Kommissarin Kaltenbach tastete sich ganz behutsam vor. Die Befragung von Rüdiger Hellmanns Schwester bei ihr zu Hause bedurfte viel Fingerspitzengefühls. Deshalb hatte sie dem Kollegen Kiefer gleich vor Beginn der Befragung empfohlen, er solle sich etwas zurückhalten und nach Möglichkeit gar nichts sagen. Der hatte Marie nur gedankenverloren angeblickt und dann ein wenig steif genickt.
Die Kommissarin war fast froh, dass Winterhalter, der aus ihrer Sicht in Zeugenbefragungen etwas grobklotzig daherkam, nicht anwesend war. Der Kollege war gerade unterwegs in Richtung Triberg, um dort noch einmal den Rechtsanwalt und Trachtenexperten Dr. Friedhelm Kaiser zu vernehmen. Den hatten sie zwar alibitechnisch bereits überprüft, doch ein Anruf seiner Sekretärin hatte hier die Kripo erneut auf den Plan gerufen.
Ein weiteres Argument dafür, dass Marie nun primär die Befragung leitete, war die Tatsache, dass sie als Einzige aus dem Ermittlungsteam den verstorbenen Rüdiger Hellmann persönlich gekannt hatte. Als sie das der Schwester sagte, war das Eis gebrochen und deren Misstrauen geschwunden.
Sie hätten sich vermutlich damals, zu Zeiten der Clique, mal gesehen, fügte Marie hinzu, auch wenn sie sich nur vage an die Geschwister von Rüdiger erinnern konnte.
Ihre einfühlsame Befragungsmethode schien sich jedenfalls bei der Schwester bezahlt zu machen. Kiefer sagte gar nichts, Marie immer weniger und die Schwester immer mehr, weil die offenbar das Gefühl hatte, dass man ihr empathisch zuhörte.
Sie berichtete in allen Details vom Selbstmord ihres Bruders Rüdiger, tat dies tränenreich. Umso mehr, da sie ledig war und eigentlich nur ihre beiden Geschwister gehabt hatte, wie sie gerade erläuterte. Sie war die Älteste der drei und hatte sich immer etwas verantwortlich für Rüdiger gefühlt.
»Rüdi war nicht der Typ, der sich umgebracht hätte.« Renate Hellmann tupfte sich mit einem Taschentuch an der Nase herum. »Das passte überhaupt nicht zu ihm.«
»Soll das heißen, dass Sie den Selbstmord anzweifeln?« Marie warf kurz einen Blick aus dem Fenster auf den sonnenüberfluteten Schwenninger Muslenplatz.
»Die Untersuchungsergebnisse der Gerichtsmedizin waren eindeutig. Tod durch Ertrinken. Keine Fremdeinwirkung.«
»Das mag sein. Aber ich bin davon überzeugt – er ist in den Selbstmord getrieben worden.«
»Von wem?«
»Charly Schmider. Ein alter Freund von Rüdi. Kannten Sie den auch?«
»Flüchtig«, sagte Marie mal vorsichtshalber.
»Ein Schwein! Er hat meinen Bruder in schamloser Weise betrogen. Natürlich spielten auch noch andere Gründe eine Rolle: Rüdis Ehe war in die Brüche gegangen, er begann zu trinken.«
Kiefer stenografierte fleißig mit.
»Schamloser Betrug?«
»Die größte noch zusammenhängende Bildersammlung aus der Gutacher Künstlerkolonie. Rüdi hat die Gemälde im Laufe seines Lebens gesammelt, hat sie wie seinen Augapfel gehütet. Es war das Kernstück seiner Kunstsammlung, die durchaus wertvoll war. Er war so stolz darauf.«
»Und dann?« Marie fasste ganz sparsam nach.
»Dann kam Charly Schmider. Er meinte, er würde eine Ausstellung über die Gutacher Künstlerkolonie organisieren. Er hatte sogar schon einen Titel: ›Wie der Bollenhut eine Berühmtheit wurde‹. Rüdi hatte keinen Grund, das anzuzweifeln. Er hat Charly vertraut und ihm die Bilder überlassen. Doch dann kam alles ganz anders.«
Renate Hellmann schnäuzte sich und lief zum Fenster, von wo aus man auch einen Blick auf das Schwenninger Rathaus und die Stadtkirche hatte. In der Ferne am Horizont thronte stolz der Dreifaltigkeitsberg.
