuizid … Mit Abschiedsbrief? … ›Ich kann nicht mehr?‹ – sonst stand nix da? … Schuldzuweisungen? Keine … Und der Brief war auch sicher echt? … Mist … Ja, ich mein natürlich: Danke, Doc … Bis bald? Na ja, hoffentlich nicht.«

Winterhalter wandte sich wieder Kiefer zu, der gerade auf den Parkplatz des Kommissariates einbog, wo die Kaltenbach den Wagen bereits erwartete.

Der Kommissar scheuchte das studentische Quartett aus dem Fahrzeug und sagte: »Einfach den Typen gut angucken und überlegen, ob das der Mann ist, den ihr an dem Morgen im Park gesehen habt – auch wenn ihr ihn nicht weiter beachtet habt, wie ihr ja schon alle mehrfach betont habt.«

»Gibt’s da so eine verspiegelte Glaswand, wo wir den Mann sehen können, aber der uns nicht?«, wollte Sandra wissen.

»Nix gibt’s«, entgegnete Winterhalter. »Der wird euch schon nicht angreifen, ihr habt nix zu befürchten.«

Vor allem die Frauen schauten etwas ängstlich drein, während Winterhalter sich an die Kaltenbach wandte: »Ich hatte gehofft, dass wir jetzt noch das Alibi des Herrn Schmider für den Tag abklären können, an dem der Herr Rüdiger Hellmann im Schluchsee ertrunken ist. Der Gerichtsmediziner sagt aber: glasklarer Selbstmord. Bilanzsuizid.«

Er sah, wie die Kollegin schluckte. »Gab’s einen Abschiedsbrief?«

»Wohl nur einen Zettel, auf dem stand: ›Ich kann nicht mehr.‹«

»Schlimm.«

»Wie man’s nimmt«, meinte Winterhalter lapidar. »Ein Mord wäre ja auch nicht viel schöner gewesen.«

Marie folgte dem Kollegen in den Vernehmungsraum, in dem Charly Schmider bereits auf einem Stuhl saß – in Handschellen, bewacht von zwei Beamten.

Sein Tattoo war durch einen Schal verdeckt, damit die Zeugen auch wirklich nur auf sein Gesicht und die Erscheinung achteten.

Sie betraten den nicht allzu großen Raum zu siebt. Die vier Zeugen, Winterhalter, Kiefer und Marie selbst, die erst noch gezögert hatte.

Vermutlich, weil genau das passierte, was sie befürchtet hatte: »Ach, schau an«, sagte Charly nämlich ironisch und deutete mit den gefesselten Händen auf sie. »Ey, mit der hatte ich mal was!«

»Langsam wird es langweilig, Charly«, fauchte Marie. »Außerdem ist das Quatsch!«

»Da erinnere ich mich aber anders«, widersprach Charly prompt. »Du warst so heiß, Baby, und …«

»Halten Sie jetzt endlich den Mund!«, sagte Winterhalter schroff. »Sie sind hier gar nicht gefragt.«

Er machte Platz, sodass die vier jungen Leute einen genauen Blick auf Charly Schmider werfen konnten. Normalerweise präsentierte man in solchen Fällen den Zeugen noch weitere Vergleichspersonen, damit diese eine Auswahl hatten. Die übrigen Statisten wurden dann meist von anderen Beamten gespielt, die den Verdächtigen einigermaßen ähnelten. Aber dafür war keine Zeit mehr gewesen.

Die große Wanduhr tickte.

Marie, Winterhalter und Kiefer saßen gespannt auf den Stühlen am Schreibtisch.

Es vergingen zwanzig Sekunden, in denen Charly hämisch grinste.

»Und?«, fragte Winterhalter schließlich.

Martin nickte und Thomas wäre wohl der Erste gewesen, der etwas hätte sagen wollen, doch Charly kam ihm zuvor: »Ja, eindeutig – ich erkenne sie wieder …«

»Was?«, fragte Winterhalter verdattert.

Charly lachte meckernd: »Kann ich dann jetzt gehen?«

»Äh«, sagte Johanna. »Sollte das nicht eigentlich anders herum …?«

Charly lachte noch lauter: »Euer blödes Gesicht war mir das wert. Das ist doch eh alles ein abgekartetes Spiel. Ihr wollt mir den Mord an Pedro in die Schuhe schieben – lächerlich!«

Kiefer sah nun eine Chance, sich als Ordnungsfaktor zu profilieren. »Ihr erkennt den Mann aus dem Park auch wieder?«, fragte er.

Martin und Thomas nickten vorsichtig, Sandra und Johanna zeigten keine Regung.

»Des genügt«, sagte Winterhalter. »Herr Schmider, Sie sind dringend verdächtig, am 12. Mai dieses Jahres Herrn Peter Schätzle …«

»Weißhaar«, flocht Charly ein.

»Herrn Peter Schätzle, geborener Weißhaar, ermordet zu haben«, vollendete Winterhalter den Satz.

»Und das Motiv?«, fragte Marie nun ihren alten Kumpel Charly.

»Eifersucht – alles wegen dir«, alberte Charly, der nach wie vor darauf erpicht zu sein schien, nur keine Seriosität aufkommen zu lassen.

»Warten Sie mal, Kollegin Kaltenbach«, sagte Winterhalter. »Leute, euch schönen Dank – wir protokollieren noch und dann soll euch Kiefer zurück an die Uni fahren …«

Der junge Kollege ging mit den vier Zeugen nach draußen, um das Protokoll anzufertigen.

Als Thomas und seine Freunde den Raum verlassen hatten, wandte sich Winterhalter an die beiden Justizvollzugsbeamten, die Schmider von der JVA Freiburg nach Villingen begleitet hatten. »Ist die Zelle von Herrn Schmider wie vereinbart nach dem Handy durchsucht worden?«

Der eine Beamte nickte.

»Und?«

»Negativ«, antwortete der Beamte. »Aber …«

Marie war inzwischen schon auf dem Laufenden. »Aber dann wurde noch Charlys Auto durchsucht, das auf dem Parkplatz der JVA stand …«

»Sagen Sie nur, im Wagen hat man das Handy vom Peter Schätzle gefunden …«

Der Beamte räusperte sich, Charly saß nun nur noch schweigend da. Er hatte seinen Auftritt bereits gehabt.

»Nein, aber es wurde auch das Äußere des Wagens untersucht. Und unter dem Kotflügel fand sich ein dort mit Klebeband befestigtes Mobiltelefon …«

»Gut gemacht, Leute«, lobte Winterhalter, als er das in eine Plastikfolie eingepackte Handy überreicht bekam. »Das wird ja wohl zweifelsohne das von Peter Schätzle sein. Oder, Herr Schmider?«

»Wenn ich sage, dass ich nicht weiß, wie das da hingekommen ist, glaubt ihr mir ja eh nicht«, sagte der. Nach Lachen war ihm offenbar nun nicht mehr zu Mute.

»Ihres ist’s auf jeden Fall nicht, oder?«

»Nein«, sagte Schmider.

Winterhalter nickte. »Es ist ausgeschaltet – oder der Akku leer. Sobald wir Armin Schätzle gefunden haben, soll der uns die Codenummer sagen, damit wir das wieder anbekommen.«