Die Hierarchie zwischen Kiefer und Marie war eher unklar, doch der Kommissar aus dem Elsass schien trotz seines etwas steifen Auftretens keiner zu sein, der auf Hierarchien pochte. Was ihn Marie nur umso sympathischer machte.
Sie legten den Rückweg ins Kommissariat in einvernehmlichem Schweigen zurück. Und als Marie den Kollegen schließlich bat, noch einmal bei der JVA Freiburg nachzuforschen, ob bei der Durchsuchung von Charlys Zelle ein Amulett sichergestellt worden sei, tat er das. Ohne Wenn und Aber.
»Aha«, sagte Kiefer, nachdem er telefonisch einem der JVA-Mitarbeiter sein Anliegen geschildert hatte. »Tja.« Und dann noch: »Na ja.« Und sogar einmal: »Oh la la.«
Marie wurde allmählich unruhig. Außerdem beschäftigte sie der Besuch bei Rüdis Schwester. Mehr noch: die Bilder, die sie gesehen hatte. Denn die ließen diverse Erinnerungen in ihr aufsteigen.
Gleichzeitig war ihr bewusst, dass nichts mehr wie früher war. Gleich mehrere aus der Clique waren tot.
»Hatte Herr Schmider denn zu einem Gefangenen besonderen Kontakt?«, fragte derweil Kiefer weiter, während Marie die Schwenninger Steige herunter nach Villingen nahm. »Eine Vertrauensperson, gewissermaßen. Vielleicht sogar eine, die derzeit auf freiem Fuß ist – oder das in den letzten Tagen war, als Armin Schätzle ermordet wurde? Dafür fehlt uns nämlich noch ein Täter.«
Sie fuhren nun am Villinger Friedhof vorbei. Marie nahm sich vor, diesen bald einmal zu besuchen – und vor allem drei Gräber.
»Ja, das ist schade«, sprach Kiefer derweil in sein Handy. »Ich würde mich gegebenenfalls in den nächsten Tagen noch einmal bei Ihnen melden.«
Marie registrierte seine Worte nur am Rande, sie war in Gedanken. Irgendwann fiel ihr auf, dass sie einen Umweg gefahren war – so ganz war sie mit der Stadt doch nicht vertraut. Auch hier hatte sich in den letzten Jahren durchaus einiges verändert.
Kiefer war entweder zu sehr mit seinem Telefonat beschäftigt gewesen oder hatte sich nicht als Besserwisser profilieren wollen. Jedenfalls hatte er sie nicht auf ihren Fehler hingewiesen. »Jetzt rechts, bitte«, sagte er nun lediglich vorsichtig.
Marie passierte den Villinger Bahnhof, während Kiefer Bericht erstattete. »Die Zelle von Schmider haben sie ja durchsucht – kein Amulett. Zur Tatzeit des Mords an Armin Schätzle war er definitiv im Gefängnis. Ich habe noch überlegt, ob er vielleicht jemanden aus dem Knast angestiftet haben könnte, der schon wieder auf freiem Fuß ist. Aber meinem Gesprächspartner in der JVA war niemand bekannt, mit dem er besonderen Umgang gepflegt hätte. Vielleicht war es dennoch ein Auftragsmord – und es ist ihm irgendwie gelungen, einen Täter außerhalb des Gefängnisses zu rekrutieren.«
»Vielleicht«, murmelte Marie.
Als sie an der roten Ampel halten mussten, wo das mächtige Bickentor emporragte, griff Marie nach ihrem eigenen Handy – aber nicht, um zu telefonieren, sondern um sich noch einmal die Todesanzeige anzuschauen, die sie fotografiert hatte.
Das tat sie, bis das hinter ihr stehende Fahrzeug hupte.
Zerstreut gab sie Gas. Sie würde die Namen der Trauernden, die die Anzeige unterzeichnet hatten, noch einmal genauer durchgehen.
Wenige Sekunden später verriss Marie plötzlich das Steuer und hätte um ein Haar ein am Straßenrand stehendes Auto gerammt.
Nicht noch ein Unfall!
Sie fuhr vorsichtig an den Rand und nahm sich erneut ihr Handy vor.
Da war er, der Hinweis, den sie zunächst nur im Hinterkopf gehabt hatte!
»Vielleicht sollte ich … weiterfahren?«, schlug Kiefer zögernd vor, obwohl es nur noch wenige hundert Meter zum Kommissariat waren.
Doch Marie schüttelte nur stumm den Kopf.