»Gutacher Künstlerkolonie?« Nun mischte sich Kiefer doch kurz ein.
»Berühmte Gemälde von Wilhelm Hasemann, Curt Liebich und Fritz Reiss. Die Künstler haben sich Ende des 19.Jahrhunderts in Gutach niedergelassen, haben die Tracht mit dem Bollenhut als künstlerisches Sujet entdeckt und damit auch weithin berühmt gemacht.«
Renate Hellmann holte nun Fotoalben aus dem Wohnzimmerschrank, zeigte auf einige Fotos, auf denen die Gemälde abgebildet waren. Auf mehreren posierte ein großer, hagerer Mann, der stolz auf die Werke blickte.
»Mein Bruder.« Renate Hellmann wischte sich über die Augen.
Marie erkannte Rüdi wieder. Auch er hatte sich im Laufe der Jahre verändert, aber weniger als die anderen aus ihrer ehemaligen Clique.
»Wie ich Ihnen eingangs schon sagte, sind in den letzten Tagen auch Peter und Armin Schätzle verstorben. Peter war ebenfalls ein Freund von Rüdiger. Vielleicht erinnern Sie sich noch an ihn? Beide sind jeweils Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.«
»Ja, ich erinnere mich dunkel an Peter. Aber was hat das mit dem Selbstmord meines Bruders zu tun?«
»Im Falle von Armin Schätzle gibt es gewisse Parallelen zum Tod Ihres Bruders. Auch er wurde ertrunken im Schluchsee gefunden. Auch bei ihm gab es eine Abschiedsbotschaft. Diese hatte den exakt gleichen Wortlaut wie bei Ihrem Bruder. Doch im Gegensatz zu diesem wurde Armin Schätzle definitiv gewaltsam ertränkt. Das ist mittlerweile gesichert. Können Sie sich einen Zusammenhang erklären? Könnten vielleicht auch Peter und Armin Schätzle etwas mit dem Tod Ihres Bruder zu tun gehabt haben?«
Renate Hellmann schüttelte heftig den Kopf, sagte dann: »Nein. Charly Schmider hat meinen Bruder in den Tod getrieben. Er hat ihm gesagt, die Bilder der Gutacher Künstlerkolonie seien bei ihm gut verwahrt. Und er würde sie nach der Ausstellung zurückbekommen. Doch irgendwann wurde Rüdiger klar, dass Schmider den Gemäldeschatz unter der Hand an irgendeine Kunstmafia versetzt haben musste. Er brauchte wohl dringend Geld. Denn die geplante Ausstellung gab es nicht, und die Bilder waren plötzlich spurlos verschwunden. Schmider hat meinen Bruder immer wieder vertröstet. Er hat gesagt, er habe die Bilder nur vorübergehend als Sicherheitsleistung bei der Bank hinterlegen müssen.«
»Hat Ihr Bruder Charly Schmider denn nicht angezeigt?«
»Das hat er natürlich erwogen, aber Schmider hatte irgendetwas gegen ihn in der Hand. Irgendein Verkauf, den er nicht ordnungsgemäß versteuert hatte. Nichts Wildes – wie das eben im Kunsthandel mitunter so vorkommt. Aber es hat gereicht, um Rüdi ruhigzustellen – und ihn in die Verzweiflung zu treiben. Er war ja eigentlich Restaurator – und eben kein typischer Geschäftsmann. Vor allem auch zu wenig skrupellos. Bis zum Schluss hat er gehofft, dass er die Kunstwerke wiederbekommt. Abgesehen davon gab es natürlich keinen Beweis, dass dieser angebliche Freund Charly die Bilder auch wirklich hatte.«
»Und Ihr Bruder war so gutgläubig und hat Schmider die Bilder ohne Quittung überlassen?«
»Er war sein Freund, früher sogar sein bester Freund. Würde man von dem so etwas erwarten? Er hat ihm vertraut und ihm die Bilder so ausgehändigt. Das war natürlich ein schrecklicher Fehler.«
Erinnerungen kamen in Marie hoch. An die gemeinsame Zeit und nun auch daran, dass Rüdiger und Charly früher tatsächlich unzertrennlich erschienen waren.
»Und die verlorenen Bilder haben Ihrem Bruder so großen Kummer bereitet, dass er sich umgebracht hat?«
»Es hat dazu beigetragen. Mein Bruder wurde von seiner Frau verlassen, hatte dann auch noch Geldprobleme, die natürlich durch die unterschlagenen Gemälde nicht weniger wurden. Die Geschichte mit den Bildern hat ihm dann den Rest gegeben.«
Die Schwester des Verstorbenen blätterte gedankenverloren weiter im Album.
»Stopp!«, rief nun Kiefer, worauf die Zeugin ihn verdutzt anschaute.
Marie verstand, worauf er hinauswollte, und fragte: »Auf diesem Bild hier hat Rüdi ein Amulett um. Wissen Sie mehr über dieses Schmuckstück?«
Renate Hellmann lächelte versonnen: »Das Amulett der Wartenberger, ja. Das war eine Zeitlang ein Tick von ihm. Immer lief er mit diesem Amulett durch die Gegend. Es gehöre zu einem Schatz, hat er mal gesagt – und irgendein tolles Geschäft gewittert. Wie so oft.«
Sie klappte das Album zu: »Wissen Sie, Rüdi war nicht sehr geschäftstüchtig. Je weniger geschäftstüchtig man ist, umso mehr tut man manchmal so, als wäre man es. Er berichtete immer von irgendwelchen Dingen, denen er angeblich auf der Spur war. Schwärmte davon, wie er mit Katharina – seiner Frau – ein Hausboot kaufen würde, wenn er das Geld erstmal hatte.«
Die Tränen liefen wieder. »Es hat nicht geklappt: weder mit einem großen Geschäft noch mit dem Hausboot. Und auch nicht mit Katharina. Vor etwa einem Jahr ist sie ausgezogen.«
»Wo lebt sie jetzt?«, fragte Marie behutsam weiter.
»Irgendwo am Bodensee. Bei einem Zahnarzt – der wahrscheinlich ein solches Hausboot hat.«
»Und was wurde aus dem Amulett?«, fragte nun Kiefer nach, woraufhin Marie ihn tadelnd anschaute.
»Keine Ahnung«, sagte Renate. »Im Nachlass war es meines Wissens nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass es wirklich einen solchen Wert hatte. Rüdi verrannte sich manchmal in solche Dinge …«
Sie öffnete das Album wieder – diesmal von hinten. Auf den letzten Seiten war das üppig geschmückte Grab von Rüdiger Hellmann zu sehen, daneben eine Todesanzeige und ein Porträtfoto ihres Bruders.
Mit den Fingerkuppen strich sie zärtlich darüber.
»Dürfte ich vielleicht ein Foto von der Todesanzeige machen?«
Diesmal tastete sich Marie nicht behutsam vor, sondern kam direkt zur Sache.
»Ein Foto von der Todesanzeige? Warum das?«
»Als Erinnerung an Rüdi …«
Renate Hellmann willigte ein, und Marie knipste die Anzeige zweimal mit ihrem Handy …
»Wann haben Sie Rüdi zum letzten Mal gesehen?«, fragte die Schwester Marie, als sie sich verabschiedeten.
»Leider ist das schon fast fünfzehn Jahre her.« Marie kam es vor, als müsse sie sich dafür rechtfertigen, ihrem alten Kumpel in der Zeit vor seinem Tod nicht beigestanden zu haben. »Ich bin nach Berlin gegangen und erst seit wenigen Wochen wieder hier.«
Renate Hellmann nickte. »Schade«, sagte sie dann – und Marie wusste nicht, ob sie das auf ihre Abwesenheit bezog oder generell darauf, was passiert war.
»Sie haben mich nicht gefragt, ob ich weiß, was Charly Schmider jetzt macht«, bemerkte Renate plötzlich.
»Das liegt daran, dass wir wissen, was er jetzt tut.«
Renate Hellmann kniff die Augen zusammen: »Und was tut er?«
»Er sitzt im Gefängnis«, meldete sich Kiefer zu Wort.
Die Schwester schaute ihn an: »Hoffentlich für sehr lange.«
»Es spricht viel dafür«, erwiderte Kiefer – und Renate Hellmann schien zu überlegen, ob sie nachfragen sollte. Schließlich tat sie es: »Ist Charly Schmider der Mörder dieser beiden Schätzles?«
»So wie es aussieht, zumindest des einen«, sagte Kiefer wieder etwas vorlaut.
Renate Hellmann kommentierte das nicht mehr.
Sie schloss nun einfach die Haustür, und die beiden Beamten liefen über den Muslenplatz zurück zu ihrem Auto.